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Sex

Ich war bei „Rat auf Draht“ zu Besuch und schämte mich ein wenig

„Hätte das bloß jemand meinem zwölfjährigen-Ich und den Burschen aus meiner Klasse gesagt, dann hätten sie vielleicht einmal weniger „Analsex" in das Telefon gerufen."
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Damals im Skikurs in der zweiten Klasse war es der Gag schlechthin, bei Rat auf Draht anzurufen, Begriffe wie „Muschi", „Analsex" oder „Pudern" ins Telefon zu rufen und aufzulegen. Damals fanden wir das alle wahnsinnig lustig—warum genau, kann ich heute auch nicht mehr sagen, aber vermutlich lag es auch ein wenig daran, dass uns schon allein die Wörter zum Kichern brachten.

Auch beim Flaschendrehen war es eine der härtesten Aufgaben, wenn man bei „Tat" dazu gezwungen wurde, bei Rat auf Draht anzurufen und zu fragen, wie Blasen eigentlich genau funktioniert (weniger lustig war, dass wir es tatsächlich auf diese Art gelernt haben).

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Aus heutiger Sicht war das alles natürlich furchtbar peinlich, aber gleichzeitig war die 147 auch wirklich die Nummer, die wir anriefen, wenn wir alleine zuhause saßen und jemandem unsere intimsten Fragen stellen wollten. Dort antworteten dann unglaublich geduldige Menschen, die sich endloses Gequatsche anhörten, bevor wir uns auch nur annähernd das fragen trauten, was wir eigentlich wissen wollten.

Sowohl die Fake-Anrufe als auch die realen waren wichtig, um irgendwie mit diesen ganzen neuen Themen umgehen zu lernen. Nachdem Rat auf Draht bei vielen totale Nostalgie an alte Zeiten aufflammen lässt—in denen uns nichts mehr interessierte als Sex und wir gleichzeitig unglaublich wenig Ahnung davon hatten—, habe ich beschlossen, die Telefonseelsorge als fast Erwachsene noch mal zu besuchen und mir die Menschen am anderen Ende der Leitung anzusehen.

Birgit Satke ist seit 22 Jahren bei Rat auf Draht und leitet den Notruf nun seit 8 Jahren. Als ich sie treffe, fühle ich mich im ersten Moment etwas schuldig, da sie vor zirka 10 Jahren—also der Hochblüte unserer Rat auf Draht-Verarschungen—selbst noch Telefondienst machte und die Chancen nicht schlecht stehen, dass auch wir sie einmal mit unseren unreifen Jokes genervt haben.

Satke ist für mich genau der Typ Frau, den nichts erschüttern könnte. Sie weiß auf jedes Problem eine Antwort und beginnt Sätze mit Phrasen wie: „Mein Ansatz wäre es, dich selbst so zu unterstützen, dass du eine Lösung findest." Ich kann mir kein Problem vorstellen, für das sie kein Verständnis aufbringen würde. Wäre ich 16, auf Drogen, schwanger und hätte die Schule abgebrochen, hätte sie immer noch aufbauende Worte und handfeste Optionen für mich.

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Laut Satke arbeiten insgesamt 17 Menschen bei Rat auf Draht. Diese sind ausgebildete Psychologen, Psychotherapeuten, Juristen oder Sozialarbeiter. Da 1-4-7 eine Notfallnummer ist, muss das Telefon immer besetzt sein. Zwischen einer und zwei Leitungen sind also 24/7 erreichbar. An den Vormittagen würden sich eher Eltern melden. Rush-Hour sei die Samstagnacht, wenn die meisten Teenager unterwegs sind. Je näher das Wochenende kommt, umso wichtiger werden Themen wie Liebeskummer und Sex.

