Menschen

Immer mehr junge Menschen verzichten freiwillig auf Sex

"Jetzt will ich nur noch mit einem Mann zusammen sein, dem ich vertraue und der mich respektiert und verehrt." – Kero, 24
Daisy Jones
London, GB
Zwei junge Frauen und ein junger Mann rauchen und trinken auf einer Hausparty; immer mehr junge Menschen verzichten freiwillig auf Sex, wir haben bei der Generation Z nachgefragt, was es mit dieser Enthaltsamkeit auf sich hat
Symbolfoto: Sian Bradley

In den wilden 2000er Jahren waren Porno-Heftchen noch überall. Wenn du deine Jungfräulichkeit nicht bis zu einem bestimmten Alter verloren hast, wurdest du als Loser abgestempelt. Danach ging es nur noch darum, wie viel Sex du hattest – und mit wem. Alle schienen ausschließlich an Geschlechtsverkehr zu denken.

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Über zehn Jahre später scheinen sich die Einstellungen und das Verhalten beim Thema Sex stark verändert zu haben – vor allem bei der Generation Z. Bei einer im Januar veröffentlichten Studie der Rutgers University und der University at Albany kam heraus: Junge US-amerikanische Erwachsene zwischen 18 und 23 haben weniger Sex außerhalb von festen Beziehungen als noch vor zehn Jahren.

Im Jahr 2019 ergab eine landesweite Umfrage des australischen Fernsehsenders ABC, dass 40 Prozent der Menschen zwischen 18 und 24 noch nie Sex hatten. Und Forscherinnen des University College London haben 2019 herausgefunden, dass bei den 14-Jährigen Briten nicht mal eine von 30 Personen schon Sex hatte, Oralsex eingeschlossen. 

Das ist bedeutend weniger als bei den Menschen, die in den 80er und 90er Jahren geboren wurden: Von denen gaben 30 Prozent an, schon vor dem 16. Lebensjahr mit jemandem geschlafen zu haben.

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Trotz einer Welle an aufgeregten Schlagzeilen über das offenbar nicht-existente Sexleben der Generation Z wissen wir natürlich, dass junge Menschen Sex haben. Aber was genau bewegt die anderen jungen Menschen, die wirklich keinen Sex wollen?

Die 24 Jahre alte Kero* aus London sagt, dass sie vor drei Jahren aufgrund von fehlendem Selbstvertrauen entschieden habe, keinen Sex mehr zu haben. "Ich war einfach nicht mehr selbstsicher genug, um mit irgendjemandem anzubandeln", erklärt sie. Seit Kurzem denke sie darüber nach, ihre Enthaltsamkeit wieder aufzugeben – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. "Ich habe meine Unsicherheiten von damals überwunden. Jetzt will ich nur noch mit einem Mann zusammen sein, dem ich vertraue und der mich respektiert und verehrt."

Die 20-jährige Lucy* sagt: "Ich habe mich für ein Leben ohne Sex entschieden, weil ich in dem ganzen Chaos drumherum die Orientierung verlor und nicht mehr so viel für mich selbst gemacht habe, wie ich es eigentlich wollte." Damit ist sie nicht alleine.

"Ich entschied mich dazu, ein Jahr lang mit niemandem zu schlafen", sagt der 21-jährige Drew*, "denn ich wollte meine zeichnerischen Fähigkeiten verbessern. Da lenkten mich das Flirten mit Frauen und Liebeskummer nur ab. Ich habe das also für mich getan."

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"Ich denke, Sex ist ein bisschen wie Schnaps: Früher war Exzess da irgendwie cool."

Die meisten jungen Menschen, mit denen wir für diesen Artikel gesprochen haben, glauben nicht, dass sexuelle Enthaltsamkeit in ihrer Generation geläufiger ist als in anderen. Einige spekulieren aber, dass die Generation Z dafür offener sein könnte, denn Dinge wie Einvernehmlichkeit, körperliche Selbstbestimmung und verschiedene sexuelle Identitäten sind für sie inzwischen selbstverständlich.

"Da Asexualität immer mehr im kollektiven Bewusstsein ankommt, glaube ich, dass der bewusste Verzicht auf Sex ebenfalls immer mehr akzeptiert wird. Geschlechtsverkehr ist kein Muss mehr", sagt die 21-jährige Charlie*.

Lucy schlägt in eine ähnliche Kerbe: "Viele von uns denken genauer darüber nach, ob sie überhaupt intim werden wollen. Und manchmal wollen wir das nicht", sagt sie.

"Ich glaube, das Ganze findet heute mehr Akzeptanz", fügt die 22-jährige Ash hinzu. Als sie 20 war, wollte sie nach einem sexuellen Übergriff keinen Sex mehr haben. "Ich konnte ohne Probleme mit meinen Freundinnen und Freunden darüber reden, die verstanden das total."

Tatsächlich scheint es innerhalb der Generation Z nichts Peinliches zu sein, dem Sex abzuschwören. Wenn man  bei TikTok durch den Enthaltsamkeits-Hashtag #celibacy scrollt, werden Hunderte Videos angezeigt. Viele davon sind aufmunternde Clips von jungen Menschen, die über die Vorteile der sexuellen Enthaltsamkeit reden. "Fünf Wege, in der Enthaltsamkeit mit sexuellem Verlangen umzugehen" steht in einem der Videos, dann folgen Tipps wie "Halte dich nicht zu lange damit auf" oder "Selbstbefriedigung ist OK".

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Chloe Combi hat das Buch Generation Z: Their Voices, Their Lives geschrieben. Sie glaubt, dass junge Leute nicht länger mit Sex angeben wollen. Das erklärt vielleicht, warum so viele ganz offen sexuelle Enthaltsamkeit ausprobieren.

"Ich denke, Sex ist ein bisschen wie Schnaps: Früher war Exzess da irgendwie cool", erklärt Combi. "Da wir aber immer spartanischer werden und Exzesse nicht mehr brauchen, verschiebt sich die Auffassung der Generation Z beim Thema Sex dahin, dass es sehr respektabel ist, nein zu sagen – egal ob aus persönlichen oder anderen Gründen wie Spiritualität."

Combi sagt, dass junge Menschen unterschiedliche sexuelle Einstellungen akzeptieren. "Sie haben bei diesem Thema keine Schubladen mehr", sagt sie. "Wenn es darum geht, wie sexuell sie sind oder mit wem sie schlafen, machen sie sich keinen Kopf mehr."

Natürlich ist es unmöglich, allgemeingültige Statements über eine gesamte Generation zu machen. Viele junge Menschen haben Sex, viele andere entscheiden sich bewusst dagegen. So ist es schon immer gewesen. Aber in den den 2000ern hätte man sicher viele komische Blicke bekommen, wenn man sich als Teenager öffentlich zur sexuellen Enthaltsamkeit bekannt hätte. Da ist es doch umso schöner, dass so viele junge Leute heutzutage ganz selbstsicher entscheiden, was sie mit ihren Körpern machen wollen und was nicht.

"Enthaltsamkeit ist nichts, für das man sich schämen muss", sagt Drew. "Sie zeigt eher, dass man sich eigene Gedanken darüber macht, in was man seine Zeit und Energie investiert." Kero stimmt dem zu: "Ich habe viel durchgemacht. Und ich verdiene es, geliebt zu werden."

*Name geändert, weil die Person anonym bleiben will

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