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Bundestagswahl 2017

Ein Psychologe hat für uns die Social-Media-Profile der Spitzenpolitiker analysiert

Warum man Schulz seine Verzweiflung auch auf Facebook ansieht und Merkel zu den Wählern spricht, als seien die Kleinkinder.
Screenshots: Facebook | Instagram

Wenn Parteien ihre Plakate zur Bundestagswahl präsentieren, laden sie Journalisten ein. Der Start einer Social-Media-Kampagne passiert dagegen einfach. Keine Pressekonferenz, kein Beitrag in der Tagesschau. Nichts.

Dabei sind alle Parteien in den sozialen Medien vertreten, die Grünen investieren sogar die Hälfte ihres Werbebudgets im Internet. Die Timeline ist für viele längst genauso wichtig wie die Zeitung oder Nachrichten im Fernsehen. Oder wichtiger.

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Der Diplom-Psychologe Moritz Kirchner coacht seit mehr als acht Jahren Politiker, unter anderem für das Institut für Kommunikation und Gesellschaft in Rhetorik und Auftreten, darunter auch Bundestagsabgeordnete. Er ist außerdem Redenschreiber und Blogger.

Wenn einer weiß, warum Angela Merkel keine Selfies vom Wandern postet und wie schlimm es um die narzisstischen Störungen von Christian Lindner wirklich steht, dann er. Für uns hat Kirchner die Social-Media-Profile der Spitzenpolitiker analysiert.

Martin Schulz, SPD

Moritz Kirchner: "Die Inszenierung von Martin Schulz ist anfangs geprägt durch Pathos. Seine Reden werden in teils bombastische Parteitagsclips gepackt, an denen sich wesentlich die SPD selbst berauscht. Später zeigt er sich als Netzwerker. Als der sogenannte Schulz-Zug langsamer wird, versucht er, sich als volksnaher Sozialdemokrat darzustellen.

Im März, als Schulz mit 100% zum Parteivorsitzenden gewählt wird, inszeniert ihn die Partei als Heilsbringer – nicht für Deutschland oder Europa, sondern für die Partei selbst. Die SPD sehnt sich endlich wieder nach einer starken Figur an ihrer Spitze, nach einem Kanzlerkandidaten mit realen Chancen. Doch vielen war dieser Clip definitiv zu dick aufgetragen.

Ein paar Monate später, im Juli, besucht Schulz den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Ohne Zeitlupe, ohne Hochglanz. Im Clip riskiert Schulz in der Nahperspektive eine Optik, die nicht vorteilhaft für ihn ist. Er lässt damit auch Schwäche zu.

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Gleichzeitig nutzt Schulz seine Verbindung zu Macron als politisches Statussymbol, um vom jungen, damals erfolgreichen, französischen Präsidenten zu profitieren. Das Video soll bebildern, was wir Psychologen politisches Framing nennen. Der Frame – Europa – wird verbildlicht durch einen Besuch in Paris beim pro-europäischen Macron. Bilder, die auf jene Wählerinnen und Wähler ausstrahlen sollen, die sich mit Europa identifizieren. Wie zum Beispiel die 'Pulse of Europe'-Demonstranten.

In der RTL-Wahlarena hat er der Rentnerin Betty Neumann versprochen, ihr einen Theaterbesuch zu ermöglichen. In diesem Clip löst er sein Versprechen ein. Er ruft sie an, er lacht mit ihr und baut eine Beziehungsebene auf. Da steckt symbolisch verdichtet alles drin: Mitgefühl, gesellschaftliche Teilhabe, konkreter Kampf gegen Altersarmut. Schulz biografisiert Politik: 'Wir alle gönnen es Betty Neumann'. Das ist clever – aber das muss er auch sein. Eine heroische Inszenierung wie im März, als SPD und Union kurzzeitig gleichauf waren, wäre jetzt lächerlich. Die Social-Media-Kampagne von Martin Schulz hinkt dem hinterher, was er sich für seine Wahlkampagne wünscht."

Angela Merkel, Union

"Merkel will nicht als Person im Mittelpunkt stehen, sie will sich in ihrer Funktion als Kanzlerin um Deutschland kümmern. Ihre zentrale Botschaft für diesen Wahlkampf lautet: für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Der Clip von Wahlkampf-Auftritten an der Ostsee ist dafür die perfekte Inszenierung. Es kommen vor allem Urlauber – die wollen sich nicht streiten, die wollen sich wohlfühlen. Merkels Anwesenheit soll ihnen zeigen: Alles ist gut und ich sorge dafür, dass es so bleibt. Vor allem das Bild mit dem Urlaub und vielen verschiedenen, entspannten Menschen, welche die Volkspartei CDU abbilden sollen, ist ein Symbol für Merkels Kampagne und Politik: Sie will keine Polarisierung.

Das funktioniert bei Stammwählern, aber die CDU will gleichzeitig im urbanen Milieu punkten. Deshalb sehen wir Merkel bei der Eröffnung des #fedidwgugl-Hauses, dem begehbaren Wahlprogramm der CDU. Sie sagt im Video, sie will 'die CDU begreifbar machen'. In der Entwicklungspsychologie heißt es: 'Vom Greifen zum Begreifen'. Die CDU entdeckt die Haptik als Taktik, um nicht so unnahbar und abgehoben zu wirken. Das zweite, sehr einfache, Lernschema ist die Wiederholung. Merkel spricht so oft von 'einem Deutschland, in dem wir gut und gerne leben', dass man es irgendwann verinnerlicht. Man könnte diesen Frame die Merkel-Watte nennen, in die sie Wähler einpackt."

