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Wie es ist, Opfer des Menschenhandels und der modernen Sklaverei zu werden

Früher wurde der Ungar K. in England selbst als Zwangsarbeiter eingesetzt. Heute hilft er Menschen, die das gleiche Schicksal erleiden.
Illustration: Oliver Holmes

Es ist quasi ein Ding der Unmöglichkeit, das wahre Ausmaß der modernen Sklaverei in Großbritannien zu erfassen.

Die Sklaven von heute arbeiten und leben mitten unter uns. Oftmals werden sie in die jeweiligen Länder geschleust und ihre Ausbeutung geht so unauffällig vonstatten, dass wir es gar nicht merken. Die Schleuser nehmen ihnen ihre Pässe und sonstigen Papiere weg, was die Sklaven in Ländern hilflos macht, wo sie keine Unterstützung finden und oftmals auch nicht die jeweilige Sprache sprechen. Es ist tatsächlich so gut wie unmöglich, wirklich zu wissen, wer unter welchem Schicksal zu leiden hat, wenn einem nichts erzählt wird—und es ist jetzt ja auch nicht gang und gäbe, dass beim Smalltalk die Frage aufkommt, ob man versklavt ist oder nicht.

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2015 konnten die britischen Behörden 3.266 Opfer des Menschenhandels ausmachen. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet das einen Anstieg von 39 Prozent (2014 wurde übrigens ein Anstieg von 34 Prozent im Vergleich zu 2013 festgestellt). Worst Case: Es werden mehr Menschen geschleust. Best Case: Die Behörden machen mehr Opfer aus. Wie dem auch sei, Menschenhandel und Sklaverei stellen in Großbritannien ein großes Problem dar. Das Parlament hat 2015 ein neues Gesetz—den sogenannten Modern Slavery Bill—erlassen, das es den Behörden erleichtern soll, dieses Problem anzugehen.

Viele der Fälle der modernen Sklaverei, die es tatsächlich in die Nachrichten schaffen, scheinen sich um häusliche Zwangsarbeit zu drehen: Die Opfer werden dabei zu Hause eingesperrt und dazu gezwungen, Haushaltsarbeiten ohne Bezahlung zu erledigen. Beispiele hierfür wären die drei Frauen, die 2013 nach 30 Jahren Gefangenschaft aus einem Haus mitten in London befreit wurden, oder die 28-Jährige, die vor Kurzem aus einer Wohnung in der englischen Stadt Rochdale geholt werden konnte.

Von den Leuten, die zur Arbeit in alltäglichen Jobs gezwungen werden und denen das Gehalt dann von ihren „Herren" abgeknöpft wird, hört man jedoch nicht so viel. Das Ganze kommt allerdings häufiger vor, als man denkt, und wirft zudem noch einige Fragen auf: Warum erzählen sie ihren Kollegen nicht von ihrem Schicksal? Warum melden sie die Schleuser nicht sofort bei der Polizei? Warum sind sie überhaupt in eine solche Lage geraten?

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Mithilfe des britischen Innenministeriums konnte ich ein Treffen mit dem Ungarn „K." vereinbaren. K. ist 30 Jahre alt und fiel genau dieser Art der Sklaverei zum Opfer. Für unser Gespräch hat er nur eine Bedingung: Er will anonym bleiben. Als wir uns schließlich in einem Café im Südosten Londons gegenübersitzen, umklammert der komplett in Schwarz gekleidete K. nervös seine Kaffeetasse, atmet noch einmal tief durch und erzählt mir dann seine Geschichte.

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K. wurde im Alter von drei Jahren zusammen mit seinem jüngeren Bruder adoptiert. Seine leiblichen Eltern hat er nie kennengelernt. Die beiden Geschwister wuchsen in einer ungarischen Kleinstadt nahe der Grenze zu Slowenien auf. Als sein Adoptivvater starb, fing K. an, in einer Fabrik zu arbeiten, um die Rechnungen bezahlen zu können.

„Dort war ich dann bis zu meinem Autounfall im Jahr 2002 angestellt", meint er.

Nach dem Unfall fiel K. erstmal drei Monate ins Koma und brauchte danach noch weitere sechs Monate, um wieder auf die Beine zu kommen. Sein Erinnerungsvermögen war jedoch so stark beschädigt, dass K. erst mithilfe von alten Lohnabrechnungen und Briefen herausfand, wo er vorher gearbeitet hatte. „Ich bin dann wieder in die Firma gegangen und habe nachgefragt, ob sie mich dort kennen würden. Schon bald befand ich mich wieder in der Produktion", erinnert er sich und nippt dabei an seinem Kaffee.

