Ich war eine obdachlose Einserschülerin
Bild von Noel Ransome

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Ich war eine obdachlose Einserschülerin

Dabei lernte ich, wie es ist, zwischen zwei Welten zu stehen. Und in keine von beiden zu passen.

Am ersten Schultag der elften Klasse schleppte ich einen Rucksack, der anders war als die meiner Mitschüler: Er war vollgestopft mit mehr Kleidung als Büchern und ziemlich ausgefranst. Ich hatte oben mit einem alten Gürtel ein Zelt drangeschnallt, ein zweiter Gürtel sicherte eine bräunliche Decke, die früher mal weiß war.

Die erste Woche des Schuljahrs verschwamm zu einem einzigen Nebel: Ich machte im Gebüsch vor der Schule Hausaufgaben und schlief dort eingewickelt in meine widerliche Decke. Ich schleifte meinen Rucksack durch den Korridor, verfolgt von Geflüster und Fragen. Ich kämpfte im Unterricht um Konzentration, weil mein Magen knurrte, und nachts aß ich Pizza, die ich aus der Mülltonne der nächstgelegenen Pizzeria rettete.

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Meine psychisch labile Mutter hatte mich etwa um Mittsommer endgültig auf die Straße gesetzt, damals war ich 16. Mein Vater war cholerisch und oft gewalttätig, bei ihm wollte ich also nicht leben. In Vancouver gab es einige Programme für Hilfsbedürftige, also ging ich dort hin und wählte die Straße. Anfang August fuhr ich aus meinem Heimatort in der kanadischen Provinz mit dem Bus in die größte Stadt von British Columbia.


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Wenn du obdachlos bist, werden alle Eindrücke stärker. Es ist wie beim Campen: Vor deinem Zelt raschelt etwas, es ist wahrscheinlich nur ein Waschbär, aber für dich klingt es, als wäre da eher ein Braunbär, der dich gleich frisst. Eine Packung Zigaretten zu verlieren, ist eine Tragödie. Wenn dir eine Münze auf den Boden fällt und in den Gulli rollt, könntest du heulen. Mitten in der Nacht im Regen aufwachen und feststellen, dass dein Schlafplatz überschwemmt, ist das Ende der Welt.

Aber Kleinigkeiten können genauso zu einem großen Triumph werden. Zum Beispiel wenn dir jemand einen Fünfer schenkt. Oder vielleicht lässt dir ein Tourist seine restlichen Lebensmittel da, bevor er nach Hause fliegt – und da ist ein Quinoa-Salat mit Fetastückchen dabei! Oh mein Gott, da hat dir jemand echt ein Luxus-Essen geschenkt.

Gleichzeitig wirken auch die Güte und Grausamkeit anderer Menschen stärker. Wer fast nichts besitzt, gibt dir noch das letzte bisschen. Und am furchterregenden anderen Ende dieses Spektrum gibt es Menschen, die dir sogar dein letztes bisschen nehmen wollen. Wenn du obdachlos bist, bleibt dir eigentlich nur noch dein Leben.

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Kurz vor dem Ende der Sommerferien fuhr ich aus Vancouver zurück in meine Heimatstadt. Ich hatte zwar keine Adresse, aber ich hatte vorher durchweg Einsen und Auszeichnungen bekommen, und jetzt wollte ich wenigstens die Schule fertigmachen. Ansonsten hätte ich im September nur mit ein paar anderen Teens auf Züge springen und nach Osten fahren können. Vor dem ersten Schultag war ich nervös, aber irgendwie auch wie betäubt. Hauptsächlich freute ich mich einfach darauf, in einer Umgebung zu sein, in der ich mich sicher fühlen konnte. Nach meiner ersten Schulwoche fuhr ich zurück nach Vancouver, um übers Wochenende zu betteln.

Der Mordversuch

An jenem Wochenende versuchte ein Mädchen, das ein paar Jahre älter war, mich tot zu prügeln, während ich schlief.

Am Abend zuvor hatte sie mir plötzlich einen Faustschlag versetzt, als wir mit ein paar anderen Leuten vor der Vancouver Art Gallery abhingen. Sie schrie, dass ihr mein Gesicht nicht gefalle und dass sie schon Leute umgebracht habe. Später entschuldigte sie sich und tat, als seien wir alte Freundinnen. Am nächsten Tag griff sie mich an, während ich auf dem Rasen hinter der Galerie schlief. Als ich aufwachte, steckten Zahnsplitter in meiner Zunge, ich lag in einer Blutlache und konnte auf dem linken Auge nichts sehen. Die Sanitäter parkten den Krankenwagen auf dem Galerierasen und brachten mich an Bord. Ich erinnere mich vage, wie die Pflegerinnen im Krankenhaus mir die blassen Beine wuschen – jemand hatte "Nigger" darauf geschrieben, während ich schlief.

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Als ich die Woche darauf in die Schule zurückkehrte, gab es noch mehr Geflüster und Fragen als vorher. Ich hatte eine Schädelfraktur von der Stirn bis zur Nase und zur Augenhöhle, und es war unklar, ob ich auf dem linken Auge jemals wieder sehen würde. Am Ende verheilte alles; meine einzigen körperlichen Langzeitschäden sind ein Reizdarmsyndrom, das sich bei Stress meldet, und ein paar abgebrochene Zähne. Aber die psychischen Narben waren zahlreich und setzten mir schwer zu. Erst letztes Jahr las ich etwas über das posttraumatische Belastungssyndrom und realisierte, dass ich nach dem Angriff fünf Jahre lang daran gelitten hatte.

