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Popkultur

Aufwachen! Österreich ist das Mekka der Dokumentarfilme

Von Wagenhofer bis Glawogger, Österreich ist der beste Nährboden für Doku-Kino. Der neue 'Alphabet' von Wagenhofer ist Beweis genug dafür und auch beim "this human world"-Filmfestival schläft sicher niemand ein.

Dokumentationen sind in der Regel zu furchtbarem Infotainment verkommen, in denen Themen wie die Türkenbelagerung, "Die Haustiere der Nazis" oder Dinosaurierepochen wie aufwändige Filmproduktionen (mit entsprechenden Budgets und sogar eigenen Soundtracks) inszeniert werden, um die Narration von Joachim Kerzel, Captain Picard oder die feierliche Stimme der Radeberger-Bierwerbung zu umrahmen.

Nur weil Fakten bei unsereins scheinbar als langweilig in Verruf geraten sind, braucht in den Augen der Sendungsmacher jede Doku oder informative, sachliche Sendung einen mindestens so emotionalisierten Spannungsbogen wie Schindlers Liste. Lachhafte Hirngespinste wie Room 237 oder ernstgemeinte Theorien rund um urzeitliche Aliens auf dem History Channel sind das Resultat dieser Versuche des "dramaturgischen Aufwertens" von Wahrheit und menschlicher Geschichte.

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Hubert Saupert und sein misanthropischer "Klassiker" Darwin's Nightmare oder auch die kürzlich erschienene Bergsteiger-Doku Jäger des Augenblicks sind gute Beispiele für eine kleine Gruppe von Filmen und Filmemachern in Österreich, die ein hochqualitatives Talent im Schaffen von Dokumentar-Kino beweisen, das sich vom oben Genannten distanziert (auch wenn Christoph Mayrs Bulb Fiction 2011 die Ausnahme der Regel darstellt, da hier ein grundsätzlich nicht uninteressantes Thema zur reißerischen Verschwörungsdoku verdreht wird).

Man erkennt seit Jahren eine intelligente und inspirierende Tendenz der heimischen Dokumentationen, die ich etwas genauer besprechen möchte. Das ist sozusagen mein thematisches Intro zum neuen Film Alphabet, den ich so verdammt gut finde, dass ich einen ganzen Schwerpunktbunker fabrizieren muss—obwohl ich doch eigentlich schon ins Bett will.

Als ich damals A Workingman's Death von Michael Glawogger gesehen habe, war eine andere Herangehensweise zum Dokumentieren spürbar, die ich als viel immersiver und mitreißender empfand als jede nachgestellte Schlacht um Troja oder Laiendarsteller, die McCarthy-Verhandlungen spielen. Glawogger präsentierte Tatsachen vollkommen objektiv und ohne filmische Kennzeichnung wann man lachen oder weinen soll—und natürlich am besten in HD.

Bei Working Man's Death waren es schlichtweg Bilder, die ich noch nie gesehen hatte, von extremer Ausnahmearbeit an verschiedensten Plätzen der Erde. Die Kamera ist der stille Beobachter in klaustrophobischen Minen, auf Müllschlachtplätzen Afrikas und beim indischen Öltanker-Recycling (unter anderen), "dokumentiert" eben und dramatisiert nicht. Keine wertenden oder beschuldigenden Überschriften, keine pauschalisierende Information und ohne rührselige Musik war diese Doku im Kino mehr als beeindruckend und ließ mich als verweichlichten Schreiberling sehr beschämt zurück. Es ist klar, Dokumentationen können auch anders.

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Sechs Jahre später lieferte Glawogger mit Whore's Glory (2011) den Einblick in das angeblich älteste Geschäft der Welt. Er gräbt sich durch verschiedene Nationen und deren Zugang zu Prostitution. Frauen gewähren Einblicke, die einem die Haare aufstellen und Sex verwandelt sich zur abstrakten zwischenmenschlichen Währung. Wieder sind die Aufnahmen sehr wertfrei gestaltet und treiben einem trotzdem Tränen in die Augen. Besonders bleibt das Mädchen samt Freier in einem asiatischen Puff in Erinnerung, bei denen die ganze "Transaktion" mitgefilmt wird.