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Zwar hatte er seine alte Arbeitsstätte wiedergefunden, aber die Bedienung der Maschine, mit der er sich früher perfekt ausgekannt hatte, fiel K. nun unglaublich schwer. Schon bald war seine Kündigung besiegelt.

„Ich wurde obdachlos—aber irgendwie wollte ich das auch so", meint er. „Niemand sollte mich finden können. Ich lebte auf der Straße und schlief nachts dort, wo es mich eben hintrieb."

Nach ein paar Jahren der Obdachlosigkeit und einem kurzem Intermezzo als Arbeiter für einen örtlichen Zuhälter hörte K. von einer Möglichkeit, den Reset-Knopf zu drücken. „Irgendjemand erzählte mir von einem Job in England und von dieser Familie, die Leute aufnahm", erzählt er mir. „In mir wuchs der Wunsch zur Flucht. Ich meine, ich konnte zwar kein Englisch und hatte auch nicht die Mittel, von selbst dorthin zu kommen, aber irgendwie musste ich einfach weg."

Innerhalb von zwei Wochen war der Deal unter Dach und Fach. K. traf den Schleuser, ließ all seine Dokumente kopieren und buchte seinen Flug. So habe ich mir den Weg in die Sklaverei irgendwie nicht vorgestellt, also so komplett ohne Entführung, Nötigung, Lügen oder sonstige zwielichtige Angelegenheiten. Nachdem K. nun schon eine gute halbe Stunde wie ein Wasserfall geredet hat, unterbreche ich ihn zum ersten Mal: „Was genau hast du von der ganzen Sache erwartet? War dir überhaupt bewusst, dass du dich freiwillig in die moderne Sklaverei begibst?"

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„Ich hatte keine rechte Ahnung, was passieren würde", antwortet er mir. „Ich wusste, dass diese Typen nach Sklaven suchten—also nach Menschen, denen ihr Leben egal geworden war und die einfach nur etwas Alkohol, etwas zu essen sowie eine Unterkunft wollten. Damals war ich einer dieser Menschen. Mir wurde nie gesagt, wie viel ich in England verdienen würde—und ich muss zugeben, dass ich selbst auch niemals nachgefragt habe."

Alles war geregelt und die Flucht organisiert: Im Oktober 2004 kam K. in England an.

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Zwar scheinen sich immer mehr Opfer der modernen Sklaverei bei den Behörden zu melden, aber dafür gibt es wohl auch Tausende, die das nicht tun. Professor Bernard Silverman, der oberste wissenschaftliche Berater des britischen Innenministeriums, schätzte 2013, dass sich in Großbritannien zwischen 10.000 und 13.000 potenzielle Opfer der modernen Sklaverei aufhalten.

Das britische Innenministerium betreibt in Zusammenarbeit mit der National Society for the Prevention of Cruelty to Children auch die Website modernslavery.co.uk. Dort heißt es, dass die modernen Sklaven aus mehreren Ländern stammen—darunter Nigeria, Albanien oder Vietnam. Aber auch Ungarn wird oft genannt, wenn es um Menschenhandel und Sklaverei-Fälle geht. So wurde erst diesen Januar ein Fabrikbesitzer aus West Yorkshire der Anstellung mehrerer Ungarn als „Sklaven-Belegschaft" schuldig gesprochen.

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Als K. 2004 in England ankam, sah es ähnlich aus.

„Ich bin in Luton gelandet und wurde dort von einem Typen abgeholt", erzählt er mir. „Mir wurde dann mein Zimmer gezeigt, das ich mit zwei anderen Männern teilte—beide übrigens ebenfalls Ungarn."

In K.s neuem Zuhause in Stoke-On-Trent gab es nur drei Schlafzimmer. Trotzdem lebten dort 22 Menschen. K. hatte jedoch seinen Tabak, seinen Kaffee und ein kleines Wörterbuch, um Englisch zu lernen. „Mehr brauchte ich eigentlich nicht."

