Politik

Die Französische Revolution haben wir vielleicht dem Alkohol zu verdanken

Laut einem neuen Buch hatte das Volk ordentlich Sprit getankt, bevor es die Bastille stürmte.
Alexis Ferenczi
Paris, FR
Ein Gemälde vom Sturm auf die Bastille, Psychologe Michel Craplet sagt, dass es ohne Alkohol vielleicht keine Revolution gegeben hätte.
Bild: "Der Sturm auf die Bastille" von Jean-Pierre Houël (1789) | Französische Nationalbibliothek | gemeinfrei

Michel Craplet ist ein bisschen wie der nervige Junge aus The Sixth Sense – nur, dass er statt toten Menschen überall besoffene sieht. Craplet ist Psychologe und Alkohologe. Alkohologie ist nicht das, was du jedes Wochenende bis zur Selbstaufgabe studierst, sondern ein seriöses Teilgebiet der Medizin, das in den 1960ern vom französischen Arzt Pierre Fouquet entwickelt wurde. Dieser wollte damit die medizinischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen des Alkoholkonsums untersuchen. Alkohologinnen und Alkohologen forschen aber nicht nur, viele behandeln auch Alkoholabhängigkeit – so wie Craplet. Neben seiner Arbeit mit Patienten war er außerdem Vorsitzender von Eurocare, einer europäischen NGO für Alkoholismusprävention.

Anzeige

"Ich bin der Meinung, dass man Menschen nur dabei helfen kann, mit dem Trinken aufzuhören, wenn man die Rolle des Alkohols in unserer Gesellschaft versteht", sagt Craplet am Telefon. "Und das betrifft auch unsere Geschichte." Aus diesem Grund hat sich der Psychiater in die Archive der Französischen Revolution gestürzt und nach Hinweisen auf Alkoholkonsum durchforstet. In seinem neuen Buch L'ivresse de la Révolution – Histoire secrète de l'alcool 1789-1794, auf Deutsch etwa "Der Rausch der Revolution – Geheime Geschichte des Alkohol von 1789-1794", das bislang nur auf Französisch erschienen ist, beschäftigt er sich mit der Rolle des Alkohols während der sozialen und politischen Umwälzungen im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts. 


Auch von VICE: Warum die deutsche Drogenpolitik so eine Katastrophe ist


"Die Archivare haben sich über mein Forschungsthema gewundert", sagt Craplet. "Trotzdem bin ich auf eine Vielzahl von Dokumenten und Bildern gestoßen, die etwas mit Alkohol zu tun haben."

Wird die Französische Revolution im Geschichtsunterricht behandelt, geht es um Armut, Staatsverschuldung, manchmal auch um Brot, aber selten um die Trinkgewohnheiten jener Zeit. "Über verschiedene Perioden und Ideologien hinweg haben Historiker wie Taine, der ein französischer Denker des 19. Jahrhunderts war, über die allgemeine Trunkenheit der revolutionären Massen gesprochen", sagt Craplet. "Aber viele andere fühlten sich nicht wohl dabei und haben das Thema ignoriert." 

Anzeige

Craplet hat Erzählungen darüber zusammengetragen, wie der Alkohol während einiger ausschlaggebender Pariser Unruhen, die am 11. und 12. Juli 1789 die Revolution einleiteten, nur so aus den Fässern floss. Er sagt, er habe in seinem Buch auch Plünderungen von Weinkellern und mehrere improvisierte revolutionäre Gelage belegt sowie den Umstand, dass die Sauferei seiner Leibgarde die Flucht von Ludwig XVI. 1791 aus Paris verzögert haben könnte.

Im 18. Jahrhundert war die Alkoholherstellung noch nicht industrialisiert. Die einfachen Leute tranken also nur zu besonderen Anlässen in Tavernen und Gasthöfen, die ihre eigenen Getränke brauten. Laut Craplet sympathisierten allerdings viele Tavernenbesitzer mit den Revolutionären und ließen sie aufs Haus trinken und essen. Ein Teil des Alkohols, der bei den Revolutionsfeiern getrunken wurde, war gestohlen, ein anderer Teil wurde von Aristokraten gespendet, die versuchten, sich auf diese Weise die Sympathie der Massen zu sichern – und ihre Köpfe zu retten.

