Überraschende Wendung im Suizid-wegen-SMS-Prozess: Medikamente sollen schuld sein

Michelle C. habe ihrem damaligen Freund nur helfen wollen, als sie den 17-jährigen Conrad R. per SMS dazu ermutigt haben soll, Suizid zu begehen. Sie sei in Wahrheit eine “Helferin”. Das hat zumindest ein Experte am Montag vor Gericht ausgesagt. “Sie hilft anderen Menschen gerne weiter”, meinte der Psychiater Peter Breggin vor einem voll besetzten Gerichtssaal im Ton eines etwas senilen Großvaters.

Die inzwischen 20-jährige C. saß neben ihrer Verteidigung und wirkte zerbrechlich, während die Staatsanwaltschaft alte Klassen- und Softball-Kameradinnen in den Zeugenstand rief und versuchte, C.s eigene Textnachrichten gegen sie zu verwenden.

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Die jungen Frauen wollte C. einst unbedingt als Freundinnen gewinnen. Sie aber sagen aus, dass sie die Angeklagte nicht wirklich kannten, als ihnen C. im Juli 2014 erzählte, dass sich ihr Freund suizidiert und sie seine letzten Atemzüge am Telefon gehört habe.

Jetzt hoffen C.s Anwälte, dass die Aussage des Psychiaters die 20-Jährige davor bewahrt, so viele Jahre hinter Gittern zu verbringen, wie sie schon auf der Welt ist.


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Der Prozess sorgt deswegen für so viel Aufregung, weil die Beweislage fast komplett auf den Smartphone-Interaktionen der Teenager basiert. Und trotzdem soll er in die vor 200 Jahren geschaffenen Gesetze der USA passen. Die Staatsanwaltschaft musste sich auch schon vor dem Obersten Gerichtshof von Massachusetts verantworten – die Verteidiger hatten (erfolglos) argumentiert, dass es gegen den ersten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten verstieße, C. nur aufgrund ihrer Textnachrichten und Worte am Telefon anzuklagen.

Aber auch die erschreckenden Inhalte der Nachrichten, die C. an ihren Freund schrieb, sorgen für hohes Interesse an dem Fall: “Bist du dir sicher, dass du dich heute nicht umbringen willst?”, fragte C. in einer von vielen ähnlichen Nachrichten an R. “GENAU DAS MEINE ICH. DU SCHIEBST ES IMMER WIEDER AUF!”, antwortete sie, als er noch einen Tag abwarten wollte.

“Wie jeder Mensch in hypomanischem Zustand wird sie sehr wütend, wenn es nicht nach ihrem Willen geht”, sagte Breggin im Zeugenstand. C. habe eine schwächere Version einer Manie durchlaufen und daher so gereizt reagierte, als R. ihrer Aufforderung nicht Folge leistete.

Breggin behauptete außerdem, dass C. unbewusst unter dem Einfluss von Antidepressiva gestanden habe, als sie R. zum Suizid aufforderte. Sie nahm die Medikamente wegen einer Essstörung. Unbewusst deshalb, weil C. sich der Auswirkungen nicht bewusst gewesen sei, die das Mittel auf sie hatte.

“Man kann ihr hier keinen Vorsatz vorwerfen, weil sie größenwahnsinnig agierte.”

Breggin zitierte einen Packungshinweis des Medikaments Celexa: Das Mittel kann bei Unter-24-Jährigen zu einem erhöhten Suizidrisiko führen und Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Feindseligkeit sowie andere gefährliche Nebenwirkungen zur Folge haben.

Laut Breggin traten diese Nebenwirkungen bei C. auf. Deswegen sei sie sich auch sicher gewesen, dass sie R. helfen würde, wenn sie ihn zum Suizid überredet. Er litt seit Jahren an Angstzuständen und Depressionen und wollte sich schon einmal umbringen. Der Psychiater fügte hinzu, dass C. hoffte, nach dem Tod ihres Freundes dessen Familie trösten zu können.

“Man kann ihr hier keinen Vorsatz vorwerfen, weil sie größenwahnsinnig agierte”, sagte Breggin. Er merkte auch an, dass C. zuerst wohl noch Hilfe holen wollte. Außerdem habe sie zwei Monate nach R.s Tod wohl eine Spendenaktion in seinem Namen organisieren wollen.

Der Psychiater hatte für den Prozess Facebook- und SMS-Nachrichten zwischen C. und R. aus mehreren Jahren analysiert. Breggin kam zu dem Schluss, dass beide Jugendliche Visionen vom Teufel gehabt hatten – C. in ihren Träumen und R. während einer stationären Behandlung. R. war es auch, der C. einredete, dass die beiden “durch den Teufel füreinander bestimmt” seien. So berichtete es Breggin gegenüber dem Richter.