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Christian Lindner, FDP

"Die FDP fährt zu dieser Bundestagswahl eine Kampagne, die voll auf ihren Spitzenkandidaten zugeschnitten ist, der wie ein Mitglied von Boybands der späten 90er überhöht wird. Das ist die konsequenteste Form der Personalisierung. Der ganze FDP-Wahlkampf ist auf ihn zugeschnitten.

Er gibt sich jung, dynamisch, erfolgreich. Das zeigt auch der Clip, in dem er innerhalb einer Minute das Rentenkonzept der FDP erklärt. Seine Partei steht für Fortschritt, deshalb ist es folgerichtig, dass sich Lindner oft aus dem fahrenden Auto meldet. Indem er seine Gedanken mit den Fingern mitzählt – erstens, Daumen, zweitens, Zeigefinger und so weiter –, wirkt es, als denke er sich die Punkte aus, obwohl sie natürlich auswendig gelernt sind. Die scheinbare Spontaneität von Lindners Rentenkonzept ist wohl inszeniert. Er verabschiedet sich nicht, er stellt einfach die Webcam aus. Auch das sendet eine Botschaft: Weiter geht's. Immer weiter. Selbst im Urlaub zieht er das durch. Er postet ein Bild aus Mallorca, das ihn beim Kartfahren mit Freunden zeigt. Es sieht nach Entspannung aus, aber Lindner bleibt im Wettbewerbsmodus.

Besonders aufschlussreich sind die Bilder, die ihn erschöpft zeigen. Das soll nach Demut aussehen, bereitet aber in Wirklichkeit bildlich auf etwas anderes vor: auf die Regierungsbeteiligung. Lindner gilt als politischer Heißsporn. Würde er oder die FDP wirklich in die Opposition wollen, würde es Bilder der Demut, des Zweifelns, welche die schwere Bürde des Regierens ikonisch verdichten, nicht geben."

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Alice Weidel, AfD

"Die AfD verfolgt eine klare Aufgabenteilung: Alexander Gauland ist für das analoge Publikum zuständig, Alice Weidel für das digitale. Sie ist die Spitzenkandidatin der AfD, aber sie schafft es nicht, sich so darzustellen. In einem Video sehen wir, wie sie Leif-Erik Holm besucht, den AfD-Landesvorsitzenden Mecklenburg-Vorpommerns. In diesem und anderen Videos zeigt sie ihre Lieblingsgeste: den Zeigefinger. Dazu fordert sie die Zuschauer auf: 'Machen Sie das Kreuz an der richtigen Stelle.' Das ist so oberlehrerhaft und kann schnell hervorrufen, was Psychologen Reaktanz nennen: das Gefühl, zu etwas genötigt zu werden und deshalb das Gegenteil zu tun.

Um diesem Image entgegenzusteuern, filmt sie sich beim Fahrradfahren und zeigt uns ihre Heimat. Das soll Nähe herstellen. Bloß trägt sie eine Sonnenbrille und erreicht dadurch das Gegenteil: Distanz. Denn seit Platon gelten die Augen als Spiegel zur Seele. Sie wirkt nicht entspannt, weil sie keucht und völlig aus der Puste ist. Dabei will die AfD ja kraftstrotzend und stark wirken – strategisches Missgeschick der Inszenierung.

In einem Video vor dem Bundestag wirft sie ständig die Haare zurück, das ist eine klassische Verlegenheitsgeste. Sie zählt auf, wo sie in den nächsten Tagen Wahlkampf machen wird: Köln, Düsseldorf, Münsterland und so weiter. Sie ist immer in Bewegung wie Lindner. Doch anders als der streckt sie dabei den Kopf nach oben. So wirkt sie, im wahrsten Wortsinn, hochnäsig."

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Sahra Wagenknecht, Die Linke

"Wagenknecht hat sich den Ruf erarbeitet, noch unnahbarer zu sein als Merkel. Und das zieht sie auch durch. In ihren Clips sehen wir einen neutralen Hintergrund und einen Slogan. Sie füllt bewusst wenig Fläche des Bildschirms, weil sie sich nicht in den Vordergrund spielen will. Die Botschaft ist: Mir geht es um die Sachaussage.

In diesem Clip vom Parteitag in diesem Jahr sieht es anders aus. Sie ist kämpferisch, pathetisch und arbeitet mit starken Gesten. Eine Parteitagsrede zu posten, soll auch die starke Verbundenheit zu ihrer Partei symbolisieren. Dazu kommt ihr typischer Sound: 'Lüge', 'Wucher' und so weiter. Diese Rhetorik der Empörung zielt ab auf Protestwähler und auf diejenigen, die sich abgehängt fühlen. Strategisch ist dies für eine linke Partei klug, die jetzt mehr denn je um Protestwähler konkurrieren muss."

Katrin Göring-Eckardt, Die Grünen

"Sie gilt als langweilig. Mit ihrer gesetzten Rhetorik gibt sie den Gegenentwurf zum kämpferischen Cem Özdemir. Das durchzieht auch ihren Auftritt in den sozialen Netzwerken. Tatsächlich spannend ist jedoch ein Post über einen Salat, den sie gekauft hat – versehentlich in einer Plastikschüssel. Damit will sie zeigen, dass auch das Private politisch ist. Sie schreibt dazu: 'So sieht Versagen aus' und stellt so das Bild in einen selbstironischen Kontext. Auch die Grünen sind nicht perfekt. Sie versucht, den Ruf der Grünen als Verbotspartei zu relativieren. Online wie offline gilt aber dieses Jahr bei den Grünen: Sie dringen nicht durch mit ihren Botschaften."

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