Ich hab Angst vor dem Tod. Als ich das zum ersten Mal laut ausgesprochen habe, war ich fast 30 und hatte schon ein paar hundert Panikattacken hinter mir. Ich habe nicht Angst vor dem Prozess des Sterbens – vor Schmerzen oder davor, dass es lange dauern könnte. Ich habe auch nicht besondere Angst vor irgendeiner bestimmten Art zu sterben. Eher davor, einfach nicht mehr zu existieren. Dass am Ende alles umsonst war.
Am schnellsten kocht meine Angst vor dem Tod über, wenn mir jemand von der Unendlichkeit des Universums vorschwärmt oder von Tieren, die es mal gab und die längst ausgestorben sind. Oder wenn im Zug mal wieder zwei Jugendliche diskutieren, welche Art zu Sterben denn nun erträglicher sei: Ertrinken oder Ersticken?
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In solchen Momenten fühle ich mich gefangen. Am liebsten würde ich dann alle Leute schütteln, die in meiner Nähe sind. “NICHTS HAT SINN”, will ich schreien. “WAS SITZT IHR HIER NOCH RUM?”
Alles in mir spannt sich, ich richte mich hektisch auf und atme tief ein, dann halte ich kurz die Luft an und balle beide Hände zur Faust; ich zerre stumm an meinen Haaren, grabe meine Nägel in die Handflächen. Wenn ich Glück habe, schaffe ich es, einen Schrei zu unterdrücken – das hilft, zum Beispiel im Zug, damit niemand mitkriegt, was in mir los ist. Ich bewege mich nicht, aber in Gedanken zieht es mich von meinem Sitz, den Flur entlang, die Wände hoch, ich will ausbrechen, durch die Wände, durch die Decke, ich will irgendwo ins Freie treten und nach Luft schnappen. Ins Freie heißt in dem Fall: an einen Ort, an dem es den Tod nicht gibt. An dem mir jemand mit der Hand über den Rücken fährt und sagt: “Die Angst, die du da drin hattest, die ist hier gar nicht nötig. Hier draußen haben wir doch den Tod vor zwölf Jahren abgeschafft.”
Aber diesen Ort finde ich nicht. Stattdessen verkrampfe ich einfach, bis ich komplett erschöpft bin. Dann verdränge ich den Tod aus meinen Gedanken.
Diese Illusion ist etwas, das ich brauche.
Was ich nicht brauche: Dass meine Frau Ronja aus Kabul anruft und mich fragt, ob ich sie dort besuchen will.
Aber genau das hat sie getan, im November 2013. Sie war damals für drei Monate dorthin gezogen und arbeitete als Journalistin. Ich recherchierte zur selben Zeit von Hamburg aus zu Drohnenangriffen in Somalia, die über US-Standorte in Deutschland abgewickelt wurden. Das war anstrengend und zermürbend, und weil wir in unserem Team extrem vorsichtig kommunizierten, war ich dabei, ein wenig paranoid zu werden. Als in unserer Wohnung die Rauchmelder gewechselt wurden, rief ich Ronja an und überlegte laut, ob der Verfassungsschutz unsere Wohnung verwanzt hätte. Vielleicht war ich deshalb labil genug, um Ja zu sagen, als sie mich fragte, ob ich sie besuche. Vielleicht gab es deshalb dieses Zeitfenster von drei Stunden in meinem Leben, in dem ich dachte: Kabul könnte nach dieser Recherche wirklich sowas wie ein Urlaub sein.
Jedenfalls flog ich hin – für zwei Wochen. Ronja sorgte dafür, dass wir nur an die schönsten Orte fuhren, die inspirierendsten Menschen trafen – und am Ende der zwei Wochen sagte ich zu, für ein Jahr in Kabul zu bleiben.
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Seither ist die Angst vor dem Sterben wie der kleine Terrorist in meinem Kopf. Denn Kabul ist der beschissenste Ort der Welt für Leute, die Angst vor dem Tod haben. Nicht weil man dort unbedingt stirbt – als Ausländer kann man sich vor vielen Gefahren abschirmen, und zur Not hilft unser Pass bei einer kurzfristigen Ausreise. Eher, weil es komplett unmöglich wird, die Möglichkeit des Sterbens zu verdrängen. Der Tod ist jeden Tag da.