Wäre ich eine Unruhestifterin gewesen, hätte ich dann besser zu den obdachlosen Jugendlichen gepasst und wäre nicht Opfer eines Mordversuchs geworden?

Aufgrund meiner Verletzungen und Krankenhausbesuche musste ich vorübergehend bei meinem Vater wohnen. Ich war weder glücklich noch in Sicherheit und spielte mit dem Gedanken wegzulaufen. Mein Vertrauenslehrer half mir, beim Familienministerium Wohngeld anzufordern. Meine Mutter, psychisch krank und grausam, log die Sozialarbeiterin an und behauptete, sie habe mich vor die Tür gesetzt, weil ich angeblich Crack rauchte. Die Sozialarbeiterin glaubte ihr und mein Antrag wurde abgelehnt. Mein Vertrauenslehrer, Gott segne diesen Mann, holte die Sozialarbeiterin irgendwann in sein Büro, zeigte ihr meine Noten und erklärte, dass man nicht in jedem Fach nur Einsen schreiben kann, wenn man Crack raucht. Der Antrag wurde doch noch angenommen, und mit 17 zog ich in meine eigene Wohnung.

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So seltsam das klingt: All meine Schwierigkeiten gegen Ende meiner Schulzeit motivierten mich nur noch mehr. Ich hatte schon immer ohne große Anstrengung Erfolge erzielt und hatte ein sehr gutes Gedächtnis. Aber ich wusste auch, dass das nicht reichte. Ich musste die Beste von allen sein. Ohne Stipendium konnte ich mir das Studium wahrscheinlich abschminken. Außerdem gab es mir einen Kick, im Vergleich mit Mitschülern zu glänzen, deren Eltern ihnen Autos schenkten und ihre Wäsche für sie machten. Ich war das ex-obdachlose Assikind mit Knöcheltattoos, das sogar verkatert die Bio-Klausur mit Leichtigkeit schaffte.

Und das zahlte sich aus. Im Frühjahr 2009 bekam ich einen Brief von der University of the Fraser Valley in British Columbia. Beim Lesen klappte mir die Kinnlade herunter und Tränen ließen die Buchstaben verschwimmen. Sie hatten mir das beste Stipendium zugesichert, im Wert von 16.000 kanadischen Dollar (circa 10.700 Euro).

Das Leben danach

Ich frage mich oft, ob es mir geholfen oder geschadet hat, dass ich eine Top-Schülerin war, als ich obdachlos wurde. Ich hatte nie wirklich zu den Leuten gepasst, mit denen ich rumhing. Immer blieb ich die Außenseiterin, die nicht tough genug war, um sich ihren Respekt zu verdienen. Wäre ich stattdessen eine Unruhestifterin gewesen, hätte ich dann besser zu den obdachlosen Jugendlichen gepasst und wäre nicht Opfer eines Mordversuchs geworden? Hätte mir das erspart, unzählige Male schweißgebadet aufzuwachen, weil ich wieder von dem Angriff geträumt habe, der mich fast das Leben gekostet hätte? Aber wäre ich nicht, wie ich bin – hätte ich es dann überhaupt jemals geschafft, von der Straße wegzukommen? Und hätten meine fast perfekten Noten sich auf der Uni-Bewerbung so gut gemacht, wenn ich nicht auch noch erklärt hätte, aus welchen Verhältnissen ich kam?

Bevor du dich von meiner Geschichte allzu sehr inspirieren lässt: Ich habe mein Studium nach drei Jahren abgebrochen, weil ich diese Uni hasste. Ich passte nicht rein, hatte immer ein paar Ecken und Kanten zu viel, um Freunde zu finden. Als dann auch noch meine Russisch-Dozentin krank wurde und damit die einzigen Kurse entfielen, die mich wirklich interessierten, brach ich ab. Mein Außenseiter-Status hatte während der Obdachlosigkeit vielleicht Vorteile, doch diesmal nützte er mir nichts. Neben ihrer psychischen Krankheit hat auch meine Mutter schon immer damit zu kämpfen, dass sie sich entfremdet und ausgeschlossen fühlt. Das haben wir zwar gemeinsam, aber im Gegensatz zu ihr habe ich gelernt, es zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen.

"Mein Leben lässt sich am besten mit einem Klischee zusammenfassen."

Wie ist es, eine obdachlose Einserschülerin zu sein? Das lässt sich am besten mit einem Klischee zusammenfassen: Ich stand zwischen zwei Welten und passte in keine davon. Eigentlich ist mein Leben noch heute ein Flickenteppich der Extreme und Kontraste, aber als Obdachlose war das viel intensiver.

Heute arbeite ich im Bereich Eventmanagement im Nonprofit-Sektor, und manchmal helfe ich einem Wohltätigkeitsprogramm in Downtown Eastside, dem Armen- und Drogenviertel von Vancouver. Dass ich obdachlos war, ist inzwischen zehn Jahre her. Im vergangen Jahrzehnt habe ich nie darüber gesprochen – über den Mordversuch schon gar nicht. Aber inzwischen kann und will ich darüber sprechen. Vielleicht hilft mir diese Reflektion, noch stärker in die Zukunft zu gehen.

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