Foto: Netflix. Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP UK erschienen.
Einer der besonders erfreulichen aber gleichzeitig auch irgendwie befremdlicheren Aspekte der beinahe universellen Liebe, die Stranger Things von allen Seiten entgegengebracht wird, ist die Bewunderung für die Titelmusik. Diese knappe Minute voll wogender Analog-Arpeggios beschäftigte meinen Social-Media-Feed in den letzten Wochen wie kaum etwas anderes. Plötzlich fingen alte Schulfreunde, die es musikalisch nie wirklich über Kasabian hinausgeschafft hatten, darüber zu spekulieren an, wann der Soundtrack wohl auf Vinyl erscheinen würde. Ja, es war schon alles irgendwie komisch. Leute, wo wart ihr denn, als ich die Danza Meccania-Compilation abfeiern und über italienischen Synthwave 1982-1987 fachsimpeln wollte? Wer von euch hat damals meinen Kickstarter für einen überholten Micromoog unterstützt? Nicht, dass ich jemals einen praktischen Nutzen für das Gerät gehabt hätte, aber trotzdem.
Ja, mir ist schon klar, dass diese Dinge nicht mit einer großartigen Serie wie Stranger Things verbunden waren, die sich intelligent mit den Filmen (und damit auch den Soundtracks) unserer Jugend auseinandersetzt, sie zitiert und gleichzeitig auf den Kopf stellt. Aber auch fernab der Serie hat dieser Sound—vom melancholischen Progrock Goblins bis hin zum Stakkato-Terror von John Carpenter—Clubmusik, wie wir sie heute kennen, maßgeblich beeinflusst. Ich will an dieser Stelle also die Gunst der Stunde nutzen und einen neuen Versuch starten.
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Hier ist eine Auswahl von Tracks, die hoffentlich ähnliche Reaktionen heraufbeschwören wie der Stranger Things-Soundtrack. Die Selektion erstreckt sich zwar über vier Jahrzehnte Musik- und Stilgeschichte, nichtsdestotrotz überschneiden sich die thematischen und/oder formellen Elemente. Vielleicht bevorzugst du am Ende immer noch den Soundtrack, die Tracks hier unten sollten dir aber wenigstens dabei helfen, deine innere Winona auf der Tanzfläche zu materialisieren.
1. Space Art – Nous Savon Tout (1978)
Dieser Track des französischen Duos Space Art ist 1978 erschienen, besetzt dabei aber einen sonderbaren, zeitlosen Zwischenraum. Obwohl die musikalischen Wurzeln des Songs ganz klar in den elektronischen Progexperimenten jener Zeit liegen, hat die darin transportierte Stimmung noch weitaus mehr zu bieten. Die Vocals sind durch einen frühen Vocoder-Prototyp roboterhaft verfremdet, während die Synthesizer in alle Himmelsrichtungen ausschwirren. Plötzlich aber hebt das ganze Gebilde mit dem Einsatz treibender 4/4-Drums und einer aufsteigenden Drumelodie regelrecht ab. Natürlich weißt du ganz genau, dass du dich gerade nicht auf dem Weg zu einer fernen Galaxie befindest, nichtsdestotrotz überlegst du, wie sehr du es mit deinem Selbstbild vereinen könntest, wenn du dir jetzt aus den Sitzkissen ein Raumschiff “baust.” Keine Angst, wir erzählen es auch nicht weiter.
2. Richard Wahnfried – Time Actor (1979)
Hinter Richard Wahnfried steckt Klaus Schulze, kurzzeitiges Mitglied der Krautrocker Tangerine Dream und Wegbereiter der Berliner Schule. Dieser Song war eine wichtige Platte für Daniele Baldelli, der den Cosmic-Sound quasi erfunden hat, indem er Tracks wie diesen hier mit gradlinigem US-Disco, abgedrehtem New Wave und afrikanischen Polyrhythmen gemischt hat. Die Vocals klingen, als würden sie aus einer alten, Low-Budget-Science-Fiction-Serie stammen. Und wenn man der Discogs-Seite trauen darf, sind sie obendrein auch noch recht speziell. Ich für meinen Teil finde sie super: pseudowissenschaftliches/philosophisches Geplappere, das genau diesen einen Typen auf der Tanzfläche abholt. Du weiß schon, welchen ich meine. Der Typ, der einsam vor sich hintanzt, nach dem ein Großteil der Gäste bereits gegangen ist. Der mit dem komischen Bierfleck auf der Schulter oder so, der die ganze Zeit fasziniert auf seine Finger starrt. Du weißt schon, das Party-Äquivalent zu diesem zeitlosen GIF. Und wer könnte ihm das übelnehmen?