A Road to MeccaThe Journey of Muhammad Asad (2008) von Georg Misch ist die Geschichte von Leopold Weiss, der als geborener Jude zum Islam konvertiert und im Zuge dieser Doku (oder besser seines Lebens) eine andere, etwas sympathischere Seite der zweitmeistverbreiten und trotzdem meistgehassten Religion unserer Zeit aufzeigt. Hier werden die Grenzen des Verallgemeinerns und die der Ethik eines Glaubens ziemlich durchgeknetet.

Nun muss man Abendland (2011) von Nikolaus Geyrhalter in meinem lobenden Kontext etwas kritischer betrachten, da meiner Meinung nach ein konkreter Konsens fehlt in dieser stummen Doku über austauschbare soziopolitische Technik-, Party- und Überwachungseindrücke. Man weiß letztlich nicht, was der Film, der ausschließlich aus Nachteinstellungen besteht, von einem will. Aber auch hier ist das distanzierte Beobachten der stärkste Trick und übertrifft die Einschlagskraft eines jeden in Sepia-Farben inszenierten Geschichte-Events mit Untermalung von Coldplay.

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Auch bei We feed the World (2005) von Erwin Wagenhofer (dem heutigen Man of Interest) liegt die dokumentarfilmische Intensität in der Stille, in der unkommentierten Direktheit der kalten Bilder und in der Ruhe erschreckender Fakten, die in schlichtem Font auf die Leinwand getippt werden. Bereits die kleinen Ausschnitte aus der abartig industrialisierten, globalen Nahrungsmittelherstellung reichen aus, um uns den Magen umzudrehen.

Mittlerweile wissen wir alle wegen diesem Film, wie viele Tonnen gutes, aber überproduziertes Brot täglich in Wien auf den Müll kommt und dass kleine süße Küken—auch in diesem Moment gerade—lustig durch die Eingeweide von Schwerindustrie fliegen, nur um in eine düstere überfleischte Zukunft sortiert zu werden. Dann stellte Wagenhofers Lets Make Money (2008) die Abrechnung mit CEO-Elite-Schweinen dar, die die halbe Welt aussaugen und wobei er leider doch zu stark polarisiert. Die schön inszenierten Bilder helfen nicht dabei, die komplexen Abläufe der internationalen Wirtschaft zu verstehen. Mit richtigem Filmschnitt kann man eben jeden gut oder böse aussehen lassen. Trotzdem ist er immer noch weit entfernt von der selbstverliebten Polemik eines Michael Moore.

So und jetzt kommen wir zu dem Film, über den ich heute bereits mit meiner ganzen Familie diskutiert habe, da meine Mutter Lehrerin ist und Wagenhofers neuester Streich Alphabet die Schule und Kindererziehung kritisch thematisiert. Mich hat der Film ziemlich umgehauen, im positivsten Sinne. Diese sehr sehenswerte (wenn auch vielleicht nur um der Diskussion und nicht seiner selbst willen interessante) Doku ist jetzt im Kino zu sehen.

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Dort dekonstruiert sie sehr geschickt globale Bildungssysteme und verändert dabei kurzerhand manche Perspektive auf die eigene Existenz. Bin ich von gewissen Lehr-Praktiken engstirnig geworden und habe dabei kreativ-intellektuelles Potential veröden lassen? Hätte ich mit richtiger Förderung hochbegabt werden können? Der Aufhänger von Alphabet ist einfach die Behauptung, dass veraltete Bildungsprozesse kreativ-emotionale Intelligenz bei Kindern zusammenstauchen und individualisiertes Lernen, abstraktes Lösen von Aufgaben, sowie alternative, bildende Entfaltung sehr wohl möglich sind. Es werden Ergebnisse von Testreihen vorgestellt, die Kleinkinder, sobald sie in den Anfängen des akademischen Wettbewerb und unter psychologischen Leistungsdruck stehen, das egoistische Ellbogen-Denken dem Helfer-Instinkt, der davor bei allen dominiert, vorziehen.

