Die Polizeiforscher Tobias Singelnstein und Benjamin Derin haben ein Buch über die deutsche Polizei geschrieben namens Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Darin sprechen sie Themen an, die Polizistinnen und Polizisten weh tun dürften: Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt.
VICE: Wer Ihr Buch liest, lernt: Die Polizei ist rassistisch, sexistisch, homophob und frauenfeindlich – zumindest in Teilen. Wie groß ist das Problem?
Tobias Singelnstein: Das ist schwierig zu erforschen. Denn es ist nicht leicht, Zugang zum Forschungsfeld Polizei zu bekommen. In Deutschland diskutieren wir zugespitzt formuliert, ob solche Einstellungen in der Polizei genauso häufig vorkommen wie in der Gesellschaft insgesamt oder ob sie dort stärker ausgeprägt sind.
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Sind diskriminierende Einstellungen in der Polizei denn stärker ausgeprägt?
Singelnstein: Es fehlen aktuelle Untersuchungen, um das zu beantworten. Eine neuere Studie aus Nordrhein-Westfalen zeigt: Bei Polizeianwärtern scheinen bestimmte rassistische Einstellungen etwa so verbreitet zu sein wie in der Gesellschaft insgesamt. Aber das ist eben nur ein Ausschnitt. Man kann das nicht ohne Weiteres verallgemeinern.
Benjamin Derin: Diskriminierung muss nicht unbedingt gezielte Herabwürdigung sein. Polizisten sagen nicht notwendigerweise: Ich bin ein Rassist und ich will diskriminieren. Stattdessen spielt das Unbewusste eine große Rolle. Es ist schlicht Teil der polizeilichen Praxis, Personen aufgrund ihres Aussehens anders zu behandeln.
In Ihrem Buch nennen Sie ein Beispiel dafür: Weiße Jugendliche auf einer Parkbank nimmt die Polizei als Studierende oder Touristen wahr. Schwarze Jugendliche auf einer Parkbank nimmt die Polizei als Drogenverkäufer wahr. Schwarze werden kontrolliert, Weiße nicht. Das ist Racial Profiling. In der polizeilichen Praxis vermischen sich die Kategorien “Schwarz” und “tatverdächtig”. Wie passiert das?
Derin: Hier spielt polizeiliches Erfahrungswissen eine große Rolle: Wer zum Beispiel nur Schwarze Menschen kontrolliert, kann nur Schwarze Tatverdächtige finden. Das Wissen scheint sich zu bestätigen. Es wird an die nächste Generation von Polizisten weitergegeben.
Singelnstein: Zur Aufgabe der Polizei gehört es schon immer, jene im Blick zu haben, die als fremd gelesen werden und einen Widerspruch zur sozialen Ordnung darstellen. Über Jahrzehnte hat sich so Wissen über bestimmte gesellschaftliche Gruppen aufgebaut. Unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von Fremdheit und Vielfalt haben sich inzwischen stark geändert. Es dauert, bis das in der Polizei ankommt.
“Ich mache mir keine Illusionen darüber, was bestimmte Teile der Polizei über unsere Arbeit denken.”
Sie erwähnen auch ein Lehrbuch des Verlags für Polizeiwissenschaft namens Türken und Araber verstehen und vernehmen.
Derin: Allein am Namen des Buches sieht man unzählige Dinge: etwa die Annahme, die meisten Polizisten seien keine Türken oder Araber, hätten allerdings oft mit jenen zu tun. Es impliziert, dass es grundsätzliche kulturelle Unterschiede gebe und das Probleme schaffe. Würde man wohlwollend rangehen, könnte man das als einen Versuch framen, interkulturelle Kompetenz zu schaffen: Es geht darum, sich kultureller Unterschiede bewusst zu werden und darüber zu lernen.
Weniger wohlwollend würde man das als Rassismus bezeichnen.
Derin: Das kann gut sein. Es läuft darauf hinaus, dass die Polizei einen bestimmten Teil der Gesellschaft repräsentiert, aber mit einem anderen Teil viel zu tun hat. Da werden Kategorien und Schablonen aufgemacht. Natürlich kann es nicht der Anspruch sein, dass angehende Polizisten so lernen, wie “alle Araber und Türken” sind.
Singelnstein: Das Buch ist schon ein krasseres Beispiel. Es zeigt nicht den Durchschnitt.
Das Lehrbuch bewirbt der Verlag für Polizeiwissenschaft so: “Dem an einer schnellen und protokollfähigen Klärung des Sachverhaltes orientierten, klar und präzise fragenden deutschen Polizeibeamten sitzt eine Person gegenüber, die lebhaft gestikulierend, weit ausholend und ausweichend reagiert, vielleicht zur ‘Verstärkung’ Familienmitglieder mitgebracht hat und sein Gegenüber möglicherweise sogar scheinbar respektlos mit ‘Du’ anspricht.” Wie kann es sein, dass solche Klischees in Lehrbüchern gelangen?
Derin: Solche Schablonen führen zu mehr Problemen als sie lösen. Wo Gruppen konstruiert und Menschen rassifiziert werden, führt das auch zu einer bestimmten Wahrnehmung und Deutung sozialer Wirklichkeit. Diese Deutung beeinflusst wiederum das Handeln, sodass sich unbewusst eine diskriminierende Wirkung entfalten kann.
