Die Leidensgeschichte des Otto Warmbier
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Nordkorea

Die Leidensgeschichte des Otto Warmbier

Er wollte nur ein Abenteuer erleben: Was wir über das Leben und das Leid des Studenten wissen, der nach seiner Gefangenschaft in Nordkorea gestorben ist.

In manchen Leben gibt es sie wirklich: diese wenigen Sekunden, nach denen nichts mehr so ist, wie es vorher war. Beim 22-jährigen Otto Warmbier war es der Moment, in dem er vermutlich dachte: "Dieses nordkoreanische Poster nehm ich mit nach Hause, das ist cool." An den Folgen dieser Entscheidung ist er Montagabend gestorben.

Otto Warmbier lebte ein gutes amerikanisches Highschool-Leben. Er war Ballkönig und Kapitän seines Fußballteams an der Wyoming High. Ein beliebter Schüler. 2013 hielt er die Abschlussrede. Danach ging er samt Stipendium an die University of Virginia, um dort Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Ein gleichermaßen sportlicher und ehrgeiziger Student, der seine Zukunft klar im Blick hatte – so beschreiben ihn Freunde später gegenüber der Washington Post.

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Aber Warmbier wollte nicht nur Karriere machen, er wollte auch Abenteuer erleben. In seinem dritten Jahr an der Uni buchte er eine Studienreise nach Hongkong. Davor wollte er einen fünftägigen Abstecher nach Nordkorea machen. 4.000 bis 5.000 westliche Touristen reisen jedes Jahr dorthin, 20 Prozent davon aus den USA. Viele von ihnen erhoffen sich einen kurzen Einblick in ein stalinistisches Land, mit der Gewissheit, es im Gegensatz zu seinen Einwohnern jederzeit wieder verlassen zu können.


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Gerade erst hatte Kim Jong-un der "verbrecherischen" USA wieder mit einem Atomschlag gedroht. Doch Warmbier flog trotzdem. Wenn er für sich eine Aufgabe gefunden hatte, dann verfolgte er sie immer zielstrebig, sagt sein Vater über ihn. Am 27. Dezember 2015 landete er zunächst in Peking und verbrachte dort zwei Tage. Dann flog er mit einem Tourguide weiter nach Pjöngjang und nahm sich ein Zimmer im Yanggakdo International Hotel.

Festnahme und Verurteilung

Was Warmbier die nächsten fünf Tage in Pjöngjang getan hat, wissen wir nicht. Wahrscheinlich ist, dass er an einer der vielen geführten Touristentouren teilnahm, bei denen das Regime eine aufpolierte Version des Landes zeigt. Was auch immer seine Eindrücke waren, Warmbier wollte noch etwas mehr mitnehmen. Eines dieser Propaganda-Plakate, die in Nordkorea überall hängen, und die als ironisches Statement jede Studentenbude schmücken würden. An seinem letzten Abend ging Otto Warmbier in einen Bereich des Hotels, zu dem nur Mitarbeiter Zutritt haben. Dort nahm er ein großes Propaganda-Plakat von der Wand und packte es ein. Vielleicht hat er sich nichts dabei gedacht. Was kann ein Stück Papier schon auslösen?

Als er am 2. Januar 2016 Pjöngjang verlassen wollte, wurde er verhaftet und kurz darauf wegen "staatsfeindlicher Handlungen" angeklagt. Von einer Sekunde auf die nächste änderte sich seine Welt. Eben noch war er ein junger Student auf der Reise seines Lebens und plötzlich wurde er zum Spielball zwischen zwei verfeindeten Staaten. Am 1. März 2016 legte er in einem öffentlich übertragenen Schauprozess ein Geständnis ab. Das Video der Verhandlung ist dramatisch. Zunächst wirkt Warmbier gefasst. Doch dann kommen ihm Tränen. Er steht auf und beschuldigt die USA, ihn zu seiner Tat angestiftet zu haben. Es wirkt inszeniert, so als folge das Video einem nordkoreanischen Propaganda-Drehbuch.

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Es ist das letzte Mal, dass die Öffentlichkeit Otto Warmbier als gesunden Mann zu Gesicht bekommt. Das Gericht verurteilte ihn zu 15 Jahren schwerer Lagerarbeit.

Danach folgte eine Phase, in der nicht einmal seine Familie wusste, ob ihr Sohn noch lebt. Was wir wissen, ist nur das, was nach seiner Freilassung bekannt wurde.

Otto Warmbier ist frei

Am 13. Juni tritt US-Außenminister Rex Tillerson vor die Presse und teilt überraschend mit: Otto Warmbier ist frei. Laut Washington Post sei zuvor ein hochrangiger Mitarbeiter des Außenministeriums nach Pjöngjang geflogen und habe seine Freigabe verlangt. Noch am gleichen Abend landete ein Flugzeug in Cincinnati, vor dem Flughafengebäude hat sich eine Gruppe Menschen versammelt. Alle jubelten, als die Maschine den Boden berührte.

Ottos Eltern, Fred und Cindy Warmbier, begleiteten zusammen mit Ärzten ihren Sohn aus dem Flugzeug. Er lag auf einer Bahre, sein Kopf rasiert, in seiner Nase ein Schlauch. Von dem trainierten Studenten, der sich voller Zuversicht auf seine Reise machte, war nicht mehr viel übrig. Mit einem Krankenwagen wurde er in das Krankenhaus der University of Cincinnati transportiert. Sein Zustand war kritisch, aber er war zu Hause.

