“Vater unser, der du bist im Himmel” – Wie Ohrwürmer entstehen und wie man sie wieder los wird

Sie sind nervig, du weißt nicht mehr, wie du dazu gekommen bist und sobald du dich daran gewöhnt hast, ist es wieder vorbei. Ich rede hier nicht von deinen letzten Gspusis, sondern von Ohrwürmern. Für die meisten Leute reicht es schon, wenn sie Titel oder Textpassagen lesen, um von einem Ohrwurm heimgesucht zu werden, der so schnell nicht wieder verschwindet. “Vater unser, der du bist im Himmel“, “Waterloo” oder “We are the Champions” sind Beispiele für Lieder, die sich mit nur wenigen gelesenen Wörtern in unser Gedächtnis einbrennen können.

Schon Sigmund Freud hat sich mit Ohrwürmern beschäftigt. Seine Theorie beinhaltete, dass sie nichts anderes sind als geheime Träume oder Wünsche. Zum Glück war Freuds Theorie nicht haltbar, sonst würden heute noch unzählige Dancing Queens durch die Straßen hüpfen.

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Um zu erfahren, was es mit den Songs, die keiner mehr loswird, auf sich hat und wie man sie am effektivsten bekämpft (bitte bringt keinen Van Gogh), habe ich mich mit Prof. Dr. Christoph Reuter vom Institut für Musikwissenschaft der Uni Wien unterhalten und dabei unter anderem erfahren, was sein persönlicher Dauerohrwurm ist.

So entstehen Ohrwürmer

“Ohrwürmer entstehen häufig bei automatisierten Tätigkeiten, bei denen das Gehirn nicht stark gefordert ist, wie zum Beispiel beim Fahrradfahren, Duschen, Rasieren, Putzen, Joggen und so weiter”, erklärt Dr. Reuter. Das bedeutet, dass man sich beim nächsten Mal gut überlegen sollte, ob man seinen Ohrwurm wirklich in der Arbeit preisgeben will. Schließlich deutet das darauf hin, dass das Arbeitsgedächtnis des Gehirns nicht wirklich ausgelastet ist und man ruhig mehr Hirnschmalz in seine ursprüngliche Tätigkeit setzen könnte.

Laut Dr. Reuter kann aber auch genau das Gegenteil ausschlaggebend sein: “Manchmal erscheinen sie auch, wenn man ermüdet oder gestresst ist oder wenn man das erste oder letzte Lied einer ganzen Reihe von Liedern noch im Ohr hat.” Das letzte Lied dann noch einmal ganz durchzuhören, ist übrigens nicht immer der heilige Gral, wenn man den Ohrwurm wieder loswerden will, aber dazu später mehr.

“Ohrwürmer entstehen häufig bei automatisierten Tätigkeiten, bei denen das Gehirn nicht stark gefordert ist, wie zum Beispiel beim Fahrradfahren, Duschen, Rasieren, Putzen, Joggen und so weiter.”

“Nach einer Erkenntnis von Timothy Griffiths aus dem Jahre 2003 (nachzulesen hier und hier) handelt es sich hier um eine Art ‘Warteschleifenmusik’ des Gehirns, indem das Gehirn in den stets vorhandenen zufälligen neuronalen Entladungen rhythmische oder musikalische Pattern hineindeutet, die dann als endlose Wiederholungen von (vorher gehörten) Musikausschnitten im Kopf ein Eigenleben entwickeln. Oft sind dies kurze und prägnante, sich immer wiederholende drei- bis viertaktige Themen in der Dauer von ca. 15-20 Sekunden.” Das Gehirn spielt sich also selber einen Streich, indem es normale Hirnsignale als Songs interpretiert, die dann stunden- oder teilweise tagelang im Kopf hängenbleiben.

Das Ohrwurm-Potential von Liedern

Mir kommt es so vor als wären es immer die gleichen Lieder, die sich zu einem Ohrwurm entwickeln. Deshalb habe ich mir angesehen, wie ein Song klingen muss, damit er nicht mehr aus dem Gedächtnis verschwindet und bin dabei auf Formeln gestoßen, bei denen die KlaPuStri-Regel aus der Schule wieder topaktuell wird. Denn Forscher der Universität St. Andrews haben nicht nur eine Liste der Top 20 Ohrwürmer veröffentlicht, sondern auch gleich eine mathematische Formel für die festsitzenden Songs entwickelt – solche Formeln lassen jedes Forschungsergebnis ja auch gleich ein bisschen seriöser wirken. Angeblich sollen Musikproduzenten heute nach dieser Ohrwurmformel vorgehen, wenn sie neue Hits schreiben. Die Formel beinhaltet Eigenschaften von Liedern wie Aufnahmefähigkeit, Vorhersehbarkeit, Überraschung, melodisches Potential und rhythmische Wiederholung. Die fertige Formel sieht aus wie folgt:

