Urlaub in der Ukraine Teil 7

Stefanie und ihr Freund sind per Autostopp durch die Ukraine gereist. Am Anfang ist ihnen das Leben auf der Straße ja noch ein klein wenig schwer gefallen. Fragen, wie wo scheißen, wo waschen und wo schlafen waren da noch ranghöher. Nachdem sie in der Ukraine aber so viele nette Menschen getroffen haben, finden Stefanie und ihr Freund immer mehr Gefallen an ihrem Roadtrip. Sogar zum Autostoppen sind die beiden mittlerweile zu faul und nehmen meistens den Bus. Das ist vielleicht nicht schneller, aber immerhin nicht lebensgefährlich. Nach ihrem letzten Stopp in Czernovic geht es weiter nach Odessa.

Odessa, dieser wunderbare Name einer großartigen Stadt. Ich war das letzten Mal vor sechs Jahren hier, ich bin spontan alleine hingefahren, habe in einem Partyhostel mit schrägen, interessanten Leuten und auch schmierigen Sextouristen (Ich erinnere mich an den kleinen, dicken, amerikanischen Computeringenieur Kevin, der am Strand fremde Mädchen begrapschte. Als wir ihn fragten, wie er es eigentlich vermeidet, ständig wegen sexueller Belästigung angezeigt zu werden, meinte er pragmatisch: „I dont.“) gewohnt, die alle ganz fertig waren, von den Supermodel-Frauen in High Heels, Miniröcken, bauchfreien T-Shirts und durchsichtigen Blusen (ohne BH), die ganz selbstverständlich überall in der Stadt herumspazierten, selbst 11jährige Mädchen und 50jährige Frauen waren verstörend sexy angezogen und mit meinen flachen Sportschuhen und unfrisierten Haaren, hab ich mich wie ein radikaler Feministenpunk gefühlt, dabei ist meine Nachlässigkeit bei der Bevölkerung vermutlich einfach auf verwirrtes Unverständnis gestoßen. 

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Meine Theorien: 

Während man in Österreich bei einer Frau, die zu jedem Anlass extrem sexy angezogen ist, ihr Selbstwertgefühl in Frage stellen würde, ist es hier umgekehrt, die Mehrheit fragt sich bei einer nicht ultrafeminin gekleideten Frau, ob sie etwa kein Selbstbewusstsein hat, weil sie nicht zeigt, was sie hat. Während man bei uns quer durch die Gesellschaft klassische Rollenverteilungen im Haushalt in Frage stellt, ist man als Ukrainerin bei der hohen Anzahl an Alkoholikern froh, wenn der Mann sie wenigstens durch die Erfüllung seiner männlichen Aufgaben entlastet und für die Familie sorgt. 

Bei meinem letzten Besuch gab es auch an jeder zweiten Straßenkreuzung Schilder mit Aufschriften wie „Rooms, Restaurant, City-Tours, Marriage“, was im Hostel Witze wie „Ich hätte gerne einen Hamburger und eine kleine Ehefrau, please. Mit extra Pommes oder Kindern? Nein, danke“ hervorbrachte. Außerdem sah man immer wieder Straßenkinder, die Klebstoff aus Plastiksackerl schnüffelten.

Diese ganzen Beobachtungen, finde ich nicht mehr vor. Ich bin verwirrt, dass nicht mehr jede zweite Gruppe Frauen wie gestylte Models aussieht, sondern unterschiedlich wie in Wien auch und erkläre es mir damit, dass es wohl die Frauen waren, die zur Hauptsaison mit den ganzen neureichen Partyrussen in de Stadt kommen und im September wieder nach Hause fahren oder dass sich die Zeiten mittlerweile einfach geändert haben.