Die Probleme der Jugendlichen seien sehr unterschiedlich. „Das ist auch das Spannende bei uns, man weiß nie was hereinkommt", sagt Satke. „Manchmal muss man dann auch ehrlich zugeben, dass man von einem speziellen Thema einfach keine Ahnung hat." Ungeschlagene Nummer eins der Auswertung sei aber immer das Thema „Liebe/Liebeskummer": letztes Jahr beriet das Team dazu 2.738 Personen. Im Vergleich: 584 Jugendliche ließen sichzum Thema „erstes Mal" und 384 zum Thema „Drogen" beraten.

Generell riefen letztes Jahr 67.516 Personen den Notruf 147 an, 50.980 davon führten auch ein Beratungsgespräch. Natürlich gäbe es nach wie vor Scherz-, oder wie Satke es nennt, „Test-Anrufe". Diese würden aber stark abnehmen. Einen wirklichen Boom der Testanrufe gab es vor zirka 8 bis 10 Jahren (alle rund um 1992 Geborenen und ich dürfen uns jetzt schuldig fühlen). „Das war genau die Zeit, in der sich Handys richtig verbreiteten. Natürlich wurde damit dann auch viel experimentiert", meint Satke. Es gäbe auch Menschen, die regelmäßig anrufen würden. Diese „Stammanrufer" bekommen in der Regel dann zwei fixe Betreuer zugeordnet, damit sie nicht immer wieder aufs Neue ihre Lebensgeschichte erzählen müssen.

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Auf die Frage, was die häufigsten Probleme innerhalb der großen Themen wären, meint Satke: „Immer wieder rufen Jugendliche an und erzählen mir, dass sie in der Klasse in jemanden verliebt seien und sich diesen nicht ansprechen trauen. Ich versuche dann, Tipps zu geben, wie eine Annäherung funktionieren kann." Sehr viel gefragt würde natürlich auch zum Thema Sexualität: „Meistens trauen sich die Anrufer aber nicht gleich, zum Thema zu kommen und sagen dann zum Beispiel, dass sie schwanger seien. Dann frage ich ein bisschen nach und bemerke schnell, dass diese Person noch keinen Sex hatte. Ich erkläre dann der Anruferin, dass sie nicht schwanger sein muss, um mit mir über Sex zu sprechen." Gerade bei Telefonaten über Sexualität käme es oft zu Momenten, in denen sie schmunzeln müsse, weil es einfach sehr lustig wäre, was Jugendliche sich vorstellen.

Natürlich gibt es auch weniger harmlose Anrufe, in denen es um Missbrauch, Selbstmordgedanken oder Mord gehe: „Grundsätzlich bleiben Telefonate bei uns immer anonym, wenn aber die Gefahr für Fremd- oder Selbstgefährdung besteht und wir diese im Gespräch nicht lösen können, dann geben wir die Nummer an die Polizei weiter."

Auch ein wachsendes Problem stellt das Thema „Sextortion" für junge Männer dar, erklärt Satke. Falls ihr euch jetzt fragt, was das ist—ich für meinen Teil hatte keine Ahnung: „Da bekommen Burschen oder junge Männer Anfragen von, sagen wir einmal, leicht bekleideten Frauen in sozialen Netzwerken und werden dann eingeladen, zu Plattformen wie Skype zu wechseln. Dort animieren diese Damen die jungen Männer dann zu sexuellen Handlungen und nehmen das auf. Danach erpressen die Frauen sie und drohen damit, die Videos auf Facebook ihren Freunden oder den Eltern der Burschen zu schicken. Viele Jugendliche rufen bei uns an und erzählen, dass sie erpresst werden. Wir raten ihnen dann, das Geld nicht zu bezahlen, die Person zu blockieren und am besten Anzeige zu erstatten."

Zum Abschied sagt Satke noch, sie sei niemandem böse, auch nicht den Test-Anrufern. Manchmal würden auch aus eigentlich als Verarschung gedachten Anrufen wirklich gute Gespräche werden. Und nur zur Info: Weil Rat auf Draht eine Notfallnummer ist, werden auch unterdrückte Nummern bei ihnen immer angezeigt und gespeichert. Wenn wir das nur damals bloß gewusst hätten.

Eva auf Twitter: @immerwiederEva