"Man muss schon eine gewisse Obsession mit Alkohol haben, um sie zu bemerken – was in meinem Fall definitiv zutrifft." – Michel Craplet

Craplet sagt, die plötzliche Verfügbarkeit von Alkohol, gepaart mit wachsender Unzufriedenheit verwandelte normale Menschen in blutrünstige Rebellen. Im September 1792 zum Beispiel exekutierte ein wütender Mob in Paris über einen Zeitraum von vier Tagen um die 1.600 Gefangene. Craplet sagt: "Die Septembermörder waren keine Monster. Sie waren einfach Mitglieder des Kleinbürgertums, die von der enthemmenden und betäubenden Wirkung des Alkohols ermutigt wurden." Er geht sogar so weit zu spekulieren, dass der legendäre Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 ohne die alkoholgeladenen Feiern der vorangegangenen Tage vielleicht gar nicht möglich gewesen wäre.

Anzeige

Laut Craplet wurden Alkoholdarstellungen auf Bildern des späten 18. Jahrhunderts in nachfolgenden Kopien oftmals zensiert. Selbst Expertinnen und Experten, die diese Bilder gut kennen, seien erstaunt darüber gewesen, wie viele Details aus den Originalen fehlten. "Man muss schon eine gewisse Obsession mit Alkohol haben, um sie zu bemerken – was in meinem Fall definitiv zutrifft", sagt Craplet.

Als Beispiel für die Suffzensur jener Zeit führt Craplet eine Illustration von 1761 an, die die berühmte Taverne Ramponeau zeigt. Das Lokal an den ländlichen Ausläufern von Paris war bei den Einheimischen sehr beliebt. "In der unteren rechten Ecke des Bildes sieht man einen Mann kotzen", sagt Craplet. "Es ist ein wunderschöner Schwall. Die meisten Reproduktionen lassen dieses Detail aus."

Ein Bild einer tumultigen Tavernenszene mit trinkenden, tanzenden und kotzenden Menschen

Die Ramponeau Taverne | BILD: HISTORIC IMAGES / ALAMY STOCK PHOTO

Kurz nach der Flucht von Ludwig XVI. aus Paris stellten Karikaturisten ihn gerne als verfressen und versoffen dar. Craplet sagt, dass dieses Bild vom König jedoch schnell wieder fallengelassen wurde. "Historiker der Ersten Französischen Republik wagten es nicht zu sagen, dass Ludwig XVI. gerne getrunken hat – beinahe, als wollten sie einen gewissen Respekt vor ihm bewahren", sagt der Alkohologe. "Es ist überraschend, dass sie weitaus weniger zurückhaltend waren, was Gerüchte über Marie Antoinette als, sagen wir, launische Gemahlin anging."

"Für mich ist Alkohol das wahre Opium des Volkes." – Michel Craplet

Anzeige

In einem seiner früheren Bücher hat Craplet darüber geschrieben, wie die Mächtigen Alkohol im Laufe der Geschichte immer wieder verwendeten, um "den Druck der Herrschaft auf die Armen, Kleinen und Kolonisierten zu lindern". Europäische Siedler zum Beispiel verwendeten hochprozentigen Alkohol bei den Verhandlungen mit der indigenen Bevölkerung Amerikas – die sie anschließend für die entwickelte Alkoholsucht dämonisierten. "Für mich ist Alkohol das wahre Opium des Volkes", sagt Craplet.

Aber auch wenn er sich zur Manipulation eignet, kann das Wechselspiel zwischen Hochprozentigem und wütenden Menschenmassen für die Eliten zum schlimmsten Albtraum werden, wie es laut Craplet bei der Französischen Revolution der Fall gewesen war. Der Psychologe sagt, dass Napoleon III., Frankreichs letzter Monarch, Schankbetriebe streng kontrollierte, da er ihnen das Potenzial sah, "Brutstätten für Unruhen und Verschwörungen" zu werden. 

Jetzt, da alle Bars und Cafés geschlossen sind, haben Craplet und andere Alkohologen in Frankreich eine Korrelation zwischen dem Trinken zu Hause und dem Anstieg von häuslicher Gewalt beobachtet. "Der französische Autor Alphonse Allais hat einmal gesagt, der Himmel sei eine unendliche Café-Terrasse", erklärt Craplet. "Das ist ein bisschen utopisch, aber ich verstehe das Bedürfnis der Menschen, diese verlorenen Orte der Geselligkeit und menschlichen Wärme zurückzugewinnen."

Folge VICE auf Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.