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Onkomaus: Die Geschichte der Labormaus, die zum Sterben gezüchtet wurde

Sie sollte dabei helfen, ein Mittel gegen Brustkrebs zu entwickeln – und dann löste die Maus eine internationale Kontroverse aus.
Weiße Labor-Maus
Eine weiße Labor-Maus | Bild: Pixabay 

Zwei kleine Ohren, eine spitze Schnauze, vier flinke Füße: Äußerlich ist die Onkomaus nicht von anderen Hausmäusen zu unterscheiden. Doch in ihr tickt eine genetische Zeitbombe. In ihrer sechsten Lebenswoche wird die Maus Brustkrebs entwickeln.

Die Onkomaus, die auch Harvard-Maus genannt wird, wurde 1984 von den Harvard-Professoren Philip Leder und Timothy Stewart gezüchtet. Sie hatten es geschafft, Mäuseembryonen mit Retroviren menschliche Brustkrebsgene zu injizieren. Anschließend wurden die Mäuse nach einem strikten Muster gezüchtet, damit das manipulierte Gen weitervererbt wird: Großväter wurden mit Enkelinnen gepaart, Großmütter mit Enkeln. Die Nachkommen dieser Mäuse würden nun ebenfalls mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs erkranken – und zwar alle an der gleichen Krebsart, etwa zur gleichen Zeit.

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Diese Berechenbarkeit machte die Onkomaus für die Forschung extrem wertvoll, denn Experimente mit ihnen lassen sich sehr gut miteinander vergleichen. Auch der US-amerikanische Pharmakonzern DuPont, der die Forschung von Leder und Stewart finanziert hatte, erkannte das Potenzial der Onkomaus. Sie ließen die OncoMouse™ patentieren – das erste Säugetier überhaupt, auf das in den USA 1988 ein Patent erteilt wurde – und vermarkteten sie aggressiv. Der kleine Nager zierte sogar T-Shirts. Die Krebsmaus löste weltweit eine Kontroverse aus.

Dabei ging es nicht nur generell um die Ethik von Tierversuchen, sondern auch um die Frage, inwiefern man Leben überhaupt patentieren kann. In Kanada wurde das Patent mit der Begründung abgelehnt, dass höhere Lebensformen nicht Gegenstand einer Erfindung sein könnten. Auch das Europäische Patentamt wollte aus ähnlichen Gründen zuerst kein Patent erteilen. Die Beschwerdekammer argumentierte jedoch, dass man keine Tierarten patentieren lassen könne, einzelne genmanipulierte Tiere aber schon. Deshalb erteilte das Europäische Patentamt das Patent 1992 erst vorläufig und bestätigte es 2004 endgültig. Damit war der Streit um die Maus aber noch nicht vorbei.

Das Patent ändert den Umgang mit Labormäusen

Während Labormäuse früher fröhlich zwischen Forschenden und Universitäten getauscht wurden, musste nun jeder, der die Onkomaus verwenden wollte, eine hohe Gebühr an DuMont zahlen. Und wenn durch Experimente mit der Onkomaus ein Durchbruch gelang, mussten die erfolgreichen Forscher und Forscherinnen den Pharmakonzern auch an den Gewinnen beteiligen. Gegnerinnen der Onkomaus argumentierten deswegen, dass vor allem kleine Labore durch das Patent und die hohen Gebühren benachteiligt sind.

Die Onkomaus ist für ihren Konzern so wertvoll, dass sie ähnlich wie eine Software mit einer langen Lizenzvereinbarung geliefert wird. Ein Labormitarbeiter aus London, der anonym bleiben möchte, sagt gegenüber Motherboard: "Mein Vorgesetzter musste kurzfristig auf eine Dienstreise und wir konnten die Experimente, die wir geplant hatten, nicht durchführen. Ich musste dann alle Mäuse, die sechs Wochen alt waren, töten – das war eine Bedingung im Vertrag."

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Hätte er es nicht gemacht, hätten harte Konsequenzen gedroht, sagt der Labormitarbeiter. "Wenn ein Konkurrenzunternehmen nachweisen kann, dass du dich nicht an die Regeln hältst, könnte das das Milliarden-Dollar teure Medikament gefährden, das du gerade entwickelst."


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Nach Onkomaus kam die Knockout-Maus

Auf die Onkomaus folgten weitere patentierte Labortiere. 1989 entwickelten britische und US-amerikanische Forschende die sogenannte Knockout-Maus. Bei diesen Tieren können ein oder mehrere Gene gezielt außer Kraft gesetzt werden. Durch einfache Veränderungen erhält man eine Maus, die sehr schnell zunimmt oder kein Immunsystem hat. Im Jahr 1993 wurde dann eine Anti-Onkomaus gezüchtet. Bei diesem Nager werden Gene ausgeschaltet, die Krebs erzeugen.

Inzwischen gibt es Tausende Varianten an Knockout-Mäusen. Allein eine schnelle Google-Suche führt zu zahlreichen Werbeanzeigen, die maßgeschneiderte genmanipulierte Mäuse und Ratten zu günstigen Preisen versprechen.

Viele Tierschützerinnnen und Tierschützer lehnen Tierversuche mit Mäusen und anderen Tieren grundsätzlich ab. Die Organisation Peta fordert zum Beispiel den "Absprung zu tierversuchsfreien Methoden", der Deutsche Tierschutzbund möchte die Versuche zumindest langfristig durch Alternativmethoden ersetzen. Forschende halten dagegen, dass Experimente mit Versuchstieren wichtige Erkenntnisse liefern können, um Krankheiten beim Menschen zu heilen.

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Doch wie gut eignen sich Mäuse tatsächlich als Modelle für menschliche Krankheiten? In die Alzheimer-Forschung bei Mäusen steckten Pharmakonzerne Millionen. Zwar gelang es in Versuchen, die Eiweißablagerungen im Gehirn der Tiere zu entfernen, die auch bei menschlichen Alzheimer-Patienten auftreten – das heißt aber noch lange nicht, dass dieselbe Therapie auch beim Menschen funktionieren wird.

Der Onkomaus dürfte das alles ziemlich schnuppe sein. Sie lebt ihr Mäuseleben weiter wie jede andere Hausmaus – zumindest bis zu ihrer sechsten Lebenswoche.

Dieser Artikel ist zuerst bei VICE UK erschienen.

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