3. Anne Clark – Sleeper in Metropolis (1983)
Dieser Song erweckt in einem das gleiche Gefühl urbanen Verfalls, das John Carpenter auch mit seinen Soundtracks zu Assault – Anschlag bei Nacht und Die Klapperschlange heraufbeschworen hat. Genau wie bei Carpenter stehen bei Clark die Analog-Synthesizer im Mittelpunkt, allerdings setzt sie sie in diesem melodramatischen Song wesentlich treibender und tanzflächenfreundlicher ein. “As a sleeper in metropolis / you are insignificance / dreams become entangled in the system”, und plötzlich fühlst du dich wieder wie ein Teenager, der noch an der Begeisterungsfähigkeit der Jugend festhält, während der Sog der düsteren Erwachsenenwelt immer stärker wirkt.
4. Savage – Don’t Cry Tonight (1983)
Savage ist der Künstlername von Roberto Zanetti, dessen beste Tracks wie eine Italo-Interpretation des recht amerikanischen Subgenres der Morning Music klingen (Morning Music sind die ruhigeren, emotionaleren Tracks, die Disco-DJs früher am Ende der Nacht gespielt haben, wenn die Sonne wieder aufging und die Tänzer in Paaren den Heimweg antraten—Luke Howard von Horse Meat Disco hat auf seiner großartigen SoundCloud-Seite ein paar hervorragende Hörbeispiele). Würden wir in einer perfekten Welt leben, hätte dieser kristalline John Hughes-mäßige Vibe und übergroße Chorus von “Don’t Cry Tonight” den Soundtrack zu meinem Mittelstufenabschlussball geliefert, während mein selbstgebauter Roboterfreund unbeholfen der untergehenden Sonne entgegengelaufen wäre, nachdem er mir beigebracht hatte, mich den Bullys zu stellen, die Molly Ringwald meiner Stufe zu erobern und gleichzeitig meinem authentischen Charakter als Kindergenie treuzubleiben. Stattdessen gab es allerdings “My Heart Will Go On”, während ich schüchtern einem Mädchen um die Hüfte fasste. Bis auf die Tatsache, dass sie einen ganzen Kopf größer war als ich, habe ich keinerlei Erinnerungen an sie. Ich weiß auch noch, wie ich mich richtig anstrengen musste, um nach einem Fanta-induzierten Mosh zu “Shake A Tail Feather” nicht zu kotzen. Naja, das ist sie wohl: die Zeit, in der wir leben. Schätze ich.
5. In Aeternam Vale – La Piscine (1989)
Jetzt sind wir an dem Punkt angekommen, an dem wir uns etwas von den fröhlicheren Nummern weg und mehr in das Reich des ernsten Erwachsenentechno bewegen—einem Genre, das bei all seiner Seriosität immer noch versucht, dir mit seinen gruseligen Geisterbahngeräuschen Angst einzujagen. OK, vielleicht war ich gerade eine Spur zu gemein. Das hier sind nämlich 15 wirklich geniale Minuten beklemmender Unterwasserechos und drückender Beats, die einem kaum Zeit zum Luftholen lässt. In Aeternam Vale war (mehr oder weniger) das geistige Kind des Franzosen Laurent Prot, dessen Werk in den letzten Jahren dank des großartigen Labels Minimal Wave wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt ist. Um ehrlich zu sein, könnten fast alle (Re-)Releases des Labels eine etwas weniger tanzbare Version dieser Liste füllen. Zum Glück bin ich ein solcher Nerd, dass ich eine gigantische Spotify-Playlist erstellt habe, die alles in dieser Art umfasst.
6. Psyche – The Saint Became a Lush (1993)
Dieser Song taucht auf Teil zwei von Trevor Jacksons Metal Dance Compilation-Reihe auf, welche, genau wie Veronica Vasickas eben erwähntes Minimal Wave-Label, ein guter Einstieg für die eher im New Wave und Industrial zu verortenden Tracks im Bereich analoger Synthsounds ist. Auch sie transportieren dieses magisch-düstere Feeling alter Pre-CGI-Filme. Wenn du auf solche Musik stehst, kannst du mit diesem Track eigentlich nichts falsch machen: gradlinige Vocals, treibender Beat und eine hochtönige Synthspur, die umherschwoft wie das Halloween-Theme in einer 90’s Disco.
7. Unit Black Flight – No Turning Back (Legowelt Remix) (2006)
Dieser wirklich abgespacete Remix von Legowelt befördert uns ein gutes Stück in die Gegenwart. Vielleicht hat man am Anfang noch das Gefühl, von den ganzen überlagerten Synthspuren erschlagen zu werden, aber gleichzeitig schafft es Legowelt es dabei, seinen Track viel dreckiger und urwüchsiger klingen zu lassen als alles, was die kosmischen Norweger zur gleichen Zeit veröffentlicht haben. Wenn Prins Thomas der computeranimierte Pod-Racer in Star Wars Episode 1 ist, der butterweiche Handbremsendrehungen hinlegt, dann ist das hier der Original Millennium Falcon, der in den Pinewood Studios an Kränen hing. Wo wir schon dabei sind: sehr schöne Verwendung des “Pew, Pew”-Laserkanonensounds.