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Wer die Polizei wegen solcher Diskriminierung kritisiert, hat es schwer. Sie schreiben selbst: “Wer Fehlentwicklungen anspricht […], wird schnell zur Polizeihasserin erklärt.” Haben sie Angst mit dem Buch nun als Polizeihasser dazustehen?
Singelnstein: Ich mache mir keine Illusionen darüber, was bestimmte Teile der Polizei über unsere Arbeit denken. In den vergangenen Jahren haben wir viel über Gewalt, Rassismus, Diskriminierung, Rechtsextremismus in der Polizei geforscht. Das sind schwierige Themen für die Polizei. Unser Buch ist auch ein Diskussionsangebot. Auf unsere Forschung haben wir bisher ein gemischtes Feedback bekommen: Manche wollen nicht mit uns reden, andere sind sehr dankbar, weil wir Probleme auch für die Polizei besprechbar machen.
Warum reagiert die Polizei so empfindlich auf Kritik?
Singelnstein: Die Polizei hat von sich selbst das Bild, grundsätzlich richtig zu handeln. Sie sehen sich als die Guten. Probleme werden in der Regel als Einzelfälle betrachtet. Politikerinnen und Politiker haben diese Deutung lange übernommen.
“Für polizeiliches Fehlverhalten drohen oft kaum Konsequenzen.”
Politikerinnen sind noch immer zurückhaltend mit Kritik an der Polizei. Warum?
Derin: Aus der politischen Führung gibt es wenig Interesse laut zu sagen: Hier läuft was schief. Das fällt ja negativ auf die Politik zurück, etwa auf die Innenministerien.
Singelnstein: Die Verbindung zwischen Politik und Polizei ist eng: Die Politik ist auf die Polizei angewiesen. Der politische Spielraum, die Polizei zu ändern, zu entwickeln oder zu kritisieren ist begrenzt.
Wer als Politikerin die Polizei kritisiert, begibt sich schnell in ein Minenfeld. Der SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken ist das zuletzt passiert: Im Kontext der Black-Lives-Matter-Demonstrationen sagte sie, in der Polizei gebe es latenten Rassismus. Inhaltlich völlig zutreffend. Aber sie geriet in einen Shitstorm und wurde auch parteiintern kritisiert. Da sieht man: Die Polizei ist eine mächtige Organisation.
Rassismus ist ein Problem innerhalb der Polizei. Sexismus und Frauenfeindlichkeit ist ein anderes. Sie beschreiben die Polizei auch als “Männerorganisation”. Werden Frauen deswegen eher diskriminiert?
Derin: Es gibt inzwischen etwa 30 Prozent Frauen in der deutschen Polizei. Dort existiert ein bestimmtes Bild von Männlichkeit, das eng mit dem eigenen Berufsbild verknüpft ist. Ein Polizist muss demnach Gefahren abwehren, Verbrecher fangen und kämpfen. Das gehört erstmal zu seinen Aufgaben, zeichnet aber ein altmodisches, mitunter problematisches Bild von Männlichkeit.
Sie erwähnen eine polizeiliche Pressemitteilung eines sexuellen Übergriffs. Dort heißt es: “Magisch von den ebenmäßigen Formen einer 25-Jährigen angezogen, griff [der Tatverdächtige] ihr […] an die Brust […].” Wie kann es passieren, dass eine Straftat nicht nur bagatellisiert wird, sondern das auch stolz in die Öffentlichkeit getragen wird?
Derin: Das zeigt eindrücklich, dass sich in diesem Fall offenbar eine Kultur etabliert hatte, in der solche Äußerungen normal sind. Da ist die Verknüpfung zur Gesellschaft ein Stück weit abhandengekommen. Das liegt auch an der mangelnden Fehlerkultur.
Singelnstein: Da sind wir wieder beim polizeilichen Selbstbild: Hier wäre es nötig, sich selbst zu reflektieren und anzuerkennen, dass man was ändern muss.
Derin: Und das ist nicht nur auf Sexismus beschränkt: Für polizeiliches Fehlverhalten drohen oft kaum Konsequenzen. Hier bräuchten wir eine bessere Kontrolle von außen.
Aber Diskussionen über externe Kontrolle oder Polizeibeauftragte werden in Deutschland nur in Nischen geführt …
Derin: Dabei wäre es ein gutes Instrument, um Diskriminierung entgegenzuwirken. Betroffene hätten die Möglichkeit, sich woanders zu beschweren als bei der Polizei selbst. Das könnte einen Wandel begünstigen in einer Kultur, in der Polizisten ihr Fehlverhalten noch zu oft gegenseitig decken.
Einen weiteren Ansatz, den Sie im Buch beschreiben, sind sogenannte Kontrollquittungen. In Bremen und Berlin werden sie gerade eingeführt: Immer, wenn Beamte einen Menschen kontrolliert haben, müssen sie eine Quittung ausfüllen. Die kontrollierte Person bekommt eine Kopie davon. Wie hilft das?
Singelnstein: Es könnte Racial Profiling entgegenwirken. Erstens reflektieren die Beamten beim Aufschreiben. Zweitens können Betroffene diese Quittungen sammeln und dann dokumentieren, wie oft sie kontrolliert werden.
Derin: So haben Betroffene etwas Schriftliches. Das Ziel ist es, diskriminierendes Verhalten ins Licht zu zerren.
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