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Ist der Selbstmord von Rachat Alijew ein Justizskandal oder eine Verschwörungstheorie?

Am 24. Februar wurde Rachat Alijew erhängt im Waschraum seiner Zelle aufgefunden, nachdem ihm Mithäftlinge genau damit gedroht hatten.
Foto von VICE Media

Am 24. Februar wurde Rachat Alijew erhängt im Waschraum seiner Einzelzelle in der Justizanstalt Josefstadt aufgefunden. Alijew war ehemals kasachischer Außenminister und zuerst als Botschafter für Kasachstan und später als Asylsuchender in Österreich. Außerdem stand er unter Verdacht, den Doppelmord an zwei kasachischen Bank-Managern in Auftrag gegeben zu haben.

Kasachstan hatte jahrelang die Auslieferung Alijews verlangt—was seitens der Republik Österreich zu jedem Zeitpunkt ausgeschlossen wurde, weil von keinem fairen Verfahren ausgegangen werden konnte. 2007 hatte Alijew sein Zerwürfnis mit dem kasachischen Machthaber Nursultan Nasarbajew, dessen Vermögen auf 7 Milliarden US-Dollar beziffert wird und mit dessen Tochter Arijew verheiratet gewesen war. Die Ehe mit Dariga Nasarbajewa wurde in seiner Abwesenheit und ohne Zustimmung geschieden.

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Alijew war nicht nur wegen Doppelmordes angeklagt—er war außerdem ein gefragter Zeuge in zwei Prozessen.

Am Mittwoch hätte er im Prozess gegen zwei ehemalige Mithäftlinge aussagen sollen, die ihn laut Alijews Angaben erpresst hätten. Außerdem erklärte sich Alijew bereit, in einem US-Verfahren wegen Korruptionsvorwürfen gegen den kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew als Zeuge aufzutreten. Alijew war demnach nicht nur Diplomat, und Mordverdächtiger, sondern gefragter Zeuge in mehreren Fällen.

Seit Juni 2014 saß Alijew wegen des Mordverdachts in Untersuchungshaft in der Vollzugsanstalt Josefstadt. In der Gemeinschaftszelle sollen zwei Mithäftlinge 3.000 Euro Schutzgeld von ihm gefordert haben—ansonsten würden sie ihn „im Waschraum umbringen und es wie Selbstmord aussehen lassen".

Nach der Anzeige wurden die beiden Mithäftlinge laut Peter Prechtl, dem Leiter der Vollzugsdirektion im Justizministerium, sofort in andere Trakte verlegt und Alijew bezog (auf eigenen Wunsch und aus Angst vor weiteren Vorfällen) eine Einzelzelle. Trotzdem wurde die Drohung von seinem tatsächlichen Tod eingeholt: Alijew wurde im Waschraum seiner Zelle mit Mullbinden und einem Kleiderhaken erhängt aufgefunden.

Natürlich ruft der Fall von Alijew, der wie ein ungelöster Plot aus Monk klingt, auch diejenigen auf den Plan, die hinter seinem Tod ein präzise geplantes und vom kasachischen Geheimdienst exekutieres Komplott sehen. Auf den ersten Blick ist Skepsis vorsichtig gesagt angebracht. Der Umstand, dass ein Häftling auf genau die Art stirbt, die ihm von Mithäftlingen zuvor angedroht wurde—und das am Tag vor seiner Aussage in genau dem Prozess, der zur Klärung dieser Drohung angestrengt wurde—, lässt nicht nur Verschwörungstheoretiker und Hausverstand-Verfechter aufhorchen.

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Alijews Anwälte halten einen Selbstmord ebenfalls für ausgeschlossen und überhaupt nicht nachvollziehbar. Am Vortag habe Klaus Ainedter, einer der Verteidiger, noch mit Alijew über das bevorstehende Verfahren gesprochen und ihn als „kampfeslustig" empfunden. Prochaska, ebenfalls ein Verteidiger von Alijew, geht so weit, sogar von der „Vermutung, dass ihn jemand umgebracht hat", zu sprechen. Selbst, wenn es doch kein Mord gewesen sein sollte, schließen Alijews Anwälte nicht aus, dass ihr Mandant zumindest in den Selbstmord getrieben wurde.

Bei genauerer Betrachtung sind die offensichtlichen Unstimmigkeiten aber, wie so oft, nicht mit großen Gesten, sondern kleinteiligen Detailfragen zu beantworten. Eine davon ist zum Beispiel, wie sicher man sich sein kann, dass es keine Fremdeinwirkung gegeben hat und wie man das nachträglich überprüfen kann.

Vollzugsdirektor Prechtl beteuert in der ZIB 2, dass sich Alijew eindeutig selbst umgebracht hat. Der Eingang der Zelle sei permanent videoüberwacht und das betreffende Material dazu gesichtet worden—demnach hat in der Nacht von Alijews Tod niemand die Zelle betreten. Auch die Gegensprechanlage und der Alarmknopf seien bereits kontrolliert worden, ohne Hinweis auf Zwischenfälle oder registrierten Sperren. Prechtl erklärt außerdem im Standard-Interview, dass die Zellen nachts etwa stündlich kontrolliert werden—zumindest wird von außen hinein geschaut. In den Waschraum der Zelle kann man dabei jedoch nicht sehen.

