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Waffenhersteller

Das G36-Urteil zeigt, wie egal Deutschland die Opfer seiner Waffenexporte sind

49 Studenten wurden in Mexiko hingerichtet, zum Einsatz kamen dabei auch deutsche Gewehre. Die Familien der Opfer durften im Prozess gegen Heckler & Koch dennoch nicht aussagen.
Ein künstlicher Totenschädel mit Einschussloch, der bei einer Demonstration für die Opfer in Mexiko getragen wurde
Foto: imago | ZUMA Press

Das Massaker begann kurz nach Sonnenuntergang. An einer Kreuzung in der mexikanischen Stadt Iguala umstellten Polizisten mit Sturmgewehren drei Busse voller Studenten auf dem Weg zu einer Demonstration – und eröffneten das Feuer.

Die unbewaffneten Studenten schrieen um Gnade, versuchten in Seitengassen zu entkommen oder sich unter den Bussen zu verstecken, berichteten Überlebende später. Als die Schüsse schließlich verstummten, lagen zwei Dutzend Verletzte und sechs Tote am Boden. Der jüngste von ihnen war 15 Jahre alt. Einem der Studenten, der am nächsten Morgen gefunden wurde, hatten Unbekannte die Augen ausgestochen und die Gesichtshaut vom Schädel gezogen – ein typisches Tötungsritual der Kartelle in Guerrero.

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Das Massaker am 26. September 2014 war nur der Anfang des Albtraums. Noch in der selben Nacht wurden 43 Studenten, die überlebt hatten, von der Polizei verschleppt, an Kartell-Henker übergeben und ermordet. Wegen der Verstrickung von Polizei, Lokalpolitikern und Drogenkartellen in die Morde entwickelte sich "die Nacht von Iguala" bald zu einem der größten Skandale in Mexikos jüngerer Geschichte.


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Es dauerte nicht lange, dann schwappte der Skandal auch nach Deutschland. Wie sich herausstellte, hatten einige der Täter Gewehre des Typs G36 des deutschen Herstellers Heckler & Koch benutzt, um auf die Studenten zu schießen – Gewehre, die die Polizisten von Iguala nie hätten haben dürfen. Und die Heckler & Koch ihnen trotzdem verkauft hatte.

"Ich erwarte von dem Urteil, dass die Firma Heckler & Koch eine gerechte Strafe erhält." – Leonel Gutiérrez, Bruder eines Opfers, im Deutschlandfunk

Am Donnerstag sind zwei Ex-Angestellte der deutschen Waffenschmiede deshalb vom Landgericht Stuttgart wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Ihr Verbrechen: die deutschen Behörden getäuscht zu haben, um die Sturmgewehre auch in die Bundesstaaten Mexikos exportieren zu können, in die die Ausfuhr eigentlich verboten war. Das Gericht verdonnerte Heckler & Koch außerdem dazu, 3,7 Millionen Euro zu zahlen. Allerdings nicht an die Hinterbliebenen der Opfer, sondern an den deutschen Staat.

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Ein Bundeswehrsoldat hält ein G36-Sturmgewehr

Das Sturmgewehr G36 ist auch die Standardwaffe der deutschen Bundeswehr. Foto: imago | photothek

Der Prozess findet damit nach fast einem Jahr endlich sein Ende. Trotzdem sind manche Beobachter wütend darüber, wie die deutsche Justiz den Fall abgehandelt hat. Der Friedensaktivist Jürgen Grässlin, der die Untersuchungen 2010 mit einer Klage erst ausgelöst hatte, hat das selbst im Gerichtssaal erlebt. Er findet es skandalös, dass die Opfer des Waffendeals – zum Beispiel die Angehörigen der Studenten von Iguala – nie zu Wort kamen. Uns hat er berichtet, wie das Gericht mit den Angehörigen umgegangen ist und was sich jetzt ändern muss.

VICE: Herr Grässlin, an welchen Moment in diesem Prozess erinnern Sie sich besonders?
Jürgen Grässlin: Das war, als der Bruder eines der Beschossenen unter Tränen in einer Pause im Zuschauerraum des Gerichtssaals aufstand und ein Foto seines Bruders entrollte. Darauf war ein junger Mann zu sehen, der im Koma liegt, weil er in der Nacht vom 26. September einen Kopfschuss bekommen hat. Der Bruder glaubt immer noch, dass er wieder aufwacht, aber das wird meiner Meinung nach nicht passieren, der ist hirntot.

Wie hat das Gericht reagiert?
Sieben Sicherheitskräfte haben sich auf ihn gestürzt und ihm das Plakat entrissen. Das war der einzige Kontakt, den das Gericht überhaupt mit Opfern hatte. Nachdem die Nebenklage der Opfer abgewiesen wurde, fand das ganze Verfahren statt, ohne dass die Opfer wahrgenommen wurden. Man hat das Ganze dann einfach mathematisch abgespult. Schlimmer kann man die Opfer eigentlich nicht ausgrenzen.