Aufnahmefähigkeit + (Vorhersehbarkeit – Überraschung) + (melodisches Potential) + (rhythmische Wiederholung x 1,5) = Ohrwurm

Die tatsächliche Wirkungsweise dieser Formel lässt sich bis heute allerdings nicht eindeutig belegen und laut Dr. Reuter spielen noch weitere Faktoren eine Rolle: “Nach einerim letzten Jahr erschienenen Studie von Daniel Müllensiefen, Kelly Jakubowski, Sebastian Finkel und Lauren Stewart an mehr als 3000 TeilnehmerInnen zeigte es sich zum einen, dass die Ausbildung eines Ohrwurms sehr individuell und von Person zu Person verschieden ist und zum anderen, dass auch außermusikalische Faktoren wie zum Beispiel die Popularität eines Songs und eine hohe Position in den Charts für die Ohrwurmbildung entscheidend sein kann.”

Vor allem beim melodischen Potential und der rhythmischen Wiederholung stimmt der Universitätsprofessor der Formel zu: “Vom musikalischen Standpunkt aus sind Stücke besonders Ohrwurm-geeignet, wenn in ihnen kurze, einfache Phrasen häufig wiederholt werden (wie in “Bittersweet Symphony” von The Verve) und wenn die Melodiebildung einfach ist, sprich aus kleinen Melodieschritten besteht und häufiger auch längere Noten aufweist.”

Ein weiterer Faktor für die Hartnäckigkeit, mit dem sich ein Lied in unser Hirn brennt, sei außerdem der Text. Rein instrumentale Lieder nehme das menschliche Gehirn viel seltener als Ohrwurm auf, als Lieder, die mit catchy Lyrics versehen seien, sagt Reuter. Wie es aussieht, ist dabei ist es auch nicht nötig, dass der Text Sinn macht oder man ihn versteht, wenn man dabei zum Beispiel an “Dragostea Din Tei” oder an jedes Schlagerlied denkt.

Man kann aber auch Ohrwürmer von Songs entwickeln, die man nie selbst hören würde oder mit denen man sich in keinster Weise selbst identifizieren kann – rein aus Gewohnheit oder häufiger Wiederholung. Eine Autorin der Zeit berichtete zum Beispiel darüber, wie sie für eine Forschungsarbeit eine Zeit lang ausschließlich Rechtsrock hörte, bis sie sich dabei ertappte, wie sie eines der stumpfsinnigen Lieder unter der Dusche summte.

Was Ohrwürmer so hartnäckig macht

Das man manche Lieder einfach nicht mehr aus den Gehörgängen bekommt, liegt wahrscheinlich am sogenannten Zeigarnik-Effekt. Dieser besagt, dass man sich an unvollendete Aufgaben besser erinnert, als an abgeschlossene. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch beim bingewatchen von Serien: Es fällt einem schwer, mittendrin aufzuhören und man schaut immer noch eine Folge, bis auch der letzte Cliffhanger endlich aufgelöst wird. Das Gehirn erinnert einen also immer wieder daran, dass eine bestimmte Aufgabe noch nicht erledigt ist. Darauf kann man auch das schlechte Gewissen während des stundenlangen Prokrastinierens in Prüfungsphasen zurückführen. Eigentlich möchte das Gehirn nur, dass man endlich alles erledigt und sich seine Ruhe auch verdient hat, was eigentlich gar nicht so verkehrt ist.

“Sobald man in der Lage ist, den Schall zu kontrollieren, wird er auch nicht mehr als nervig oder lästig empfunden.”

Dass man die Ohrwurmsongs nach einiger Zeit als nervig empfindet, liegt nicht nur daran, dass man sie ab und zu nicht ausstehen kann. Auch Musik, die man eigentlich gerne mag, wird auf Dauer anstrengend. “Es ist so wie bei normaler Musik auch: Wenn man sie nicht beeinflussen oder stoppen kann (z.B. wenn sie nachts vom Nachbarn herüberschallt), dann beginnt Musik (und auch sonstiger Schall) nach einiger Zeit lästig oder nervig zu werden”, sagt Reuter dazu. “Sobald man in der Lage ist, den Schall zu kontrollieren, wird er auch nicht mehr als nervig oder lästig empfunden.”

Menschen, die besonders oft an Ohrwürmern leiden

Anfällig für die inneren Wegbegleiter sind vor allem Menschen, die beim Musikhören starke Emotionen empfinden. “Es ist wahrscheinlich deswegen so, weil das Gehirn bei der Auswahl seiner “Warteschleifenmusik” nicht wählerisch ist, sondern beim Vergleich der zufällig entstehenden neuronalen Pattern mit den bisherigen Hörerfahrungen auf diejenigen Stücke zurückgreift, die einen stärkeren Eindruck hinterlassen haben.