Der Spanier Pablo Pineda mit Down Snydrom ist neben den PISA-Vertretern und Hirnforschern einer der interessantesten Interviewpartner in Alphabet, denn die Geschichte, wie er zu seinem Diplom und Universitätsabschluss in Psychologie kam, ist ziemlich witzig. Er hasst sein Fach nämlich wie die Pest und hat nach Semestern voller psychischer Fehler, mentaler Krankheiten und Phobien seine Mitschriften nach der letzten Prüfung genüsslich zerrissen.

An diesem Punkt der Doku entsteht auch das (wieder etwas esoterisch vereinfachende) Konzept von den Lernsystemen, entweder basierend auf "Liebe" oder eben auf "Angst". So abwegig erscheint das aber nicht mehr, wenn man Schulzombies wie die Mathematikathleten Chinas vor sich hat, die von Babybeinen an nichts anderes als akademischen Drill kennen und dabei die Selbstmordrate unter jugendlichen Schülern in die Höhe getrieben wird.

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Aber wir lernen in Alphabet auch die Traumfamilie eines jeden Hippies kennen: der Farbenmeister Arno Stern, seinen bildungstechnisch autodidakt erzogenen Sohn und die professionelle Blumenriecher-Enkelin. Plötzlich scheint das geistige Potential in Kindern frei wuchern zu lassen, als tolles, wenn auch irgendwie unvorstellbares Ideal. Neben vielen anderen schlauen Köpfen, lernen wir auch einen Ex-Vorstand der Deutschen Telekom kennen, der sich als weitsichtiger Befürworter neuer Bildungswege entpuppt und weg von ökonomisch orientiertem Bildungs-Drill, hin zu einer sich gegenseitig stützenden Weltwirtschaft predigt.

Meine Kritikpunkte beziehen sich nicht unbedingt auf die Dokumentation selbst, sondern auf die Message, auf das höhere Ziel und die Kernaussage, die vermittelt werden, wie zum Beispiel, dass Kinder unter richtigen, "einladenden" Lernbedingungen erblühen und individuelle Lernwege finden. Dazu muss man sagen, dass es immer Leute geben wird, die in vorherrschenden Leistungssystemen besser zurecht kommen und brillieren werden—sowie diese ausnützen.

Unangepasste, nicht standardisierte Menschen würden dabei auf der Strecke bleiben. Außerdem kann gesunder Wettbewerb zu persönlichem Wachstum, Kreativität und Produktivität führen. Eine Alphabet entsprechende Bildungsrevolution wäre sauschwer implementierbar und die zugegeben wunderschönen Personenbeispiele aus dem Film sind leider Ausnahmen unter gewissermaßen priviligierten Umständen. Leider können wir nicht alle Gitarrenbauer oder Künstler werden oder Lehrseminare führen.

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Manche von uns sind einfach die Idioten, und wären es wahrscheinlich auch ohne den schulischen Wettbewerb. Obwohl … nach dieser Doku ist man sich da eben nicht mehr so sicher. Eine schwammige Diskrepanz bleibt in Alphabet stehen, führt aber zu spaßigen Familienstreitereien und beflügelt einen, die nicht existenten Kinder richtig fördern zu wollen. Doku-Kino, das sehr zu empfehlen ist, Bussi.

Foto: this human world

Ganz im Sinne von Österreich als Dokumentar-Pilgerstätte feiert this human world (www.thishumanworld.com) heuer zum sechsten Mal im Gartenbaukino das zweitgrößte Filmfestival Österreichs mit ausgewählten Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmen mit Fokus auf Menschenrechte. Das Ganze spielt sich vom 5. bis 12. Dezember 2013 ab und ist auch als Diskussionsplattform sowie journalistisches Forum gedacht. Wenn du dich jetzt schon durch die ganzen Dokus hier gelesen hast, dann ist das ein gutes Zeichen und du solltest this human world auch nicht verpassen.

Wohlsein

Josef Zorn auf Twitter: @theZeffo

Fotos von Filmladen Online, This Human World und Screencaps.