Am Bahnhof stehen viele Babuschkas herum, sie vermieten privat Zimmer und wir verhandeln ein bisschen, bis uns eine alte Frau für 5 Euro pro Person zu sich nach Hause mitnimmt. Sie ist mindestens 80 Jahre alt und ihre Körperhaltung ist rechtwinkelig. Für ihren Zustand ist sie aber unglaublich robust, sie geht sehr schnell und schmeißt sich in den voll gestopften Bus, zieht unsere Rucksäcke zu sich, drängt sich zielstrebig durch die Leute, es wirkt als würde sie ihren kleinen, alten Körper wie einen Sack voll schwerer Steine kraftvoll vor sich her werfen. Wir fahren ca. 20 Minuten aus der Stadt raus und landen in einer dörflich wirkenden Vorstadtgegend. Die Häuser sind alle eher einfach und mit großen Metalltoren als Sichtschutz versperrt. In der Straße gibt es als Gegensatz zu den andern Gebäuden eine moderne maskulin-minimalistische Villa, die mit schwarzem Glas verspiegelt ist. Sie meint, die würde DEM AFGHANEN gehören. Wow, wir machen ein Foto und rechnen damit, dass gleich irgendwo auf unserem Kopf der rote Laserpunkt eines Zielfernrohrs auftaucht.

Die Babuschka versucht eine Metalltür aufzusperren, sie klemmt und so hüpft sie erstaunlich hoch wie Supermario und wuchtet ihren maroden, buckligen Körper mit einem lauten Schlag gegen das Tor, bis es aufspringt. Beeindruckend. Vor uns öffnet sich ein kleiner mit Weinstöcken bewachsener Innenhof, wie ein Wiener Vorstadtheuriger und sie führt uns zu zwei lauschigen Häuschen im Innenhof, in dem unsere Betten und eine Küche sind, währenddessen dreht ein kleiner, angebundener Hund fast durch vor Hass, in den Stunden in denen wir da sind, bellt und knurrt er ununterbrochen. Sie erklärt uns hektisch welcher Bus wann hierher fährt, wie die Station heißt, sie ist total hyperaktiv und wir verstehen kaum ein Wort. Verzweifelt versuche ich in Lautschrift mitzuschreiben, sie wuselt davon und bringt uns noch Decken, möchte meine löchrige Strumpfhose nähen, aber wir fahren wieder in die Stadt.

Spazieren durch die prunkvollen, breiten Straßen Odessas, die ganze Innenstadt ist voller Alleen, die Architektur herrschaftlich, in der großen Einkaufsstraße reiten Leute auf Pferden herum, andere verkaufen in traditionellen Trachten Blumen und ein Stück weiter erstreckt sich vor uns der große Hafen, über die berühmten Potemkintreppen öffnet sich der Blick ins Schwarze Meer. Odessa, holde Hafenstadt mit der höchsten und völlig tabuisierten HIV- Infektionsrate Europas (Schätzungen sagen 16%!), ein Umschlagplatz des Handels mit Zwangsprostituierten am Weg nach Westeuropa und in die Türkei, aber auch die Partystadt der Ukraine, eine Touristenhochburg, an die es reiche Russen zieht, um in den bekannten Nachtclubs von Arcadia Beach herumzuprotzen, von denen Touristen regelmäßig mit blutig geschlagenen Gesichtern und ohne Wertgegenstände nach Hause kommen und deren Innenstadt als Bühne benutzt wird, um Luxus und erkaufte Schönheit vorzuführen. Schreckliche, prächtige Stadt der Widersprüche. 

A. schaut nachdenklich in die Ferne auf den Hafen voller Kräne und Containern und sagt: „Das wollte ich mal fotografieren und  ausdrucken. Das ist es, das Symbol der Arbeit.“ Ich nicke zustimmend: „Die Welt des Handels und der Ingenieure.“ A.: „Wenn alle Menschen so wären wie wir zwei, würde es das alles nicht geben!“ Ich beiße mir ergriffen auf die Unterlippe und wir schweigen gemeinsam stumm vor Ehrfurcht.