Einmal haben wir unseren Freund Shams mitgenommen zu einer Mahnwache bei jungen Friedensaktivisten. Man musste sein Handy ausschalten, und nachher hatte Shams sechs verpasste Anrufe. Seine Kumpels waren ungeduldig geworden. Sie wollten endlich los nach Pandschschir, ein Tal einige Stunden nordöstlich von Kabul. Ihre Familien warteten auf sie, und sie wollten vor dem Abend ankommen. Am Ende waren sie ohne Shams losgefahren. Weil ihn das traurig machte, nahmen wir ihn mit in ein Restaurant, zum Abendessen. Dort stiegen wir gerade aus dem Auto, als er einen Anruf bekam. Ich hörte nicht, was am anderen Ende gesagt wurde, aber ich sah es in seinen Augen, und in seiner Haltung. Ich sah den Tod dort: Je mehr Shams versuchte, gefasst zu bleiben, desto mehr zerriss es ihn. Er legte wieder auf, lief ohne Ziel auf der Straße hin und her, und jede Träne, die er weinte, drückte er sofort wieder weg. Er bekam kaum noch Luft, und er brauchte ein paar Minuten, bis er reden konnte. Als er dann doch sprach, hatte er wieder in den Modus des Funktionierens umgeschaltet.
Seine Freunde waren in dem Auto, in dem er selbst mitfahren sollte, gerade am Eingang zum Pandschschir-Tal angekommen, da hatte es eine Explosion gegeben. Ein enger Freund von ihm war getötet worden – 24 Jahre alt und Vater von zwei Kindern.
Shams hatte seinen Freund verloren – und trotzdem versuchte er, gefasst zu bleiben – damit es für uns nicht zu traurig würde. Seine Gesichtszüge schienen sich nach Kontrollverlust zu sehnen, aber er fing sie immer wieder ein. An den Kampf im Gesicht von Shams musste ich ab dem Moment immer denken, wenn wir eine Explosion hörten. Das ist oft passiert, weil wir im Stadtzentrum lebten. Und wenn ich vorher geglaubt hatte, mich ein wenig an die Einschläge gewöhnt zu haben, dann war das spätestens jetzt vorbei. Ab jetzt hatte der Tod einen Gesichtsausdruck.
Ich liebte unser Leben in Kabul. Unsere Arbeit schien einen Sinn zu haben, und wir fanden enge Freunde, die uns für immer veränderten. Wir wohnten in einem alten Haus, ebenerdig, mit einem großen Garten und einem jungen Hund. Wir trafen uns mit afghanischen Freunden zum Bowling und spielten Wahrheit oder Pflicht im Pizza-Imbiss. Wir nahmen Sprachunterricht, lernten unsere Nachbarn kennen und ließen uns frühmorgens zeigen, wie man einen Schwarm Tauben über den Himmel von Kabul dirigiert, mit Pfiffen und einem Köcher. Wir recherchierten zu Fehlern beim Abzug der NATO-Truppen und zogen für ein paar Tage in eine WG junger Aktivisten. Sie pflanzten Bäume in Bombenkratern und ließen Drachen steigen, auf denen stand: “Fly Kites, not Drones.”
Kabul war aufregend und schön, Kabul war fremd und uns bald ganz nah. Aber Kabul war auch ein Katalysator für meine Panikattacken. Dort war der Tod so präsent, dass sich die Frequenz meiner Angstzustände drastisch erhöhte.
Besonders, seit wir an einer Geschichte über einen Anschlag arbeiten, die jetzt als Podcast-Serie bei Audible erscheint. Im Dezember 2014 hatte uns ein Freund zu seiner Theaterpremiere eingeladen. Ein Stück über Selbstmordanschläge – darüber, wie Leute damit umgehen, wenn eine Explosion ihr Leben für immer verändert. Das Stück klang außergewöhnlich, und der Saal im französischen Kulturzentrum war ausverkauft, um die 300 Zuschauer, Live-Musik auf der Bühne – wir wollten unbedingt hin. Aber unser Rückflug nach Deutschland lag einen Tag vor der Premiere. Wir versuchten noch, ihn zu verschieben, aber am Ende mussten wir absagen. Als wir in Hamburg wieder online waren und nachschauen wollten, wie die Aufführung gelaufen war, erfuhren wir, dass es dort einen Selbstmordanschlag gegeben hatte. Zehn Minuten vor dem Ende hatte ein 16 Jahre alter Junge eine Bombe gezündet, die er an seinem Körper trug.
Neben dem Attentäter verloren zwei weitere Menschen ihr Leben, 16 wurden verletzt. Für den Podcast, der jetzt als sechsteilige Serie veröffentlicht wird, baten wir die Überlebenden, von dem Tag des Anschlags zu erzählen – und wie sie danach wieder ins Leben zurückfanden. Was uns überraschte und bis heute inspiriert: Fast alle kehrten stärker zurück, mutiger, radikaler. Die Schauspieler, die beim Anschlag auf der Bühne gespielt hatten, in einem Theater hinter Mauern und Stacheldraht, traten später im Herzen von Kabul auf der Straße auf, ungeschützt, vor tausenden Passanten. Sie wollten ein Zeichen setzen, als ein Mob von Männern eine junge Frau gelyncht hatte.
