Foto: Dr. Motte | Flickr | CC BY 2.0
Es war die Nacht am 13. Juni 2014, als ganz Deutschland auf die Straßen ging und sich in die Arme fiel. Die ewigen Rückblenden von Andi Brehmes Elfmeter und seine Erklärungen, weshalb er den Elfer schoss und nicht der etatmäßige Schütze und gelernte Teppichleger Lothar Matthäus, haben endlich ein Ende. Die Nacht, in der neue Helden geboren wurden, liegt mittlerweile über drei Monate zurück, und ich bin dankbar, dass die WM vorbei ist.
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Allein deshalb, weil ich nicht anders kann, als bei den Fußballgroßveranstaltungen wie eben WM oder EM ausnahmslos jedes Spiel zu schauen. Es ist zwanghaft. Wenn mir doch ein Spiel entgeht, sind die Qualen und das Fluchen groß—ich leide gewissermaßen an Fußballtourette. Um aber alle Spiele zu sehen, muss man Opfer bringen: Freunde, Familie, Beruf. Glücklicherweise findet die Belastungsprobe für mein soziales Umfeld nur alle zwei Jahre statt. Dieses Mal hat es bis zum 8.Spieltag gedauert, bis ich alle von mir vernachlässigten Personen zu besänftigen schaffte, sodass ich wieder einen halben Tag am Wochenende ohne Probleme gut entbehren kann. Als Verehrer dieser Sportart und generell ein Freund der Ästhetik behalte ich nur allzu gern einen Teil meines Wochenendes der Bundesliga bereit, weil—wie ich finde—hier in der Summe der schönste Ligafußball gespielt wird.
Dieser 8. Spieltag hielt vor allem drei Partien bereit, auf die ich mich besonders freute und—was sich später erst herausstellen sollte—ein unglaubliches Interview von Hakan Calhanoglu im ZFD-Sportstudio. Aber das Sportliche zuerst:
1. Bayern gegen Bremen
Diese Partie war in der Vergangenheit immer das Topspiel des Tages. Laut der ewigen Bundesliga-Tabelle spielten hier der Erste gegen den Zweiten. Aber in dieser Saison sieht das ein wenig anders aus: Es trafen der Erste gegen den Tabellenletzten aufeinander, mehr noch: Bayern verpasste Bremen in den letzten drei Spielen 18 Gegentore, wobei alleine beim letzten Duell Bremen seine höchste Heimniederlage aller Zeiten kassierte (0:7). Und ausgerechnet jetzt, als die Bremer zum Bundesliga-Bodensatz mutierten, kamen die Münchner mit ihrem Starensemble.
Ich war für Bremen. Bayern wird eh Meister, außerdem, wer liebt denn nicht ein Fußballwunder? Das wollte ich sehen, wurde stattdessen aber Zeuge eines Kriminalverbrechens: Bayern massakrierte Bremen mit 6:0—und das im Schongang, angesichts der bevorstehenden Champions-League-Partie gegen AS Rom am Dienstag. Wie sehr sich Bremen abschlachten ließ, zeigen zwei Statistiken: Seit Beginn der Datenerfassung 1992/93 hat es noch keine Mannschaft vollbracht, ein komplettes Spiel lang nicht auf das Tor ihres Gegners zu schießen—Bremen an diesem Tag schon. Allein Bayerns neuer Mittelfeldstratege, Xabi Alonso, hatte in den ersten 5 Minuten mehr Ballkontakte als die gesamte Bremer Mannschaft. Als er schließlich in der 61. Minute ausgewechselt wurde, kam er auf 124 Ballkontakte, nur zum Vergleich: Felix Kroos, sein Pendant auf Werders Seite, hatte 16.
Bremen, wir zünden eine Kerze für dich an und hoffen auf das Beste: Klassenerhalt.
2. Köln gegen Dortmund
Die Kölner sind wieder im Ligaoberhaus, dort, wo sie meiner Meinung nach auch hingehören; und sowohl sie als auch die Dortmunder hatten einen Sieg bitter nötig. Vor dieser Begegnung hat Köln in dieser Saison noch nicht mal ein einziges Tor zu Hause schießen können, und Dortmund hat keines der vier letzten Spielen gewonnen—drei davon sogar verloren.
Davon mal abgesehen konnte sich ganz Fussballdeutschland über die Rückkehr eines seiner talentiertesten Mittfeldspieler freuen: İlkay ,Günni’ Gündoğan ist durch eine hartnäckige Entzündung der Nervenwurzel eines Lendenwirbels über ein Jahr (434 Tage) ausgefallen. Zudem kehrten bei den verletzungsgeplagten Dortmundern auch noch die Leistungsträger Marco Reus und Mkhitaryan wieder.
Meine ganze Pfandflaschensammlung hätte ich darauf verwetten können, dass die so wiedererstarkten Dortmunder Köln auseinandernehmen würden. Das war Köln aber egal. Sie schossen gleich zwei Heimtore und gewann mit 2:1. Ich bin froh, dass das Wettbüro bei mir um die Ecke Pfandflaschen als Währung nicht anerkennt.
3. Stuttgart gegen Leverkusen
Wer allerdings so richtig zerlegt wurde, war Stuttgart. Bereits in der vierten Minute lagen sie mit 0:1 zurück und in der neunten Minute schnürte Heung-Min Son seinen Doppelpack zum 0:2. Bellarabi machte dann noch vor der Pause ein unglaubliches Tor, vor dem er alleine sieben Stuttgarter düpierte. Leverkusen ließ zudem noch so manche Großchance liegen, sodass die Schwaben sich zur Halbzeit auch über ein 0:6 nicht hätten beschweren dürfen.
