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Hauptstadtblues

Lahme Verwaltung: Sogar das Sterben dauert länger in Berlin

Obwohl sie eigentlich längst tot sind, leben manche Berliner auf dem Papier noch lange weiter.
Ein Totenkopf auf einem Grabstein
Ein Berliner Grabstein || Foto: imago | Schöning

"Früher war Berlin einmal ein gut funktionierender Apparat", hat ein bekannter Berliner Autor mal geschrieben. "Heute kann man viele Zehnpfennigstücke hineinwerfen, die Puppe bewegt sich kaum – der Apparat ist eingerostet und arbeitet nur noch träge und langsam."

So meckerte Kurt Tucholsky 1919. Seitdem ist es eigentlich nur noch schlimmer geworden.

Stand 2018: In der deutschen Hauptstadt muss man teilweise bis zu acht Wochen warten, bis man eine Sterbeurkunde für seine Verwandten bekommt. Das haben Leserinnen und Leser dem Tagesspiegel berichtet, und das bedeutet: Menschen leben in Berlin länger, als sie eigentlich sollten. Sehr viel länger.

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In Berlin gibt es zwölf Standesämter, die für die Ausstellung von Sterbeurkunden zuständig sind. Und in vielen Bezirken sind die offenbar so schlecht aufgestellt, dass das eben zwischen vier und acht Wochen dauern kann. Bis man die Sterbeurkunde hat, kann man nichts von dem Papierkram erledigen, den der Tod für die Hinterbliebenen so mit sich bringt. "Warum musste die denn auch ausgerechnet hier sterben?", zitiert ein Tagesspiegel-Leser die Mitarbeiterin eines Bestattungsunternehmens. Immerhin: Es kann durchaus heilsame Ablenkung von der Trauer bieten, sich vor Wut durch den Tisch im Wartezimmer einer Berliner Amtsstube zu nagen.

Die Impotenz der Berliner Verwaltung ist längst legendär. So legendär, dass es eigentlich niemandem mehr Spaß macht, darüber Witze zu machen oder zu schimpfen – die Witze sind alle schon gemacht, die Schimpftiraden alle schon geschimpft (und zwar seit über hundert Jahren, siehe Tucholsky), und es ändert trotzdem: nichts.

Irgendwie scheint das auch zu dem Deal zu gehören, den diese Stadt ihren Einwohnerinnen und Einwohnern anbietet: Du kannst hier gerne morgens um 7 mit deiner leicht angekotzten Federboa aus dem Club torkeln, neben den Mülleimer pissen und dann deine Gute-Nacht-Line auf dem Geländer der Oberbaumbrücke legen, um den tollen Sonnenaufgang zu feiern – niemand wird dich zur Ordnung rufen.

Sobald du aber irgendwas von der Stadt brauchst – Personalausweis, Führerschein, Geburts- oder Sterbeurkunde – wirst du schnell merken, dass es umgekehrt genauso funktioniert: Die Autorität, die dich vorher in Ruhe gelassen hat, will auch absolut, dass du sie in Ruhe lässt.

Man kann wegziehen, oder man kann damit leben. Damit sterben kann man auch – es dauert eben nur länger als anderswo.

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