Gleich am nächsten Tag ging die Arbeit los und obwohl er seinen Pass behalten durfte, sah er nicht einen Cent seines Gehalts. „Ohne Geld und sprachliche Fähigkeiten kommt man hier nicht weit. Also mussten sie mir meine Papiere gar nicht wegnehmen", erklärt mir K., als ich ihn frage, warum er nicht einfach abgehauen ist.

K. verdiente bei seinem Vollzeitjob 50 britische Pfund [knapp 65 Euro] in der Woche, aber der Großteil dieses Gehalts ging direkt an seine Schleuser. „Als ich mich um den Job bewarb, füllten sie den ganzen Papierkram für mich aus. Ich bekam die Verträge nie zu sehen."

Im April 2005 wurde K. nach Bolton gebracht, um eine neue Arbeit anzufangen.

„Dort war ich dann gut 18 Monate lang angestellt", fährt er fort. „Wir schufteten und unser Gehalt wurde direkt eingezogen. Meine 50 britischen Pfund bekam ich nie komplett zu Gesicht, weil mir die Schleuser immer erzählten, sie würden mich vor einem anderen Mafioso beschützen. An mir ging also nichts runter."

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Mit der Zeit wurde K.s Englisch immer besser und in ihm regte sich wieder der Wunsch nach Freiheit. „Nach ungefähr zwei Jahren wollte ich wieder unabhängig sein", erinnert er sich. „Ich hatte ihnen schon genug von mir gegeben. Da war für mich einfach irgendwann Schluss."

Zwar hatte K. schon vorher über einen Ausweg nachgedacht, aber es fiel im einfach keine durchführbare Lösung ein. „Wozu? Um wieder auf der Straße zu landen? Nein", meint er. „Ich hätte schon versuchen können, in England zu bleiben, denn dort ist es milder und ich hätte als Obdachloser auf jeden Fall überleben können. Ich hatte jedoch Angst, dass sie mir wehtun würden. Wenn es eine Person rausschafft, dann können das die Anderen auch. Dem hätten sie doch gleich einen Riegel vorgeschoben."

Als ihm klar wurde, dass er es allein nicht schaffen würde, schloss sich K. mit einigen Sklaven-Kollegen kurz: Zusammen mit dem Management des Unternehmens, für das sie arbeiteten, schmiedeten sie einen Plan und alles ging auf. Einer der Verantwortlichen brachte K. und die Anderen zu einer Bank, wo sie alle jeweils ein Konto eröffneten. So konnte ihnen ihr Gehalt direkt überwiesen werden. Natürlich wollten die Schleuser schon bald wissen, wo ihr Geld blieb, aber das Management erzählte ihnen einfach etwas von einem Fehler auf Seiten der Bank.

„Eine Woche später meinte das Unternehmen dann zu den Schleusern, dass die Polizei nach ihnen fahnden würde", erzählt K. „Also haben sie schnell ihre Sachen zusammengepackt und das Land verlassen."

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Eine ganze Weile lang sah es für K. dann eigentlich ganz gut aus: Im Sommer 2006 arbeiteten und lebten er und seine Kollegen in kompletter Freiheit. Dann wendete sich das Blatt jedoch wieder. Die Arbeitsverträge liefen aus und die sechs ungarischen Mitbewohner von K. sprachen kein Wort Englisch. Alleine Arbeit zu finden, stellte sich als unglaublich schwer heraus. Mit seinem letzten Geld kaufte K. für sich und die Anderen Flugtickets nach Ungarn. Schon bald sollte er allerdings wieder allein und pleite auf der Straße leben.

„Ich verstand die ungarische Sprache nicht mehr. Alles hatte sich verändert—die Politik, die Leute und die Kultur", meint K. „Ich fühlte mich total fremd. Nicht mal die Straßen waren wie früher. Die Stadt, in der ich aufgewachsen war, fühlte sich nicht mehr an wie meine Heimat."

Nachdem er sich wieder ein wenig Geld angespart hatte, kaufte sich K. also wieder ein Flugticket nach Großbritannien.

Im Dezember 2009 war er schließlich wieder in Manchester, wo er riskanten Jobs nachging und sich allgemein ziemlich miserabel fühlte. Bald konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen und war kurz davor, einen weiteren Winter auf der Straße verbringen zu müssen. Dann bekam er jedoch einen Anruf von einem alten Freund, der ihm von einer Gruppe Ungarn berichtete, die als Sklaven gehalten wurden—genau wie K. drei Jahre zuvor auch. „Er wusste, wie ich damals unsere Flucht geplant hatte, und fragte mich deswegen, ob ich den besagten Ungarn bei deren Flucht helfen könnte", erzählt K. mit einem Lächeln.

