Die Livestreaming-Plattform Twitch hat neue Community-Richtlinien, die Anfang dieser Woche in Kraft getreten sind – und die greifen tiefer in die Freiheiten der Streamer ein als jemals zuvor: Die Live-Spieler müssen sich in Zukunft an eine Kleiderordnung halten und sich auch dann ordentlich benehmen, wenn sie gar nicht auf der Streaming-Plattform aktiv sind. Unter allen großen sozialen Netzwerken ist ein so strenger Verhaltenskodex bislang ungesehen. Twitch begründet das Regelwerk mit einer neuen Firmen-Philosophie, die die Plattform nun aggressiver denn je in den Mittelpunkt rückt: Alle Streamer erfüllten eine Vorbildfunktion, vor allem für ihr minderjähriges Publikum – und dessen müssten sie sich immer bewusst sein.
Niemand weiß, ob man noch Pyjamas tragen darf
Mit den neuen Richtlinien will die Livestreaming-Plattform die allgemeine Stimmung in den Chats verbessern, hasserfülltes Verhalten stärker moderieren und eine Umgebung frei von toxischer Stimmung und Belästigungen schaffen, die auch für Jugendliche geeignet ist. So umgingen einige Streamer bisher beispielsweise das Verbot, sich während der Spiele-Sessions allzu aufreizend zu kleiden, in dem sie auf den sogenannten “In Real Life”-Kanal ausweichen. Eigentlich ist dieser Kanal dazu gedacht, sich in den Spielpausen direkt mit den Zuschauern zu unterhalten – hier schien Twitch in der Vergangenheit nur sehr nachlässig auf die Kleidung der Streamer zu achten.
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Das große Problem dieser neuen Vorgaben sind allerdings weniger die Inhalte, sondern vielmehr die unklaren Formulierungen der Regeln. So heißt es beispielsweise in Bezug auf die Kleidung, die Streamer noch tragen dürfen und sollen: “Wir empfehlen unseren Creators, Kleidung zu tragen, die in der Öffentlichkeit für den jeweiligen Kontext, Standort und die entsprechenden Handlungen angemessen ist. Beispiele: Sportkleidung wäre für einen Fitness-Stream angemessen, Badebekleidung für einen Stream an einem öffentlichen Strand.” Die englischen Regeln zu Nacktheit werden noch spezifischer: Wer eine Kochshow streamt, hat mit Sportklamotten unter Umständen keine angemessene Kleidung gewählt, heißt es da. Wer gegen die Regeln verstößt, riskiert eine vorübergehende oder dauerhafte Sperre seines Accounts.
Die Fragezeichen in dieser Formulierung sind offensichtlich: Dürfen Streamer also nicht mehr in Schlafanzügen oder Pyjamas spielen, weil diese Kleidungsstücke ja auch immerhin nicht in der Öffentlichkeit getragen werden? Wird ein Call of Duty-Streamer im Real Madrid-Trikot von Twitch gekickt? Und wie verständigt man sich auf eine allgemeine Definition von “angemessen”, auf die sich die Plattform, aber auch die Streamer einigen können?
Es ist bereits die zweite Textfassung eines Regelwerks, das ursprünglich bereits Anfang Februar 2018 vorübergehend in Kraft gesetzt wurde. Damals beschwerten sich Streamer über die unklaren Formulierungen, die Twitch schließen noch einmal zur Überarbeitung der Richtlinien zwangen. Der Account einer Streamerin wurde beispielsweise kurz nach der ersten Veröffentlichung der neuen Regeln permanent gesperrt — weil sie ein für den Stream nicht angemessenes Outfit getragen haben soll, das aber ganz normaler Bestandteil ihrer Alltagsgarderobe ist.
“Ich habe dieses Outfit schon oft in der Öffentlichkeit getragen”, wundert sich die Overwatch-Streamerin AngelFace DGAF auf Twitter nach ihrer Sperrung und zeigt dazu ein Foto von sich in Jeans-Hotpants und Top. “Sagt mir mal bitte jemand, welches Einkaufszentrum das nicht akzeptieren würde?”
Auch in der deutschsprachigen Streaming-Szene werden die überarbeiteten Community-Richtlinien stark diskutiert. Zwar scheint hier das Verständnis für ein besser formuliertes Regelwerk die Skepsis zu überwiegen, aber trotzdem befürchten einige Nutzer zumindest kurzfristig Probleme. Dazu erklärt die Streamerin JustBecci gegenüber Motherboard: “Einige, unter anderem auch ich selbst, sind noch skeptisch, ob die angepassten Regeln nicht erst mal zu einer Report-Welle führen werden und darunter auch ‘unschuldige’ Streamer leiden, weil Leute die Vorgaben falsch interpretieren oder aus emotionalen Gründen Leute melden.” Allerdings hofft sie, dass Twitch mit den neuen Community-Richtlinien auch entsprechende Kontrollinstrumente installiert hat, um diese Fehlentscheidungen zu vermeiden.
Viele Streamer übernehmen die neue Verantwortung nur sehr ungern
Neben der Frage, ob man nun ein Kriegsspiel in Flecktarn-Uniform streamen muss sorgt allerdings auch das ins Zentrum gerückte Schlagwort der “Vorbildfunktion” in Streamer-Kreisen für Unmut. So verlangt Twitch, dass Streamer in Zukunft weitaus mehr Verantwortung für ihre Community und ihr Verhalten zu übernehmen. In den aktualisierten Richtlinien heißt es dazu: “Wir bitten Streamer, ihren Chat nach Treu und Glauben zu moderieren (…). Solange du Inhalte oder Verhaltensweisen, die gegen die Community-Richtlinien verstoßen, nicht wissentlich ignorierst, kannst du davon ausgehen, dass das keine Strafmaßnahmen gegen deinen Kanal nach sich zieht.”
Diese Regelung ist vor allem für Streamer ein Problem, die ihre Internet-Persona um besonders ausfälliges, aggressives oder sonstwie auffälliges Verhalten herum aufgebaut haben. Für ihre Wutanfälle bekannte Spieler wie Forsen oder Tyler1 beschwerten sich bereits live über die Änderungen und den drohenden Strafen, denen sie hilflos gegenüber stünden:
Andere Streamer, darunter auch JustBecci, haben aber durchaus Verständnis für den neuen Schwerpunkt der Richtlinien, wie sie gegenüber Motherboard erklärt: “Gerade bei so einer öffentlichen Plattform wie Twitch sollte sich jeder Creator darüber im Klaren sein, dass er für sein wenn auch noch so kleines Publikum eine Vorbildrolle einnimmt. Da gehören Grundregeln von Benimm und Anstand einfach dazu.”
Twitch will das Verhalten der Streamer auch außerhalb der Plattform kontrollieren
Neben der gewachsenen Verantwortung für das Verhalten des eigenen Chats kündigt Twitch in den neuen Richtlinien aber auch an, die Social-Media-Aktivitäten der Streamer im Blick zu behalten. Als Grund für diese Maßnahme nennt Twitch die Verantwortung der Streamer, die auch abseits ihrer Livestreaming-Zeiten auf Facebook, Twitter & Co. als Mitglied der Twitch-Community wahrgenommen werden würden. Deswegen behalte es sich Twitch vor, Meldungen über Fehlverhalten auch außerhalb der Streaming-Plattform nachzugehen.
Die Skepsis angesichts der neuen Community-Richtlinien ist groß — und selbst die hoffnungsvollsten Streamer dürften wohl erst in den kommenden Tagen und Wochen absehen können, ob die Änderungen wirklich den vielfach befürchten Einschnitt in die Welt von Twitch herbeiführen werden.