Aber mit Stuttgart ist das so eine Sache: Egal wie abgrundtief schlecht sie spielen, in der Mannschaft steckt das Potential, jeden Gegner an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Spätestens seitdem die Welt vor zwei Jahren Zeuge eines der wohl großartigsten Fussballspiele überhaupt wurde (dem 4:4 zwischen Dortmund und Stuttgart, habe ich gelernt, wirklich niemals gegen diese Schwaben zu wetten. Was soll ich noch sagen: Nach der Halbzeit kamen die Stuttgarter wie verwandelt aus der Kabine, knallten den Leverkusener drei Dinger um die Ohren und gewannen fast noch das gesamte Spiel. Endstand 3:3.
Weitere Partien:
Wer sehen wollte, wie ein Ball in Sekundenbruchteilen von 0 auf 110 Km/h beschleunigt und nachdem er den Weg ins Tor findet, die Torkamera vernichtet, der hätte Hannover gegen Gladbach (0:3) schauen müssen.
Wer einen Trainer sehen wollte, der seine Kariere als Spieler nach einem erlittenen Foul beenden musste, weil ihm der Unterschenkel und doppelt das Wadenbein gebrochen wurde, ihm dann das Bein fast amputiert werden musste und er bei einer der neun Operation nahezu gestorben wäre, wer also diesen Trainer sehen wollte, der sechs Sprachen fließend spricht, ein Uni-Diplom in BWL hat, mit Jogi Löw in einer Mannschaft spielte und Bayern München mit dem FC Chelsea vor zwei Jahren im Champions-League-Finale besiegte, und das bei einem Eckenverhältnis von 20 zu 1 gegen sich, wer diesen Trainer und seinen geglückten Einstand sehen wollte, der hätte Schalke gegen Hertha (2:0) schauen müssen.
Wer einen teuer erkauften Sieg sehen wollte, weil sich der junge Leistungsträger und Ausnahmetalent Jonas Hoffmann ohne gegnerische Fremdeinwirkung das Außenband im rechten Knie anriss, der hätte Mainz gegen Augsburg (2:1) schauen müssen.
Wer sehen wollte, wie der schlechteste Nichtabsteiger aller Zeiten in dieser Saison zu neuem Leben erwacht, der hätte HSV gegen Hoffenheim (1:1) schauen müssen.
Wer zum gefühlt hundertsten Mal daran verzweifeln wollte, dass ein kleiner aber tapferer Verein aus dem Breisgau durch eine Schiedsrichterentscheidung um seinen Lohn gebracht wird, der hätte Freiburg gegen Wolfsburg (1:2) schauen sollen, und wer eine weitere Folge eines Fussballmärchens sehen wollte, geschrieben von einem Verein, der als Bundesliga-Neuling in der ersten Liga zauberhaften Fussball spielt, der hätte Paderborn gegen Frankfurt (3:1) schauen müssen.
Neben dem Platz:
Nachdem die sportlichen Leistungen gebührend gewürdigt wurden, wenden wir noch einen kurzen Blick auf das Geschehen Abseits des Spielfeldes. In dieser Woche hat vor allem das Interview von Hakan Calhanoglu im ZDF-Sportstudio für Furore gesorgt. Nur wenige Stunden nach seiner grundsoliden Leistung gegen Stuttgart wurde der Junge ins Abendprogramm von ZDF geladen, wo er eigentlich sein Spiel und das seiner Mannschaft kommentieren sollte. Das dachte ich und das dachte vermutlich auch Calhanoglu selbst, doch die Moderatorin, Katrin Müller-Hohenstein, hatte mehr mit ihm vor. Neben Fragen zu Calhanoglus kuriosem Weggang vom HSV zu Leverkusen wollte sie vor allem wissen, ob er 2013 tatsächlich im Zuge des Länderspiels mit der Türkei gegen die Niederlande auf einem Hotelzimmer mit einer Pistole bedroht worden sei.
Ältere und im Umgang mit den Medien geschulte Profis wären der Fragen vermutlich ausgewichen, nicht aber der rhetorisch unerfahrene Zwanzigjährige. Fast unter Tränen und mit ganz dünner Stimme erzählte Calhanoglu die Geschichte am besagten Abend. Es war ein Hotelzimmer, darin er mit seinem Kumpel Ömer Toprak und dessen Bekannten, als es plötzlich an der Tür klopfte. Es war der frühere HSV-Profi Gökhan Töre und noch ein weiterer ,Mann’. Es ging um eine Frau, Calhanoglu hatte eigentlich mit der Angelegenheit nichts zu tun, er war nur „zur falschen Zeit am falschen Ort. (…) Ich wusste nicht, ob der Mann etwas genommen hatte (…), ich hatte Panik (…), dann ist der Mann gekommen, hat seine Waffe genommen, ist erst auf Ömer los und hat gesagt: ,Leg dich hin, sonst erschieße ich dich!’ Dann haben sie sich geschlagen, aber er [Calhanoglus Freund] hat nichts gemacht, sonst hätte er ihn erschossen. Dann lag ich auch in einer Ecke, dann ist er zu mir gekommen und hat gesagt: ,Beweg dich nicht, sonst erschieße ich dich!’ (…) Dann war das am Ende fertig, der Junge hat geblutet.” Das ist nur ein kurzer Auszug des Interviews.
Und da sage mir noch einer, der Fußballalltag sei immer gleich—ich kann regelrecht nicht schlafen ob der Frage, was der nächste Spieltag für uns bereithält!