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Also mischte sich K. undercover unter die Gruppe. „Ich bin nach Leeds gefahren, wo ich mich zuerst mit einem Mann traf, der mich zu einem Haus brachte. Was ich dort dann vorfand, hat mir richtig Angst gemacht. Jeder der dort Anwesenden war ein Opfer der Schleuderbande."

K. wusste, wie viel Geduld man braucht, um das Vertrauen eines Fremden zu gewinnen, der ausgenutzt und manipuliert wird. Also begann er wieder damit, zu schuften und pro Woche wieder nur zehn britische Pfund [knapp 13 Euro] zu verdienen—eben genauso wie die Anderen. „Nach ein paar Monaten entschloss sich einer meiner Mitbewohner endlich dazu, etwas zu unternehmen", grinst K. „Während unserer Gespräche fragte er mich immer wieder, was wir tun könnten."

K. und seine neuen Freunde entschieden sich letztendlich dazu, sich an die ungarische Presse und die ungarischen Behörden zu wenden. So dauerte es nicht lange und ein Haftbefehl wurde herausgegeben. Auch das Haus, in dem die Ungarn untergebracht waren, wurde von der Polizei durchsucht.

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Mit der Unterstützung der Heilsarmee wurden K. und die Anderen an einen sicheren Wohnort gebracht und sofort in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. „Als wir dort ankamen, fühlte es sich an, als ob wir eine lange Reise endlich hinter uns gebracht hätten", erzählt K. „Wir haben das Haus betreten und mir fiel direkt auf, wie groß alles war. Wir hatten endlich ein Wohnzimmer! Das fand ich echt gut."

Mit einer fundierten Grundlage fand K. bald wieder eine Job und er half auch seinen Mitstreitern dabei, wieder zu arbeiten. „Hier in England eine Anstellung zu finden, ist nicht schwer. Wer auch immer behauptet, keinen Job zu bekommen, ist ein Lügner", lacht er.

Als sich unsere Unterhaltung dem Ende zuneigt, frage ich K. noch, wie er sich jetzt nach seinem Rückblick auf das Geschehene fühlt.

„Es ist nun mal passiert", antwortet er mir. „Ich will jedoch mehr gegen den Menschenhandel und die Sklaverei unternehmen. Das werde ich auch ohne Bezahlung und zur Not auch undercover durchziehen. Wenn sich mir die Möglichkeit bietet, diesen Handel zu unterbinden und Menschen zu helfen, dann werde ich das tun. Ja, ich würde das Ganze wirklich noch mal machen. Ich meine, ich bin ja Single—also muss ich mir auch keine Sorgen um eine Frau, Kinder oder ein Haus machen."

K.s Geschichte bringt jetzt auch das Stichwort der Einwilligung in die Diskussion um die moderne Sklaverei mit ein. Seine damalige Entscheidung, sich quasi freiwillig in die Zwangsarbeit zu begeben—auch wenn er sie nicht vollkommen bewusst getroffen hat—, lässt uns doch über einen wichtigen Punkt zum Thema Sklaverei nachdenken. Wir stellen uns den ganzen Prozess immer als erzwungen vor, aber K. hat seine Freiheit so gesehen aus freien Stücken aufgegeben. Wären seine ersten Schleuser schon damals im Jahr 2004 geschnappt worden, hätte dieser Umstand die ganze Sache komplizierter machen können. Aber im Schleuser-Abschnitt des Modern Slavery Bills spielt die Reisewilligkeit des Opfers keine Rolle.

„Ich weiß noch, wie ich damals bei meiner Ankunft in England gar nicht verstanden habe, was da überhaupt um mich herum passiert", meint K. kurz vor unserem Abschied und dreht sich dabei eine Zigarette. „Ich war verzweifelt, und genau das haben sie ausgenutzt. So lange ich lebe, darf ich nicht mehr zulassen, dass andere Leute das gleiche Schicksal erleiden."

Falls du den Verdacht hast, dass irgendjemand aus deinem sozialen Umfeld entweder Opfer einer Schleuserbande ist oder als moderner Sklave eingesetzt wird, dann findest du hier eine ganze Reihe an Beratungsstellen, die du um Hilfe bitten kannst.