Vergangenen Donnerstag gab Fred Warmbier eine Pressekonferenz. Er trug das gleiche Jacket, das sein Sohn bei seinem Geständnis im nordkoreanischen Gerichtssaal anhatte. Es wirkt, als wollte er ein trotziges Zeichen setzen. Auch wenn mein Sohn nicht für sich selbst sprechen kann, ist er bei uns.

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Unser Sohn ist zu Hause

Was Fred Warmbier der Weltöffentlichkeit als Nächstes über die Gründe für den Zustand seines Sohnes erzählte, ist die Version der nordkoreanischen Regierung. Demnach habe sich Otto in Nordkorea angeblich einen Botulismus, eine Fleischvergiftung, zugezogen. Die Warmbiers glauben das nicht.

12 bis 36 Stunden dauert es in der Regel, bis die ersten Symptome auftreten. Wenn die Vergiftung bei Warmbier den üblichen Verlauf nahm, dann trübte sich zunächst seine Sicht. Danach begann sein Mund auszutrocknen und es fiel ihm immer schwerer zu schlucken und zu sprechen. Möglicherweise kam es als Nächstes zu Erbrechen, Durchfall und Bauchkrämpfen. Wenn sich die Lähmung vom Kopf jetzt auf die Herz- und Atemmuskulatur ausbreitete, schwebte Warmbier in akuter Lebensgefahr. Irgendwo im Verlauf der Vergiftung soll er eine Schlaftablette genommen haben, teilten die Nordkoreaner mit. Aus dem Schlaf, in den er fiel, ist er nie wieder richtig aufgewacht.

Die Nordkoreaner ließen ihn deshalb frei. Aus "humanitären Gründen". Doch die Familie Warmbier zweifelt das an. "Sie haben das nicht aus Warmherzigkeit getan", sagt sein Vater. Die schweren Hirnverletzungen ihres Sohnes sind die Folge von Folter, glauben seine Eltern.

Wurde Otto Warmbier gefoltert?

Durch Überläufer weiß man einiges über die Foltermethoden in nordkoreanischen Arbeitslagern. 2014 veröffentlichte die UN einen Bericht, für den eine Kommission ein Jahr lang mehr als 80 nordkoreanische Flüchtlinge interviewte, darunter ehemalige Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes (SSD). Unter anderem beschreibt darin ein ehemaliger SSD-Mitarbeiter, wie in Internierungslagern Verdächtige in Wassertanks getaucht werden, um Ertrinken zu simulieren. Andere wurden kopfüber an Ketten an der Decke aufgehangen. Außerdem seien Gefangenen die Fingernägel ausgerissen worden oder man habe ihnen Pfefferlösungen in die Nase gegossen.

Ein früherer Mitarbeiter des Heimatschutzministeriums schildert, dass Folteropfer in kleine Eisenkäfige gesteckt wurden, sodass die Durchblutung gestört worden sei. Das habe zur Folge gehabt, dass Körperteile anschwellen und sich braun färben. Schließlich seien die Gefangenen befreit und ihre Extremitäten ruckartig gestreckt worden, was zu extremen Schmerzen führte.

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Ob Otto Warmbier ähnliche Torturen erleiden musste, ist nicht sicher. Am letzten Donnerstag traten auch seine amerikanischen Ärzte vor die Presse. Sie teilten mit, dass sie keine direkten Beweise für akute oder bestehende Frakturen finden konnten. Die Schädigung des Gehirns könne die Folge eines Herzstillstands sein, bei dem die Blutzufuhr zum Hirn unterbrochen wurde. Otto sei zwar wach, aber nicht ansprechbar. Die Ärzte konnten nicht sagen, was er jetzt noch von seiner Umgebung mitbekommt und was nicht.

Das Ende einer Reise: Otto Warmbier ist tot

In einem Statement hat die Familie jetzt mitgeteilt, dass Otto Warmbier am Montag im Alter von 22 Jahren verstorben ist. In ihrer Pressemitteilung machten sie erneut die schweren Misshandlungen durch das nordkoreanische Regime für den Tod ihres Sohnes verantwortlich. Als er aus Nordkorea zurückgekehrt sei, habe er einen leidenden Eindruck gemacht. Doch über die letzten Tage habe sich sein Zustand verbessert und seine Gesichtszüge entspannt. Die Familie habe den Eindruck: Er habe Frieden gefunden.

Otto Warmbiers Familie wird womöglich nie genau erfahren, was mit ihrem Sohn in den letzten 15 Monaten passiert ist. Doch nicht nur auf persönlicher Ebene wirft der Fall noch einige Fragen auf. So ist unklar, warum Nordkorea Warmbier gerade jetzt freigab. War ihnen klar, dass er sterben würde, und haben sie ihn freigelassen, um nicht für den Tod eines amerikanischen Staatsbürgers verantwortlich zu sein? Und was wird aus den anderen? Denn noch immer sitzen drei US-Amerikaner in nordkoreanischer Haft. Und auch der Verbleib von 27 weiteren Ausländern in Nordkorea ist bis heute ungeklärt. Sicher ist nur, dass das, was Otto Warmbier erlebt hat, jedem hätte passieren können, der in ein Land wie Nordkorea reist. Otto Warmbier hatte nur nicht so viel Glück wie die meisten anderen.

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