Wir spazieren noch durch die Innenstadt, es wird dunkel und wir schlendern den Prymorskij Boulevard entlang, das gelbe Laternenlicht und die Pflastersteine erinnern an romantische Vorstellungen von Paris, die Menschen die herumsitzen, die Straßenattraktionen, wirken in dem Licht auch dadurch, dass sie sich alle leicht von denen unterscheiden, die ich aus dem Rest Europas kenne, surreal und skurril. Links auf der Bank sitzt eine alte Frau, die sich in die Arme ihres Mannes kuschelt, der eine Kapitänsmütze trägt, rechts sitzt im Licht der Straßenlaterne ein zusammengesunkener Kerl mit einer Clownsmaske aus Gummi, ein paar Meter weiter spielt eine junge Frau in einem altmodischen Kleid Harfe, ein paar Meter weiter trinken drei dicke Herren Wodka, ein paar Meter weiter steht ein kleines Kind ganz in weiß im Dunkeln, verkleidet als Engelchen, in beiden Händen hält es weiße Tauben, mit denen man sich fotografieren lassen kann, ein paar Meter weiter, singt ein kleiner Chor mehrstimmig ukrainische Volkslieder, dazwischen reitet eine junge Frau auf einem Pferd vorbei und auf der nächsten Bank sitzt ein alter, dünner Mann, rechts und links von ihm zwei langbeinige Blondinen, auf symmetrische Art zu ihm gewendet, die sich gerade die Zukunft vorhersagen lassen. Wieder etwas weiter sitzt ein Mann mit einem riesigen Leguan und ein anderer schleppt drei mächtige, widerspenstige Falken herum, sie hängen schreiend von seinen Armen, die Beine sind quälerisch mit Seilen zugebunden. Ein Straßenmusiker spielt Flamenco auf der Gitarre und eine Achtzigjährige tanzt losgelöst dazu, während im Hintergrund die Hafenlichter leuchten.

Am Ende des Boulevards auf einem großen leeren Platz fährt ein Mädchen einsam in der Nacht Inlineskates, schnell und grazil gleitet sie wie eine Eiskunstläuferin, springt in die Höhe und dreht Pirouetten. Es ist der absolute Eindrucksoverkill, mystisch, ich bin wie im Rausch und total verknallt in Odessa, ich möchte Odessa umarmen, es kuscheln und liebkosen und hätte es nicht soviel Aids, würde ich mit Odessa budern.

Wir machen uns auf den Rückweg, beobachten dabei noch einen alten Mann, der gerade sehr vertieft mit seinem dicken Mops diskutiert und gegen unsere Erwartungen finden wir nach einer langen Busfahrt sogar unser Haus. Anfangs finde ich den Schlüssel nicht und da die Babuschka uns hört, sperrt sie uns auf und kommt raus, sie ist völlig außer sich, während ich gestresst meinen Tascheninhalt auf der Straße verteile, schreit sie ununterbrochen, hysterisch vor Verzweiflung „Klutsch! Klutsch! (Schlüssel, Schlüssel)“ und wirkt dabei als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Gott sei Dank finde ich den Schlüssel und wir gehen schlafen. 

Am nächsten Morgen nehmen wir uns ein Zimmer in einem Hostel, um näher am Zentrum zu sein, wir spazieren wieder den ganzen Tag durch diese großartige Stadt, hier gibt es einen der größten und berühmtesten ukrainischen Märkte. Wir legen uns an den Strand, umgeben von Eisständen und Vergnügungsattraktionen, setzen uns zu den badenden Ukrainern, die sich immer aufrecht mit gehobener Brust in die Sonne stellen, die Augen schließen und die Arme ausbreiten, ein eigenartiges Ritual, dass mir schon vor sechs Jahren aufgefallen ist. 

In meinem Kopf ist Meer und Strand immer an klassische Urlaubsziele wie Spanien, Karibik oder Türkei geknüpft. Ukrainer am Meer finde ich daher automatisch schrullig, genau wie Deutsche am Meer. Besonders unvorstellbar für mich: Deutsche, die auf Inseln leben!

