Linus Giese sitzt mit einem Buch in einem Stuhl
Foto: Bob Sala

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Transfeindlichkeit

Ich bin trans. Hört auf, über meine Grundrechte zu diskutieren

Ein britisches Magazin fragte, ob trans Personen sterilisiert werden sollten. Damit werden Menschenrechte verletzt, die indiskutabel sind.

Mein Name ist Linus, und ich bin ein trans Mann. Ich bezeichne mich selbst nicht als Transmann, denn trans zu sein, ist nur ein Teil meiner Persönlichkeit. Du nennst dich ja auch nicht Dickfrau oder Weißmann. Scheinbar ist aber genau diese eine Eigenschaft ein Grund für andere, über mein Leben und meine Existenz zu urteilen. Als ich im Oktober 2017 mein Coming-out hatte, hab ich gemerkt, dass ich anders bewertet werde.

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Um Hormone verschrieben zu bekommen, musste ich einer Therapeutin erklären, dass ich wirklich ein Mann bin und als solcher lebe. Um den Vornamen und Personenstand zu ändern, brauchte man bis zum Dezember vergangenen Jahres zwei psychiatrische Gutachten. Mein Leben gehört mir nicht mehr. Es ist zu einem Debattenthema geworden, über das die Gesetzgebenden entscheiden. Und über das Therapeut*innen, Ärzt*innen, Gutachter*innen, Journalist*innen, Freund*innen und die Öffentlichkeit diskutieren und werten. Immer wieder.

Erst vergangene Woche veröffentlichte The Economist, ein britisches Wirtschaftsmagazin, einen Artikel über die rechtliche Situation von trans Menschen in Japan. Bevor sie vor dem Gesetz anerkannt werden, müssen japanische trans Menschen mindestens 20 Jahre alt sein und unverheiratet – und sich einer Sterilisation unterzogen haben. Das Gesetz stammt aus dem Jahr 2004. Doch es wurde dieses Jahr erneut bestätigt, als der trans Mann Takakito Usui eine Beschwerde dagegen einlegte.

In den sozialen Medien sorgte der Artikel vor allem für Kontroversen, weil The Economist den ersten Satz des verlinkten Artikels kommentarlos und ohne Einordnung auf Twitter teilte: "Should transgender people be sterilised before they are recognised?" Erst als zahlreiche bekannte trans Aktivist*innen das Magazin kritisierten, löschte die Redaktion den Tweet.

Screenshot eines transfeindlichen Tweets von The Economist

Screenshot: Twitter | @TheEconomist

Das Social-Media-Team erklärte anschließend, dass beim Teilen von Artikeln auf Twitter häufig der erste Satz eines Textes verwendet wird. Bei meiner Stichprobe ließ sich das nicht bestätigen. Der Tweet mag ein Versehen oder eine automatisierte Veröffentlichung gewesen sein. Oder, wie mir ein Journalist erklärte: "Das war bestimmt nicht so gemeint."

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Doch wie auch immer der Tweet zustande kam: Die Frage "Sollten trans Menschen sterilisiert werden?" wurde öffentlich gestellt, von einem journalistischen Account mit 23 Millionen Follower*innen. Wer trans Menschen mit einer anderen Minderheit ersetzt, kann vielleicht verstehen, wie grausam sich diese Frage für Betroffene anhören muss:

"Sollten behinderte Menschen sterilisiert werden, bevor sie rechtlich anerkannt werden?"

"Sollten Flüchtlinge sterilisiert werden, bevor sie rechtlich anerkannt werden?"

Durch das sollte ist die Frage wie eine Einladung zu einer Debatte formuliert. Doch anders als bei einer Frage wie "Sollten Silvesterfeuerwerke verboten werden?" wurde eine Mehrheit Nicht-Betroffener eingeladen, über das Leben, die Gesundheit und die Würde einer Minderheit zu streiten. Der Duden definiert Debatte als "lebhafte Diskussion, Auseinandersetzung, Streitgespräch". Doch gibt es bei einer solchen Frage überhaupt zwei Seiten, die "lebhaft diskutiert" werden sollten? Darauf darf es nur eine einzige Antwort geben: ein klares und entschiedenes Nein!