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Wie hätten Sie sich gewünscht, dass die Opfer gewürdigt werden?
Wenn man die Nebenklage des Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) zugelassen hätte, dann wäre ein Rechtsvertreter des Vereins und der Opferfamilien immer dabei gewesen – und sie hätten auch Rederecht gehabt. Aber das wurde nicht gemacht. Technokratischer und empathieloser kann man so einen Prozess nicht führen.

Ein Demonstrant hält ein Bild eines der 43 entführten Studenten hoch

Felipe Arnulfo Rosa wurde als einer von 43 Studenten von Polizisten entführt – und danach nie wieder gesehen. Foto: imago | Xinhua

Warum wurde die Nebenklage nicht zugelassen?
Das Gericht hat gesagt, das hätte keine Relevanz für die Bewertung eines Falles, in dem es um das Außenwirtschaftsgesetz und Kriegswaffenkontrollgesetz geht, da bräuchte man die Opfer nicht zu hören. Das ist sehr inhuman und sehr entmenschlichend. Es ging überhaupt nicht mehr darum, dass in Mexiko seit 2006 mit deutschen Waffen gemordet wird. Dass bis 2009 in riesigem Umfang – wir sprechen von rund 10.000 Sturmgewehren – Waffen dorthin geliefert wurden, und davon rund die Hälfte in die vier Bundesstaaten, in die sie nie hätten kommen dürfen.

Aber was kann Heckler & Koch dafür, was mit den Gewehren angestellt wird?
Erstens wusste Heckler & Koch, dass die Waffen in diese Unruhe-Provinzen verteilt werden. Laut meiner Informanten haben sie dazu sogar einen General bestochen, damit er die Waffen in diese Provinzen bringt.

Sie sagen also, dass Heckler & Koch und die deutschen Behörden, die die Ausfuhr genehmigt haben, damit eine Mitschuld unter anderem an den Morden in Guerrero, dem Bundesstaat in dem sich alles ereignet hat, tragen.
Ja, und zwar nicht nur in Guerrero, sondern am Massenmorden in ganz Mexiko, was dort seit 2006 läuft. Die haben den Bürgerkrieg durch ihre Waffenlieferungen ins Drogenland Mexiko ja mit angeheizt. Dass Heckler & Koch dann noch aktiv daran arbeitet, dass die Waffen in die Unruheprovinzen weitergeleitet werden, kommt noch dazu.

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Aber die Waffen wurden ja an die Polizeibehörden für den Kampf gegen die Kartelle verkauft. Woher sollte Heckler & Koch wissen, dass mexikanische Polizisten sie gegen Unschuldige einsetzen würden?
Wir wissen, dass geschätzt 70 Prozent der mexikanischen Polizei tief korrupt sind, eng mit den Kartellen zusammenarbeiten und selbst schwere Straftaten verüben. Wenn man an die Polizei in Mexiko liefert, dann weiß man, dass die Waffen widerrechtlich und in Verachtung der Menschenrechte zum Einsatz kommen.

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Angehörige durchwühlen ein Feld, in dem Überreste der 43 gefunden wurden. Foto: imago | Xinhua

Weiß man, wie viele Menschen in Mexiko konkret mit Heckler & Koch-Waffen getötet wurden?
Nein, das kann man auch nicht wissen. Ich gehe dieser Frage schon seit Jahren nach. Aber Organisationen wie "Journalisten ohne Grenzen" machen immer wieder klar, dass Journalisten, die solche Fragen stellen, verschwinden, gefoltert, zerhackt und getötet werden. Die G36 zum Beispiel sind ja längst weitergewandert, die sind gar nicht mehr alle bei der Polizei. Aber wer versucht, bei den korrupten Polizisten oder Kartellen nachzufragen, wie viele G36 sie haben und wen sie damit erschossen haben, der hat ganz schnell eine Kugel im Kopf.

Können Sie dem Urteil vom Donnerstag trotzdem etwas Gutes abgewinnen?
Absolut, das Urteil war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Das Signal, das wir aussenden, heißt: Wenn ihr illegal exportiert, dann kriegen wir euch. Wir haben Whistleblower in allen Firmen sitzen, wir kriegen das raus, wir werden das zur Strafanzeige bringen und die Gerichte werden verurteilen.

Wie kann man in Zukunft sicherstellen, dass nicht noch mehr Unschuldige durch deutsche Waffen getötet werden?
Wir müssen jetzt massiv darauf drängen, dass wir mit SPD, Grünen und den Linken ein Rüstungsexports-Kontrollgesetz einführen, das dafür sorgt, dass Waffenexporte erstmal grundsätzlich verboten werden. Exporte sollten nur noch in Ausnahmefällen erlaubt sein – und dann muss der Endverbleib vor Ort gesichert sein.

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