Wir schauen uns die legendären Clubs von Arcadia Beach, das ukrainische Ibiza, bei Tag an. Ich war dort vor sechs Jahren mal und wurde im Wodkarausch ausgeraubt. Man zahlt bis zu 20 Euro Eintritt, dafür bekommt man aufwendige Gogo- und Lasershows geboten, das kleine Bier kostet 6 Euro, überall stehen überdurchschnittlich gut aussehende Frauen herum, die Stimmung ist exzessiv und die Tanzfläche ist voller reicher Russen und Businessmännern, die leere Champagnerflaschen als Statussymbole in die Luft strecken. Auf jeden Fall ein Erlebnis, auf das wir aber diesmal keine Lust haben. 

Wir sitzen noch auf einem Steg herum bis die Sonne untergeht und schauen aufs Meer. Ein Typ im Jogginganzug und ein kleiner Bub sammeln Muscheln aus dem Meer. Der Typ hat ein Kinderschlauchboot an einem Seil befestigt und sie wirken sehr ernst, es wirkt nicht wie ein Vater Sohn Freizeitvergnügen, er steckt den ca. sechsjährigen Jungen in eine Schwimmweste und setzt ihn in der Abendsonne ins kleine Boot und hält das Seil fest, schwer zu interpretieren.

Wir gehen in die Stadt trinken abends an Straßenständen Bier und mein Lieblingsgetränk REVO, ein Alko- Energydrink, der wie eine Mischung aus Selbstgebranntem, Energydrink und Würfelzucker schmeckt und als Logo eine Schusswaffe hat, die einem direkt ins Gehirn zielt.

Wir versuchen ein Undergroundlokal zu finden, das nicht mehr zu existieren scheint. Am nächsten Tag wollen wir weiter ins Donaudelta, nach Vylkovo fahren.

Am späten Nachmittag kommen wir in diesem kleinen Ort nahe dem Donaudelta an. A. ist während der Fahrt draufgekommen, dass er eigentlich umkehren und schon nach Uman, das am halben Weg zwischen Odessa und Kiew liegt, fahren sollte, bevor Rosh Hashanah richtig beginnt, damit er noch die Möglichkeit hat ein günstiges Zimmer zu finden. Die Privatzimmer kosten während der Pilgerzeit 100 Dollar die Nacht. Außerdem soll er die Lage auch für mich auschecken, offiziell herrscht bei dieser Veranstaltung nämlich Frauenverbot. Er beschließt, den ersten Morgenbus um vier Uhr früh zu nehmen und so spazieren wir herum. 

Das ganze Dorf ist von Kanälen durchzogen, auf denen alte Boote herumstehen, das Venedig der Ukraine genannt, sehr schön, weniger Venedig geht kaum. Wir haben keinen vernünftigen Überblick über den Ort, finden nicht heraus, wo es an die Dorfgrenze geht um einen Zeltplatz zu finden und ob wir eigentlich in der Nähe des Meeres sind. Wir fragen uns bei den Leuten durch, die erste Person die wir ansprechen ist eine völlig betrunkene Frau, die uns in mehrere Richtungen auf einmal schickt. Danach sprechen wir einen alten Mann von hinten an, der dadurch ins Wanken gerät und gegen eine Mauer knallt, auch er scheint bummzu zu sein und als wir noch eine dritte Person fragen, beginnt der Mann, uns zu begleiten und erzählt uns unaufhörlich Dinge in gelalltem ukrainisch ohne auf Reaktionen wert zulegen, er scheint sich schon wichtige Gehirnteile weg gesoffen zu haben, geht wild gestikulierend mit uns herum und pflückt uns unreifes Obst von den Bäumen, als Geschenk. Als irgendwann seine Stimmung umschlägt und er uns anscheinend beschimpft und mit Prügeln droht, lassen wir unsern neuen Freund lieber irgendwo stehen. Fast jeder Mann, der uns begegnet, hat die groben Züge schwerer Langzeitalkoholiker oder ist offensichtlich blunznfett.