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Wir interviewten Schauspieler und Musiker, Entwicklungshelfer und Diplomaten. Weil wir das Ganze auch filmten, dunkelten wir immer wieder einen Raum ab, schalteten zwei künstliche Lichter ein, und baten die Leute, uns von ihrer Begegnung mit dem Tod zu erzählen. Oft ging das vier, fünf Stunden. Fast immer weinten wir zusammen.
Kein Wunder, dass meine Angst sich in der Zeit noch verstärkte.
Aber je häufiger ich meine Panikattacken durchlebte, desto mehr veränderten sie sich auch. Je höher ihre Frequenz, desto niedriger wurde ihre Amplitude. Das hatte ich mein ganzes Leben lang gewollt: Dass die Angst vor dem Tod weniger brutal ausschlägt. Nur: In mir drin sträubte sich etwas. Ich wollte meine Panikattacken nicht verwässern, wenn ich sie dann ständig erleben müsste. Ich wollte viel lieber zurück zu absoluter Verdrängung.
Das hieß für mich: zurück nach Deutschland. Den Ort, an dem man den Tod ins hohe Alter verbannen kann, wo man ihn behandeln kann wie eine Hypothese, die man ungeprüft in die Rumpelkammer stellt. Wenn’s wichtig ist, kommt’s wieder.
Nur dumm, dass mir offenbar die Entscheidung nicht zustand, das Rad zurückzudrehen. Denn meine Angst behielt ihre neue Form. Und jetzt kamen noch Träume dazu. In Kabul habe ich nie einen einzigen schlechten Traum gehabt. Aber wenn wir das Land verließen, dann schien es jedes Mal, als hätte ich Nachholbedarf. Als könnte ich erst jetzt alles verarbeiten, was ich dort gehört und gesehen hatte, gerochen und gelesen. So war es auch, als wir zum zweiten Mal nach Kabul reisten, um die Überlebenden des Anschlags im französischen Kulturzentrum zu treffen. Nach unserer Rückkehr träumte ich plötzlich jede Nacht den selben Scheiß. Zwei Träume, die sich immer wiederholten.
Der erste geht so: Ich bin in unserem Haus in Kabul, und vorne am Tor poltert jemand, laut und wütend. Der Pförtner, Nabi, ruft uns zu, dass Männer mit Waffen am Tor sind. Ich höre ihn schreien – dann fällt ein Schuss. Ich blicke hektisch zur Tür, dann in die andere Richtung. Aber dort ist nichts – nur eine Wand. Kein Ausgang, keine Tür. Ich kann nicht weg. Nowhere to hide. Und dann wache ich auf. Jedes Mal.
Der zweite Traum beginnt damit, dass ich gerade festgenommen wurde, von Männern mit Gewehren, die mir sagen, dass ich am nächsten Tag hingerichtet werde. Ich weiß: Wenn ich wegrenne, werde ich erschossen. Wenn ich nicht wegrenne, werde ich auch erschossen. Nowhere to run. Und dann wache ich auf.
Ich hatte nichts dergleichen erlebt, wir haben in Kabul keinen Kratzer abbekommen, kein Blut gesehen, keinen direkten Bekannten verloren. Und trotzdem begann jetzt eine diffuse Angst, meine Nächte zu zerstören, so wie früher. Bald auch meine Tage. Irgendwann merkte ich: Ich komm da alleine nicht raus. Die Angst vor dem Tod hatte mich im Würgegriff.
Ich habe eine Therapeutin gefunden und ihr von den Träumen erzählt. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und sind ziemlich schnell bei ganz anderen Themen gelandet: Bei den Psychosen eines nahen Verwandten, denen ich komplett ohnmächtig gegenüberstand. Bei meinem suchtähnlichen Umgang mit Arbeit. Und bei meiner Angst vor dem Tod. Im Grunde einfach bei allem, was ich nicht kontrollieren konnte.
Irgendwann habe ich ihr von der Geschichte über den Anschlag erzählt, an der wir arbeiteten. Sie hat sich das alles angehört. Dann sagte sie, es sei sicher kein Zufall, dass ich mich ausgerechnet an dieser Geschichte festgebissen habe, über einen Terroranschlag. “Das zeigt Ihnen doch genau, welche Frage Sie selbst in Ihrem Leben gerade am meisten beschäftigt.” Ich konnte damit nichts anfangen. Noch mehr: Ich fand ihren Kommentar übergriffig.
