Vaginismus: Wenn die Schmerzen beim Sex unerträglich werden

Wenn Frauen beim Sex Schmerzen haben, werden sie mit ihren Beschwerden oft nicht ernst genommen. Das erste Mal gilt im Volksmund fälschlicherweise allgemein als „schmerzhaft”; kommt es immer wieder zu Schmerzen bei der Penetration, wird Betroffenen gerne nahegelegt, sich doch einfach mehr zu entspannen oder auf ein ausführlicheres Vorspiel Wert zu legen. Ganz so einfach ist es aber für viele eben nicht.

Vaginismus, eine unwillkürliche Verkrampfung der Vagina und des gesamten Beckenbodens, macht Geschlechtsverkehr nicht nur extrem schmerzhaft, sondern oft sogar das Einführen eines Tampons unmöglich. Vaginismus gehört—wie auch Impotenz—zu den offiziellen sexuellen Funktionsstörungen. Betroffene beschreiben es als ein Stechen, Engegefühl und Brennen. Viele von ihnen leben in jahrelanger Enthaltsamkeit in einem ständig andauernden Konflikt zwischen Wollen und Nicht-Können. Wie viele Frauen wirklich unter Vaginismus leiden, ist bisher unbekannt. In medizinischen Stichproben hielt sich die Verbreitung über Jahrzehnte hinweg bei zehn bis 15 Prozent der untersuchten Frauen.

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Lina war eine von ihnen. Sieben Jahre litt die heute 29-Jährige unter Vaginismus und fühlte sich mit ihrem Problem ziemlich alleine gelassen. „Die wenigsten Frauen wissen, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind”, sagt sie gegenüber Broadly. „Auch ich habe damals geglaubt, ich sei die einzige Frau auf der Welt, die diese Schmerzen hat”.

Statt weiter auf ein „Wundermittel” zu hoffen, beginnt Lina, sich intensiv mit der sexuellen Funktionsstörung auseinanderzusetzen. Mittlerweile ruft sie auf ihrer Webseite zur besseren Aufklärung auf und macht Betroffene in kostenpflichtigen Online-Kursen mit den verschiedenen Behandlungsmethoden vertraut. In ihrem Online-Trainingsprogramm wird alle drei Tage automatisch eine ‚Lektion’ freigeschaltet—von grundlegenden Informationen, zu Entspannungshilfen, Dilatoren-Training [Stäbe geringen Durchmessers, mit denen die Vagina an das Eindringen von Fremdkörpern gewöhnt werden kann] und schließlich Partnerübungen.

Viele meiner Patientinnen fühlen sich nicht als echte Frau.

Ihr primäres Ziel ist die Unterstützung und Aufklärung. Das habe sie selbst als Betroffene am meisten vermisst, so die 29-Jährige. Die meisten Frauen wüssten nicht, was Vaginismus überhaupt bedeutet, wie man ihn behandeln kann und welche Stellungen in der Anfangsphase am angenehmsten sind, erzählt Lina: „Es macht mich immer noch wütend, dass die meisten Gynäkologen sich dem Thema nicht öffnen und sich nicht weiterbilden. Ein Arzt sprach mal von Phantomschmerz. Da wird man doch verrückt! Und ein anderer sagte mir mal, ich solle mich doch einfach entspannen—während ich bei der gynäkologischen Untersuchung vor Schmerz fast in Tränen ausgebrochen wäre. Ich war das letzte Mal bei ihm.”

Ihre Erfahrungen werden ihr von den Frauen bestätigt, die sich hilfesuchend an sie wenden. „Betroffene, die mit mir Kontakt aufnehmen, schreiben mir immer dasselbe: Sie werden belächelt, sie werden nicht ernst genommen.”

Auch die Osteopathin und Physiotherapeutin Christine Horn macht das Unwissen und die Inakzeptanz der Gesellschaft dafür verantwortlich, dass manche Frauen so lange warten, bis sie Hilfe suchen. „Eine meiner Patientinnen erlitt nach ihrer Entbindung eine Dislokation des Steißbeins. Die Schmerzen beim Sex waren Folge eines einfachen, anatomischen Leidens und trotzdem hat sie über zwei Jahre lang gelitten bevor sie mich aufsuchte”, erzählt sie. Viele Frauen hätten nach wie vor einen sehr schamerfüllten Zugang zu Sex. Sie empfange viele Patientinnen, die sich ihr Leben lang nicht mit ihrem Geschlecht bekannt gemacht haben. „Die meisten von ihnen haben sich noch nicht einmal richtig angeschaut”, erklärt Horn. „Die wissen überhaupt nicht, was da unten los ist”.

Der erste Schritt der osteopathischen Behandlung in ihrer Praxis sei deshalb zunächst eine sogenannte körperliche Wahrnehmungsschulung, bei der die Frauen ihren Körper erkunden und verstehen lernen sollen. Nur so könne man eine sexuelle Identität zu entwickeln und die tiefen Selbstzweifel überkommen, die Vaginismus vor allem bei jüngeren Frauen oft auslöst.

„Viele meiner Patientinnen fühlen sich nicht als echte Frau”, bestätigt auch Beatrice Wagner, Sexualtherapeutin aus München. Vaginismus hat laut ihr einen ähnlichen Effekt auf Frauen, wie ihn Impotenz auf Männer hat. Zusätzlich suggeriere ihnen die Gesellschaft, sie seien eben einfach frigide oder lustlos. Lina betont jedoch, dass der Vaginismus sie das Vertrauen ins andere Geschlecht gelehrt hat. Immer wieder sei sie erstaunt darüber, wie verständnisvoll Männer mit dem Problem ihrer Partnerinnen umgehen—das ließe sich zumindest den Zuschriften entnehmen, die sie von anderen Betroffenen bekommt. Lediglich eine einzige Frau habe ihr erzählt , dass ihr Ehemann sie unter Druck setze und ein Ultimatum gestellt hat.