Menschenrechte sind keine Diskussionsgrundlage

Ich bin an dieser Stelle vielleicht etwas emotionaler, weil ich betroffen bin. Seit einem Monat, mehr als einem Jahr nach meinem Coming-out, bin ich auch auf dem Papier ein Mann – ganz ohne Sterilisation und ohne ein Gesetz, das über meinen Körper, mein Leben und meine Gesundheit bestimmen möchte. Dennoch: Der Tweet von The Economist ist gefährlich, weil er eine Debatte eröffnet, die niemals geführt werden sollte. In 14 europäischen Ländern ist die Sterilisation auch heute noch gesetzlich verankert. In 20 europäischen Ländern müssen sich trans Menschen scheiden lassen, bevor sie rechtlich anerkannt werden. Auch in Deutschland gab es bis vor Kurzem solche diskriminierenden Gesetze: 1981 wurde in der BRD das sogenannte "Transsexuellengesetz" (TSG) erlassen: Demzufolge durften nur trans Personen über 25 ihren Namen und Personenstand ändern – und nur, wenn sie einen deutschen Pass hatten. Sie mussten erst eine geschlechtsangleichende Operation vornehmen lassen, um von Behörden mit dem richtigen Pronomen angesprochen zu werden. Bis 2009 mussten sich verheiratete trans Personen erst scheiden lassen, um rechtlich anerkannt zu werden. Damals gab es die sogenannte "Ehe für Alle" noch nicht und zwei Frauen oder Männer durften nicht verheiratet sein. Und bis vor acht Jahren erfolgten auch in Deutschland Zwangssterilisationen. 2011 entschied der Bundesgerichtshof, die vorgeschriebene Sterilisation von trans Personen sei grundgesetzwidrig. Die Begründung: Sie verstoße gegen die Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. 2017 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Zwangssterilisation von trans Menschen auch in 22 weiteren europäischen Ländern abgeschafft werden muss.


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Für mich ist das kein Thema für eine Debatte, keine Frage von Pros und Kontras. Es macht mich wütend, dass Menschen ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung genommen wird. Und dass der Werbe-Tweet einer Zeitung das Recht auf körperliche Unversehrtheit einer ganzen Bevölkerungsgruppe in Frage stellt.

Lasst uns Betroffene zu Wort kommen!

Die Debatte um Sterilisation ist leider nicht die Einzige: "Sollten trans Menschen eine öffentliche Toilette besuchen dürfen?"; "Sollten trans Menschen an Sportwettbewerben teilnehmen dürfen?"; "Sollten trans Menschen Kinder adoptieren dürfen?"; "Sollten trans Menschen medizinisch versorgt werden?"; "Sollten trans Menschen als Soldat*innen tätig sein dürfen?". Und schließlich: "Sollten trans Menschen überhaupt existieren?"

Schon jetzt werden all diese Fragen in sozialen Netzwerken oder unter Zeitungsartikeln diskutiert. Meistens von unbeteiligten Menschen. Und so, als würden sie nicht über eine schützenswerte Bevölkerungsgruppe sprechen, sondern über eine entmenschlichte Masse. Ich bin ein trans Mann und damit ein Mensch wie alle anderen auch: Selbstverständlich möchte ich eine öffentliche Herrentoilette besuchen. Selbstverständlich möchte ich Kinder adoptieren dürfen. Selbstverständlich möchte ich selbst über meinen Körper entscheiden. Und selbstverständlich möchte ich genauso wie jeder und jede andere auch medizinisch versorgt werden.

Die Gesellschaft kann daran mithelfen, das zu ändern. Ein erster Schritt wäre unser Recht darauf, selbst über unsere Körper zu bestimmen. Wir erleben Gewalt. Wir erleben Einschränkungen. Wir erleben Diskriminierungen. 41 Prozent der trans Menschen unternehmen mindestens einmal in ihrem Leben einen Suizidversuch. 28 trans Frauen wurden im vergangenen Jahr in den USA umgebracht. Auch in Deutschland sind trans Personen immer öfter von Gewalt und Ausgrenzung betroffen.

Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam überlegen, wie wir miteinander umgehen wollen. Dass Journalist*innen mehr Texte darüber schreiben, was trans Menschen eigentlich geschieht. Und dass viel mehr von uns selbst zu Wort kommen: bezahlt und als Expert*innen, nicht nur, weil wir trans sind.

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