Vor einem Geschäft sitzt eine alte Frau auf den Stufen, trink Wodka, sie trägt zerrissene Socken und ruft uns auf Englisch zu. Der gesamte Ort scheint im Dauerrausch zu sein, von 10 unterschiedlichen Leuten, die wir angesprochen haben, waren 9 offensichtlich besoffen. Außer Betrunkenen ist das Straßenbild vor allem durch vorbeitapsende herzerweichend liebe Welpen und Katzen geprägt. Eigentlich könnte es auch das Paradies sein: Den ganzen Tag saufen und Babyhunde streicheln, trotzdem hat es eher etwas zombiehaftes.

Wir kommen an das Gelände von Pelikantours, eine Tourismusagentur am Ortsrand, sie haben ein überraschend modernes Gelände mit Miethütten, Grillplätzen, Booten und Campingplatz direkt an der Donau, englischsprachigen Rezeptionisten und wir beschließen dort für ein paar Euro zu zelten. Ich hatte irgendwie einen offenen Blick auf die Landschaft des Donaudeltas erwartet, aber man sieht eigentlich nur die Donau und alles ist zugewachsen mit Auwäldern, um Vögel und das Meer zu sehen, muss man Bootstouren mieten, die teuer sind und die man am Vortag bestellen muss. Trotzdem ist es schön und ruhig, überraschend viele Leute scheinen an diesen abgelegenen Ort zu fahren, viele teure Autos stehen herum und es gibt auch eine große Diskothek. 

Wir spazieren, die Luft ist tropisch, alles ist so sumpfig, schwül, wir lernen noch ein paar Alkis kennen, streicheln Babyhunde und Katzen, essen in einem Restaurant und setzen uns auf die Heurigenbänke vor einem Lebensmittelgeschäft, um Bier zu trinken. Ein fetter Geländewagen bleibt stehen, ein Typ steigt aus und lässt während seines Aufenthalts im Geschäft eine halbe Stunde russischen Metall ohrenbetäubend laut durch das ruhige Örtchen laufen. Ein paar Bankreihen vor uns sitzt auch ein bäriger Typ, der wie ein westeuropäischer Tourist wirkt, Schokolade isst, Wein trinkt und ein Kindle liest, er wirkt sehr interessant und süß. Irgendwann gehen wir nach Hause und holen am Weg noch Plastikflaschenbier, es ist stockfinster und  der Sternenhimmel ist überwältigend, wir sehen überhaupt nur etwas, weil wir die Taschenlampe mithaben und irren für mehr als eine Stunde herum, verlieren völlig die Orientierung und gehen ein paar Mal im Kreis, bis wir irgendwann eher zufällig auf den Campingplatz stoßen. Dort sitzen wir noch ein bisschen, schauen Richtung Fluss, blicken in absolute Schwärze, wie ins Ende der Welt. 

Als ich am nächsten Tag aufwache, sitzt A. schon im Bus nach Uman und ich verbringe noch den halben Tag in Vylkovo, lese, spaziere stundenlang durch die menschenleere Natur bis ich befürchte mich zu verlaufen und gehe irgendwann Richtung Busstation, um nach Odessa zu fahren und A.s Nachricht aus Uman abzuwarten. Die irre Alkoholikerin in den Socken schreit durch die Straße „Goodbye, Stefanie!“ und wachelt desorientiert mit den Armen. Doswidanja, alkoholertränktes Vylkovo.