Ob diese Eindrücke positiv oder negativ sind, spielt dabei keine Rolle”, so Reuter. Deshalb kann es vorkommen, dass man von einem Song gequält wird, den man eigentlich überhaupt nicht mag. So wie es der Zeit-Autorin eben mit den Rechtsrock-Songs ging. Wenn man in Zukunft also einen “Atemlos”-Ohrwurm vermeiden will, sollte man das Leid (nein, ich habe mich hier nicht vertippt) einfach über sich ergehen lassen und sich nicht zu sehr aufregen.

Die Förderung von einem Ohrwurm durch Emotionen oder Stimmungen merkt man auch dann, wenn im Kopf Songpassagen auftauchen, die mit der momentanen Situation zusammenhängen – wie zum Beispiel “Singing in the Rain”, während man frustriert im Regen auf den Bus wartet. Auch Leute mit einem gut geschulten auditiven Gedächtnis sind anfälliger für Ohrwürmer, das betrifft vor allem Leute, die selber auch Musik machen oder generell sehr musikaffin sind.

Aber nicht nur Menschen, die auf den ersten Blick besonders musikalisch sind, müssen sich mit den Melodien im Kopf herumschlagen: “Nach Umfrageergebnissen leiden introvertierte und auch besorgte Menschen häufiger unter ihnen als extrovertierte und sorglosere Hörer, sowie Frauen mehr als Männer und Schwerhörige mehr als Normalhörende”, erklärt Reuter.

Wie wird man den Ohrwurm wieder los?

Die größte Frage im Zusammenhang mit Ohrwürmern ist sicher, wie man ihn wieder los wird, wenn man keine Lust mehr darauf hat, nachdem man zum tausendsten Mal die YMCA-Performance in seinem Kopf abgezogen hat. So individuell die Arten und Inhalte von Ohrwürmern sind, so individuell sind auch die Methoden, sie wieder loszuwerden – ein Gang zum HNO-Arzt bringt jedenfalls nur wenig.

“Wenn man einen Ohrwurm hat, sollte man sich nicht durch ihn beunruhigen lassen oder versuchen ihn zu bekämpfen.”

Es ist schon mal ein guter Anfang, wenn man sein Arbeitsgedächtnis beschäftigt und damit dafür sorgt, dass das Hirn gar keine Zeit hat, sich irgendeinen Ohrwurm anzueignen. “Wirksam ist meistens, dass man sich intensiv mit einer anderen Sache beschäftigt, dem Gehirn neuen Input gibt. Zum Beispiel indem man etwas Interessantes liest, ein spannendes Video schaut oder sich mit einem komplexeren Problem auseinandersetzt. Manchmal hilft es auch etwas Heißes und Scharfes zu essen”, so Dr. Reuter.

Man sollte aber nicht generell versuchen, einen Ohrwurm krampfhaft und schnell wieder loszuwerden: “Wenn man einen Ohrwurm hat, sollte man sich nicht durch ihn beunruhigen lassen oder versuchen ihn zu bekämpfen. Ohrwürmer haben ja auch etwas Gutes, da sie einen wachhalten. Sie sind quasi fürs Gehirn so wie ein Kaugummi für die Zähne”, sagt Reuter weiter.

Man könne sich auch mit dem Ohrwurm bewusst beschäftigen, das Lied vom Anfang bis zum Ende hören, dabei mitsingen, gedanklich mit dem Stück spielen, es verschnellern, verlangsamen, es sich in einer anderen Tonart oder in anderen Klangfarben vorstellen, so Reuter. Dabei sind wir wieder beim geschulten auditiven Gedächtnis. Beim Joggen helfe es zum Beispiel auch, einfach das Tempo zu wechseln, sodass der Laufrhythmus nicht mehr mit dem Rhythmus des Ohrwurms übereinstimmt.

Also nimm dir am besten ein Sudoku zur Hand und versuche zu vertuschen, dass du eigentlich gar keine Ahnung hast, was du da tust, wenn “I will survive” endlich aus deinem Gehörgang verschwinden soll. Alternativ könntest du auch einfach deinen YouTube-Tab schließen und endlich was hackln – dann wird dein Ohrwurm sicher auch verschwinden. Oder du machst es wie Dr. Reuter und genießt deinen Ohrwurm einfach. “Manchmal ist es auch sehr schön, ganz ohne Kopfhörer seinen ganz persönlichen Hit in der Endlosschleife immer dabei zu haben. Die ‘Trompeten von Mexiko‘ von Helge Schneider begleiten mich meist morgens beim Duschen”, sagt er mir abschließend.

Es gibt also ziemlich viele Möglichkeiten, sich das Ohr-Ungeziefer einzufangen, aber auch genauso viele, um sie wieder loszuwerden. Ich persönlich werde trotzdem weiterhin zu meiner eigenen Hirninterpretation von “Wake me up before you go go” meinen morgendlichen Kaffee genießen.

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