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Im VICE-Interview sagt Prechtl außerdem: „Die Videoüberwachung läuft durch und war vom Einschlusszeitpunkt bis in der Früh durchgehend aktiv. Es gibt nur zwei Passwörter, mit denen man die Videoüberwachung abzuschalten kann. Eines hat die Leitung, eines die Personalvertretung. Als die Videoüberwachung eingesehen wurde, war auch die Polizei anwesend."

Inzwischen liegt auch ein Obduktionsbericht vor. „Laut dem vorläufigen Obduktionsergebnis gibt es keinerlei Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung", erklärt Nina Bussek, Sprecherin der Justizministeriums, am Telefon auf unsere Anfrage.

Skeptiker der offiziellen Version bleiben davon unbeeindruckt. Immerhin komme die Suizid-These aus dem Nichts. Auch Vollzugsdirektor Prechtl bestätigt, dass keine Suizidgefahr bei Alijew bekannt gewesen sei. Seit Dezember 2007 werden Häftlinge anhand eines Fragebogens nach einem Ampelsystem eingestuft. Alijew erhielt grünes Licht für seine psychische Stabilität und damit auch die Einzelhaft.

Überprüft wird eine mögliche Selbstmordgefährdung in der Justizanstalt Josefstadt mit dem sogenannten „Viennese Instrument for Suicidality"—kurz VISCI—, einem Katalog aus 20 Fragen. „Dabei handelt es sich um einen psychologischen Test zur Suizidprävention, der von Psychiatern ausgearbeitet wurde", erklärt Prechtl am Telefon. „Der Test wird nicht bei der Einlieferung durchgeführt, sondern dient der Haftraumzuweisung."

Was bleibt, sind ein „Zufall" und die Zweifel von Alijews Anwälten. Das ist natürlich berechtigt, sollte aber auch nicht vorbehaltlos übernommen werden. Anwälte sind per Definition (zum Glück) parteiisch und müssen nicht an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung interessiert sein. Einen Mandanten vor Gericht zu vertreten, bedeutet immer auch, unter Einhaltung der Spielregeln Lobbying für seine Sicht der Dinge zu betreiben. Das heißt nicht, dass diese Sicht nicht der Wahrheit entspricht. Es heißt nur, dass geäußerte Zweifel an der offiziellen Version nicht zwangsweise die offizielle Version widerlegen.

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Wer den Selbstmord in Frage stellt, kann das nicht tun, ohne auch die Rolle der Justiz in Frage zu stellen.

Wirklich unbequem wird es aber, wenn man sich die „Was wäre, wenn"-Frage stellt. Teil der offiziellen Version ist, dass die Justiz eindeutig von Selbstmord ausgeht und Fremdeinwirken einwandfrei ausschließen kann. Wer den Selbstmord in Frage stellt, kann das nicht tun, ohne auch die Rolle der Justiz in Frage zu stellen. Laut ZIB 2-Bericht soll Alijew seinen Anwälten zufolge im Zuge der Drohungen gegen ihn auch Justizvollzugsbeamten angezeigt haben. Prechtl konnte auf unsere Nachfrage keine Auskunft dazu geben.

Was bleibt, sind vage Vermutungen. Der Fall hat einiges mit anderen Vorfällen gemeinsam, die irgendwann auf dem Weg in die öffentliche Meinung zu Verschwörungstheorien werden: Er ist kompliziert und verworren—komplizierter und verworrener, als die Berichterstattung oder der Frühstücks-Smalltalk es zulassen—und schreit damit förmlich nach einer einfachen Erklärung. Er hat auf den ersten Blick eine Reihe von widersprüchlichen „Subplots" und einen toten Protagonisten und ist damit prädestiniert dafür, als Projektionsfläche für geheime Machenschaften herzuhalten. Er zeigt eindeutig echte Missstände auf (Gewalt unter Häftlingen, Kontrollmechanismen in Justizvollzugsanstalten) und provoziert deshalb, dass man ihm auch gern weitere Missstände und Schlussfolgerungen andichtet, die sich nicht überprüfen lassen. Auch, wenn die Skepsis über Verschwörungstheoretiker-Kreise hinaus geht, ist die These, dass es sich bei Alijews Tod um Mord handelt, von derselben Logik geprägt, der auch Verschwörungstheorien folgen. Dazu gehört eine nichtfalsifizierbare These („was, wenn er in den Selbstmord getrieben wurde?") genauso wie eine Argumentationskette aus nichtüberprüfbaren Behauptungen („Kasachstan wollte Alijew sowieso tot sehen, also haben sie ihn umbringen lassen") und, vor allem anderen, die Haltung, dass es eigentlich sowieso um etwas Größeres geht.

Wer einmal bei der exemplarischen Systemkritik angekommen ist, überträgt die Beweislast auch schnell von sich selbst („ich muss nicht beweisen, dass er umgebracht wurde") auf die Justiz („die sollen beweisen, dass er nicht umgebracht wurde"). Wer gleichzeitig die Justiz zur Klärung auffordert und ihre Version sowieso als unwahr abtut, ist bei einer selbsterfüllenden Prophezeiung angekommen. Um bei der Wahrheit anzukommen, muss man weiter nachfragen, aber auch komplizierte, weniger augenscheinliche Antworten zulassen können.

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