8. Delia and Gavin – Releeve (Carl Craig Remix) (2006)
Nachdem ich Prins Thomas gerade eben dezent dafür gedisst habe, dass seine Produktionen einen Ticken zu clean sind (was sie nicht wirklich sind. Ich liebe dich, Prins!), präsentiere ich euch dieses Meisterwerk von Carl Craig, das so zeitlos, so unfassbar gut ist mit seinem raffinierten Aufbau und seinen perfekt positionierten Drums, dass ich fast zu einem dieser langweiligen Typen werden möchte, die nur noch Detroit Techno hören und sonst nichts. Was diesen Track so gnadenlos gut macht, ist dass er dieses Detroit-Gespür mit den selbstgebauten Analogsynthesizern von Gavin Russom kombiniert—dem hauseigenen Tontechniker von DFA Records. Der Song sprüht vor retrofuturistischen Charme, ich will mich beim Anhören in den alten Tom Cruise (ohne gerichtete Zähne) verwandeln und in einem Sportauto, das aussieht wie ein elektrischer Türstopper, die Autobahn entlangheizen.
9. 5th Floor – Two Dogs in a Room (2010)
Das war die zweite Veröffentlichung auf L.I.E.S. überhaupt und hat so ziemlich die Agenda für diesen Sound durchgebrannter Hardware und verzerrter Arpeggios gesetzt, die das Label später definieren sollte. 5th Floor sind Labelgründer Ron Morelli und L.I.E.S.-Dauergast Steve Summers. Ersterer veröffentlicht übrigens auch herrlich obskure und abstrakte Platten auf Hospital Productions. Um ehrlich zu sein wird das L.I.E.S.-Rezept auf späteren Veröffentlichung in viel befriedigendere Extreme geführt (zum Beispiel hier), aber weißt du was? Manchmal ist es ganz gut, am Anfang anzufangen. Der erste Terminator bleibt auch heute noch ein guter Film, auch wenn er Tag der Abrechnung nicht ansatzweise das Wasser reichen kann.
10. Prurient – You Show Great Spirit (2013)
Es wird viel darüber geredet, dass das hier das Album ist, auf dem ein Noise-Künstler die Welten von Techno und Black Metal miteinander vereint. Bis zu einem gewissen Punkt kann ich das wohl nachvollziehen, für mich wird es aber immer die Platte bleiben, auf der Dominick Fernow die Spukhaus-Atmosphäre alter Dark Wave Bands um Meilen besser heraufbeschwört, als ihm das jemals als Teil von Cold Cave gelungen ist. Versuch dir diesen Track anzuhören, ohne dir dabei vorzustellen, dass du dich gerade in einer gottverlassenen Hütte in einem nebligen Wald befindest, während ein Wahnsinniger nacheinander deine promiskuitiven Freundinnen absticht, die aus unerfindlichen Gründen kurz zuvor sündig ihre nackte Brust enthüllt haben. Noch besser funktioniert der Track allerdings, wenn du die Holzhütte im Wald gegen einen düsteren Technoclub in einer Industriebrache eintauscht und die Nippel deiner Freundinnen gegen die prächtige Beule in der engen Hose des muskulösen Ledertypen neben dir.
Und weil’s so schön war, noch einer:
Lord of the Isles – Geek Chic (2013)
Als ernsthafter Musikfan—also jemand, der Clubmusik nur zu Hause und über Kopfhörer hört—bin ich eigentlich niemand, der wirklich für diese Peaktime-Hände-in-die-Luft-Momente zu haben ist. Ich habe in meiner Playlist aber ein paar Tracks, die durchaus in diese Kerbe schlagen. Ich werde zum Beispiel nie das erste Mal vergessen, als ich diesen Song gehört habe. Dieser Moment, in dem alles wegfällt und diese hallenden Keys nach vorne durch die alienartigen Seufzer kommen. Der Track befindet sich musikalisch nicht gerade meilenweit vom ersten Song in dieser Liste entfernt—wenn man mal die 35 Jahre Altersunterschied ignoriert. Das hier ist E.T., der die Räder zum Fliegen bringt. Es ist Sigourney Weaver, die der Alienkönigin mit dem Laderoboter den Hintern versohlt. Es ist das wundervolle Mädchen in Stranger Things, die einfach einen ganzen Van in die Luft befördert. Und es ist der Ausdruck in den Gesichtern ihrer Freunde, der sagt: “An dieses Gefühl sollten wir uns klammern, so lange wir können.”
Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP erschienen.
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