Zwei Jahre später verstehe ich sie besser: Wie das Leben in Kabul macht auch Terror mir vor allem deswegen Angst, weil er mich an meine eigene Sterblichkeit erinnert. Nicht, weil ich Angst habe, Opfer eines Anschlags zu werden. Sondern weil der Terror mir die Möglichkeit raubt, meinen eigenen Tod über Wochen und Monate auszublenden. Der Tod ist dann keine Hypothese mehr, von der man sich selbst erzählt, man werde sie schon irgendwann prüfen, wenn Zeit dafür ist. Die Gewissheit, irgendwann zu sterben, steht plötzlich immer im Raum. Selbst wenn es nicht heute passiert, oder morgen.
Vielleicht haben mir Kabul und die Auseinandersetzung mit Terror erst ermöglicht, meine Angst vor dem Tod zu besiegen.
Na ja, sagen wir: zu verkleinern.
Na ja, sagen wir: ihr zu erlauben, dass sie eben da ist.
Lange hatte ich gehofft, aus der Angst vor dem Tod herauszuwachsen. Jetzt denke ich: Vielleicht wird dieser Tag nie kommen. Vielleicht reicht es, wenn ich einen Umgang finde mit meiner Angst. Wenn ich sie erstmal akzeptiere und weniger Energie darauf verwende, sie zu verjagen. Ein bisschen so, wie wenn mein Tod eine reale Person wäre, und ich erlaubte ihr großmütig, bei unseren Interviews mit uns abzuhängen: “OK, wenn du eh nicht verschwindest, dann stell dich hier in meine Nähe, wo ich dich sehen kann – und mach bitte keinen Ärger. Wenigstens nicht jetzt.”
Vielleicht muss ich nicht lernen, meine Angst vor dem Tod abzulegen.
Vielleicht kann sie bei mir bleiben – und ich lerne einfach, sie weniger ernst zu nehmen?
Einmal waren wir in Kabul in einem Supermarkt beim Einkaufen, als der Strom ausfiel. Sofort sind meine Gedanken gerast. Die schalten den Strom ab, bevor sie den Laden stürmen, dachte ich – hier kaufen so viele Ausländer ein, das ist das perfekte Ziel. Ich habe eine Kühlschranktür aufgerissen, um zu schauen, ob ich mich darin verstecken könnte. Ronja hat fassungslos zu mir rüber geschaut, und als ich ihr erklärte, dass ich da jetzt reinklettern würde, hat sie laut gelacht. Meine Angst vor dem Tod erschien ihr offenbar liebenswert – aber sie fand sie zugleich auch komplett absurd. Ihr ist der Tod egal. Kabul hat dazu geführt, dass mir dieser Unterschied erst bewusst wurde – und dass wir drüber sprechen können. Manchmal lachen wir gemeinsam. Das verhindert den Schmerz nicht. Aber es hilft.
Ein anderes Mal kamen wir gerade von einem Gespräch mit Ahmad Sarmast, dem Leiter der Musikschule, der bei dem Anschlag im französischen Kulturzentrum schwer verletzt wurde. Sarmast hatte sich vor dem Anschlag gerade entschieden, zu seiner Familie nach Australien zu ziehen. Nach dem Anschlag ist er stattdessen in Kabul geblieben. Er gründete das Mädchenensemble Zohra, das seither weltweit auftritt – und nach einem der Auftritte schrieb er uns: “Das ist meine Antwort auf den Anschlag der Taliban.” Sarmast hatte mich in dem Interview dermaßen beeindruckt, dass ich mich jetzt ganz aufgeregt zu Ronja umdrehte und auf sie einredete. “Wir dürfen jetzt auf gar keinen Fall sterben, bevor wir diese Geschichte fertig haben”, sagte ich, und dass wir am besten jetzt sofort in den Schnitt müssten und überhaupt, wo bleibt denn unser Taxi? Ich war dabei, vollkommen überzusprudeln. Und bemerkte gar nicht, wie ich dabei ganz beiläufig zum ersten Mal ausgesprochen hatte, dass es wohl irgendwie OK ist, falls ich irgendwann … später … unter Umständen … doch einmal sterbe. Nur eben nicht jetzt.
Die Journalisten Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck erzählen in ihrem Podcast ‘Gegen die Angst’ bei Audible.de von Künstlern in Kabul, die Ziel eines Selbstmordanschlags wurden. Und sie beschreiben, was sie selbst von den Überlebenden gelernt haben.