Unterm Strich sagte Breggin, dass C. jung, verliebt und von Medikamenten beeinflusst war: “Sie folgte R. an einen sehr dunklen Ort.”

Diese Nachrichten erzählen die Geschichte einer jungen Frau, die verzweifelt Freunde suchte – leider erfolglos.

Da sich C. gegen ein Verfahren mit Geschworenen entschied, liegt ihr Schicksal nun komplett in den Händen eines Richters. So fallen viele emotionale Zeugenaussagen und Argumente voraussichtlich nicht ganz so ins Gewicht, wie das vor einer Jury der Fall gewesen wäre. Richter Lawrence Moniz hat außerdem schon mehrmals gesagt, dass er keine Zeugen brauche, die Nachrichten vorlesen. Die könne er sich auch selbst anschauen.

Viele Journalisten und andere Interessierte arbeiten sich nun durch C.s SMS und Facebook-Nachrichten, die in den Gerichtsakten einsehbar sind. Diese Nachrichten erzählen die Geschichte einer jungen Frau, die verzweifelt Freunde suchte – leider erfolglos. Als ihre Klassenkameradinnen nichts mit ihr unternehmen wollten, schickte C. ohne Unterlass dringend wirkende Nachrichten bezüglich ihrer Essstörung und ihres Ritzproblems. Sie verriet den Mädchen, mit denen sie sich anfreunden wollte, dass sie sich ihrer sexuellen Orientierung nicht sicher sei und dass eine romantische Beziehung mit einer Softball-Teamkameradin zum Bruch mit ihrer ehemals besten Freundin führte. Als sie selbst aus dem Team austrat, fühlte sie sich laut eigener Aussage einsam und wurde depressiv.

Aufgrund der Flut an düsteren Nachrichten wandten sich viele etwaige Freundinnen von C. ab. Nach R.s Tod kamen einige von ihnen jedoch wieder auf C. zu und wollten sich nach über einem Jahr wieder mit ihr treffen.

“Man muss immer sicherstellen, dass sich die Aussagen von Experten mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen decken.”

Die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass das Ritzen nur eine Lüge gewesen sei, um sich die Aufmerksamkeit ihres Umfelds zu sichern. In manchen Momenten scheint es so, als habe die Staatsanwaltschaft einen solchen Hass auf C., dass sie die Angeklagte am liebsten direkt ins Gefängnis stecken würde.

Dabei könnten Breggins Aussagen C. tatsächlich entlasten. Die Nebenwirkungen von Antidepressiva haben schon andere mutmaßliche Mörder vor einer Verurteilung bewahrt. Allerdings sollte man den Experten-Aussagen nicht blind glauben. Breggin hatte nämlich auch schon behauptet, dass “Verrücktheit” das Resultat von “Feigheit” und “versagenden Nerven” sei. Und obwohl er seine Beziehungen zu Scientology vehement abstreitet (seine Frau ist laut ihm auch kein Mitglied mehr), stärkte er damals Tom Cruise den Rücken, als der sich über Depressionen ausließ.

In anderen Worten: Man kann Breggin ohne Probleme in eine extreme Schublade stecken, um es mal milde auszudrücken. Außerdem ist er nicht sehr gründlich. Im Kreuzverhör gab der Psychiater zu, nicht von einem anderen Medikament zu wissen, das C. mutmaßlich genommen hat, als sie mit R. textete. Des Weiteren gab er an, weder mit C. noch ihren Ärzten und Psychologen gesprochen oder den Kontakt zu ihnen gesucht zu haben.

Peter D. Kramer ist ein bekannter Kritiker unnötig verschriebener Medikamente und Autor des Buches Listening to Prozac. Er sagte gegenüber VICE: “Man muss immer sicherstellen, dass sich die Aussagen von Experten mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen decken.”

Zwar könnten Menschen mit einer bipolaren Störung durch Antidepressiva in einen manischen Zustand verfallen, aber gefährliche Nebenwirkungen wie Gewalttätigkeit oder Selbstverletzungen kämen nur selten vor. Aber – das räumt auch Kramer ein – bei jungen Menschen besteht durchaus ein höheres Risiko dazu.

Diese Medikamente verhindern deutlich mehr Suizide, als sie verursachen, so Kramer. Was das für Michelle C. bedeutet, wird sich in wenigen Tagen zeigen.

Notrufnummern bieten Hilfe für Personen, die an Suizid denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat.

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