In den Bus steigt auch der Kindle- lesende Typ vom Vorabend und setzt sich neben mich. Anfangs erfreut, merke ich, dass er von der Nähe gar nicht so süß wirkt wie am Vorabend, es ist ein fünfzigjähriger Schotte, ein bissi grindig, scheiß Kurzsichtigkeit. Wir unterhalten uns. Er hat ein blaues Auge und erzählt, dass er um vier Uhr morgens in Odessa von einem falschen Polizisten dazu angewiesen wurde, in ein Auto zu steigen, das dieser per Telefon herbestellt hatte. Es war niemand auf der Straße und als er sich weigerte einzusteigen, schlug ihn der Typ fast bewusstlos und fuhr weg. Ein typisches Odessaerlebnis. Er meint, er wäre Professor für Bodenkultur, er arbeitet 6 Monate im Jahre und die restlichen 6 Monate reist er. Ich frage, ob er auch Research betreibt, aber er meinte nein, er fährt nur herum, um eine Connection zur Welt zu haben, to see how these people live“ (die Wilden?). Irgendwas an ihm finde ich komisch, irgendetwas ist falsch, er wirkt auf mich überhaupt nicht wie ein Akademiker, schon gar nicht wie ein Uniprofessor, alles, was er übers Reisen erzählt, erscheint mir eher oberflächlich und mit wenig Wissenshintergrund. Er sagt „I think i ve been in (aufgesetzte Nachdenkpause) 62 Countries so far.“ (You think?) Diese permanent Weltreisenden in Zeiten von Hostelkultur und Billigflügen, die völlig wahllos Land nach Land abklappern, ohne produktive, künstlerische, intellektuelle oder sportliche Hintergründe und diese Tätigkeit mit der Zeit nicht als leeres Konsumieren und hohle Beschäftigungstherapie empfinden, sondern gar erwarten, dass man sie für Erleuchtete hält, sind mir zum Großteil suspekt. Er erzählt, dass er als nächstes nach Belarus oder nach Bolivien möchte und fügt stolz hinzu „maybe ill teach english, to give something back.“ Er schwitzt und stellt mir Fragen über Österreich und Wien, auf eine eigenartig überhebliche Art, so als wäre Österreich ein unerforschtes Naturvolk in den Tiefen des Urwalds und als müsse er die Fragen für mich ganz betont einfach formulieren. Ich bleibe freundlich und aufmerksam, möchte ihn aber die ganze Zeit schütteln, bis er Kopfweh hat, frage ihn, ob er manchmal nicht „tired of travelling“ wird und er sagt „somtimes you sit in a hostel and you get the travellers blues, but then you take a look outside the window, you see all these colors and you know why your alive.“ Ich zweifle. Ab diesem Zeitpunkt realisiere ich, dass in der Trinkflasche an der er ununterbrochen nippt, nicht Wasser, sondern Rotwein ist, den er schon die ganze Zeit in seinem Rucksack heimlich aber immer ungeschickter nachfüllt und mir wird endlich klar, warum ich so ein komisches Gefühl hatte, er ist total betrunken, ein Alkoholiker auf der Flucht vor sich selbst, gehüllt in den Mantel eines freigeistigen Weltreisenden, jetzt mach alles Sinn.

In Odessa miete ich mir wieder im selben Hostel ein Zimmer und trinke Bier mit ein paar Deutschen. Sie sind Münchner Wirtschaftsmathematiker, Finanzberater, Informatiker, aber es ist überraschend lustig mit ihnen. Als alle Richtung Arcadia Beach aufbrechen, gehe ich noch alleine in eine alternative Kellerkneipe in der Nähe, lerne eine Ukrainerin und eine Runde Türken auf Urlaub kennen, trinke zuviel und irre irgendwann zurück ins Hostel. Eine Nachricht von A. habe ich noch nicht bekommen und so verbringe ich auch den nächsten Tag in Odessa, gehe spazieren, lieg am Strand herum, laufe zufällig wieder den Deutschen über den Weg und wir verbringen wieder den Abend miteinander. Während wir abends durch die Innenstadt spazieren, hören wir plötzlich das laute Quietschen von Autoreifen. Ein Typ mit einem Sportwagen rast mit 200 kmh an uns vorbei, macht U-Turns mitten in den Straßen der Innenstadt, fährt rasend gegen die Einbahn und schneidet die andern Autos. Es ist laut wie auf einer Rennstrecke, eine komplett wahnsinnige, fahrlässige Amokfahrt, immer wenn er wieder umgekehrt, quietschende Kurven reißt und in unsere Nähe kommt, weichen wir panisch so weit wie möglich von der Straße zurück. Irgendwann bleibt er abrupt stehen und ein Typ im Anzug mit Sonnenbrille und seine Modelfreundin steigen aus, spazieren los als wäre nichts gewesen, erkaufte Narrenfreiheit.