Die Frauen, die zu uns in die Praxis kommen, haben zumeist einen sehr langen Leidensweg über viele Jahre hinter sich. Wir sind die letzte Instanz.

Laut Wagner liegt der Schlüssel zum Erfolg immer in der Kombination aus Psychotherapie und einer weiteren physischen Behandlungsmethode. Dafür müsse als erstes zwischen primärem und sekundärem Vaginismus unterschieden werden. „Die Primärform besteht, wenn eine Frau bereits während der Pubertät, vor dem ersten sexuellen Kontakt, Probleme hatte. Unter der Sekundärform leiden Frauen, die bereits Geschlechtsverkehr hatten und bei denen nach einer Operation, Geburt oder einer belastenden Partnerbeziehung die Krämpfe plötzlich auftreten”. Bei sekundärem Vaginismus würde man in der Folge einen genauen Blick auf die letzten Beziehungen und Jahre werfen. Meist sei eine Art emotionaler Missbrauch der Grund für die Angstreaktion; Sex wird mit negativen Assoziationen belegt.

„Primärer Vaginismus hat seine Wurzeln hingegen oft in traumatischen Kindheitserfahrungen”, sagt sie. Dabei muss es sich allerdings nicht um Misshandlungen handeln, häufiger Grund ist das Aufwachsen in einer „sexuell feindlichen” Atmosphäre: „Viele meiner Patientinnen sind Frauen muslimischen Glaubens. Als junge Frauen leben sie in einem Stadium der absoluten Sexlosigkeit. Sex ist Tabuthema und sündhaft. Mit der Heirat wird dann von ihnen erwartet, diesen Zustand komplett ins Gegenteil zu verkehren. Das führt zu Abwehrreaktionen.”

Die Behandlung des ‚Scheidenkrampfes’ ist ähnlich komplex wie die Gründe dafür, warum er überhaupt auftritt. Beatrice Wagner beispielsweise arbeitet eng mit einer Praxis für plastische Chirurgie in München zusammen. Die verantwortliche Ärztin, Dr. Katrin Lossagk, verwendet dort eine neue Behandlungsmethode mit dem Faltenglätter Botulinum Toxin—besser bekannt unter den Handelsnamen Botox.

Die Injektion entkrampft die betroffene Muskulatur, die Wirkung des Mittels hält rund ein Jahr an. Das Nervengift ist dabei nicht toxisch. „Der Körper hat ein Schmerzgedächtnis”, sagt Lossagk. Sobald sich Sex auch nur anbahnt, löst der Organismus bereits eine Panikreaktion aus. Die Symptome können sich so über die Zeit intensivieren oder chronisch werden. Dieser Teufelskreis müsse einmal unterbrochen werden, sodass die Patientinnen erkennen, dass Sex rein anatomisch möglich ist.

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„Nach einer Woche kann die Patientin beginnen, einen Dilator einzuführen. Und die meisten sind völlig baff, wenn sie merken, dass das plötzlich ohne Hindernis möglich ist”, sagt Lossagk. Sie gibt allerdings zu, dass die Botox-Behandlung ein radikaler Schritt sei, sozusagen der letzte Ausweg. „Die Frauen, die zu uns in die Praxis kommen, haben zumeist einen sehr langen Leidensweg über viele Jahre hinter sich. Wir sind die letzte Instanz.”

Die Physiotherapeutin Horn steht sowohl der Botox- als auch der Dilatorenmethode skeptisch gegenüber. „Das Eindringen ist für die Betroffene bereits eine negative, oft qualvolle Erfahrung. Ich bin mir nicht sicher, wie hilfreich eine unangenehme Behandlung mit kalten Metallstäben da ist.” Der Vorteil bei Botox hingegen sei, dass die Betroffenen so ein halbes Jahr Zeit haben, um negative sexuelle Erfahrungen mit positiven zu belegen.

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Horn führt die Frauen jedoch lieber behutsam an das eigene Geschlecht heran; der Körper werde als Ganzes betrachtet. Beim Beckenbodentraining lernen die Frauen das bewusste An- und Entspannen ihrer Muskulatur, mit Physiotherapie wird der Atem geschult und durch Massage die Durchblutung und Nervenversorgung einzelner Organe stimuliert und energetische Blockaden gelockert. Solch sanfte und ganzheitliche Methoden hält die Therapeutin für erfolgsversprechend.

„Jede Frau und jeder Körper ist anders. Jeder hat eine eigene Herangehensweise”, sagt Lina, die ihre Heilung durch konstantes Training mit Dilatoren gefunden hat. Man brauche Ausdauer und Geduld, um diese körperliche Angstreaktion zu überwinden, erklärt sie. Sieben Jahre lang habe sie selbst in Schmerzen und Abstinenz verbracht, ehe sie aktiv den Heilungsweg antrat. Nach neun Monaten Training mit Dilatoren hatte sie nach eigener Aussage das erste Mal schmerzfreien Sex. Bereits zwei Jahre später wurde sie Mutter. „Aber selbst wenn ich heute noch Vaginismus hätte, wären mein Mann und ich immer noch zusammen. Das halte ich für wahre Liebe”.