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Der Mann mit dem 30-Sekunden-Gedächtnis

Zwar konnten die Ärzte Henry Molaison mit einer riskanten Hirn-OP retten, nahmen ihm aber gleichzeitig sein Erinnerungsvermögen. Die Neurowissenschaftlerin, die ihn 46 Jahre begleitet hat, erzählt uns von seinem Leben.

Im Jahr 1953 unterzog sich Henry Molaison nach einer jahrelangen, schweren Epilepsie-Erkrankung einer doch etwas experimentellen Hirn-OP, die zwar sein Leben rettete, ihn gleichzeitig aber auch seines Lebens beraubte. Durch die Entfernung von gewissen Teilen des Gehirns (dem Hippocampus und Teilen von beiden Amygdalas) heilte man Molaisons Leiden, aber die Prozedur hinterließ ihn auch mit einer Art Amnesie, wie sie die Neurowissenschaft so noch nie gesehen hatte: Alle 30 Sekunden löschte sich seine Erinnerung komplett.

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So wurde Molaison auch zum ersten Märtyrer für die Untersuchung des menschlichen Erinnerungsvermögens. Und obwohl er als Forschungsobjekt mehr als 60 Jahre lang für Durchbrüche im Bereich der Neurowissenschaft sorgte, musste er sich als Mensch darauf beschränken, sich an Fakten und Tatsachen zu klammern, die durch sein direktes Bewusstsein schwirrten. Nach dem Tod seines Vaters trug er zum Beispiel eine Notiz bei sich, die ihn immer daran erinnerte, keinen Vater mehr zu haben.

Dr. Suzanne Corkin lernte Molaison im Jahr 1962 kennen. Letztendlich sollte sie sich die darauffolgenden 46 Jahre mit dem außergewöhnlichen Fall des außergewöhnlichen Manns beschäftigen. Ich habe mich schon 2013 mit der im Mai 2016 verstorbenen Forscherin unterhalten, um zu verstehen, wie es sich mit einem derart eingeschränkten Gedächtnis lebte.

VICE: Hallo, Frau Dr. Corkin. In Ihrem Buch Permanent Present Tense liefern Sie die für mich perfekte Analogie für Henry Molaisons Zustand, denn Sie schreiben davon, dass sich die Informationen in der Hotellobby seines Gehirns versammeln, dann aber in keines der Zimmer einchecken können. Würde Sie das für mich noch etwas genauer ausführen?
Dr. Suzanne Corkin: Ich Grunde will ich damit sagen, dass er immer im Hier und Jetzt gelebt hat. Er konnte nicht sagen, was in den Stunden, Tagen oder Monaten zuvor passiert war. Und wenn man ihn ablenkte, war er nicht mal mehr in der Lage, sich daran zu erinnern, über was er im Moment davor gesprochen hatte.

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War das nicht extrem frustrierend?
Nun ja, irgendwann hat er sich einfach daran gewöhnt. Nach seiner Operation wohnte er ja auch in gewohnten Umgebungen—zum Beispiel sehr lange bei seinen Eltern. Dort war es für ihn irgendwann normal, in ein Zimmer zu gehen und dann nicht mehr zu wissen, warum.

Wie stand es um Filme oder Musik?
Filme oder Magazine konnte er sich immer und immer wieder anschauen, weil sie ja auch immer wieder neu waren. In Bezug auf Musik führte ich einen Test durch, bei dem ich Henry die Top-10-Hits aus jedem Jahr ab 1926—also seinem Geburtsjahr—vorspielte und er sogar ein paar Lieder erkannte. Es war also nicht alles komplett weg.

Hat Henry jemals irgendwelche Dinge einfach geraten?
Er war jetzt kein Schwätzer, aber ab und an hat er tatsächlich auch einfach mal geraten. Dabei konnte er jedoch immer auf seinen Intellekt zurückgreifen und stellte keine dummen Vermutungen an.

Wie war Henrys Verhältnis zu Frauen?
Er zeigte sich immer von einer sehr höflichen Seite. Es gibt auch ein Foto aus dem Jahr 1946, auf dem er zusammen mit einer Frau namens Maude Arm in Arm am Strand zu sehen ist. Ein anderes Foto zeigt Maude in einer Art Pin-up-Pose und auf der Rückseite steht: "Für Henry. In Liebe, Maude."

Außerdem besitze ich Briefe von zwei Freunden von Henry, die während des Zweiten Weltkriegs gedient haben. Darin schreiben sie viel von Frauen, vom Weggehen und vom Heiraten und so weiter. Das Ganze schien ihn also schon zu beschäftigen, aber ich weiß natürlich nicht, inwieweit die Inhalte dieser Briefe überhaupt der Wahrheit entsprechen.

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Hat er nach der Operation noch mal von irgendwelchen Frauen gesprochen?
Nein. Wir haben ihn sogar direkt zu eventuellen Freundinnen befragt, aber da hat er nicht mal Maude erwähnt. Das fand ich sehr interessant.

Es gibt da einen spirituellen Denkansatz, nach dem viele Religionen streben: Die Vergangenheit vergessen und sich nicht um die Zukunft sorgen. In der Gegenwart zu leben, soll ein erleuchtetes Gefühl des Friedens bringen. Glaubst du, dass Henry diesen Zustand erreicht hat?
Ich weiß nicht, ob ich wirklich sagen kann, dass Henry "Zen"-Momente hatte. Man hat ihn vor und nach der OP als sehr einfühlsamen Menschen beschrieben. Ich habe also keine Ahnung, ob ihn der Eingriff wirklich verändert hat.

Im klinischen Forschungszentrum bekam er von uns immer etwas zu essen und wir führten unsere Tests durch. Manchmal gab es aber auch kürzere Wartezeiten, in denen wir ihn einfach in den Flur setzten. Dort grüßten ihn die vorbeigehenden Menschen und ihm gefiel diese kleine Extra-Stimulation. Es war für ihn überhaupt kein Problem, nicht ständig zu fragen, was als Nächstes geschieht oder wann es Abendessen gibt. Nein, er genoss einfach nur den Augenblick und den Strom an vorbeigehenden Leuten. Es lässt sich leider nur schwer sagen, ob das etwas mit seinem Erinnerungsvermögen zu tun hatte. Im Allgemeinen war er jedoch ein stets fröhlicher Mensch.

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Was hat Henry zur Forschung über das menschliche Erinnerungsvermögen beigetragen?
Seine Hingabe zur Forschung war wie ein Geschenk für die Erinnerungswissenschaft. Er war so etwas wie der lebende Beweis dafür, dass man intelligent sein und gleichzeitig ein schlechtes Erinnerungsvermögen haben kann. Henrys IQ war immer über dem Durchschnitt. So wurde uns klar, dass spezielle Hirnregionen Erinnerungen verarbeiten und das Ganze unterteilt wird.

Die zweite Sache, die Henry uns gezeigt hat, war, dass die Fähigkeit zur Abspeicherung neuer Erinnerungen im inneren Teil der Temporallappen stattfindet. Vor Henry wussten wir nicht, dass der Hippocampus und die umliegende Rinde für das Langzeitgedächtnis essenziell sind. Durch Henry haben wir außerdem herausgefunden, dass es verschiedene Arten von Erinnerungen mit verschiedenen Adressen im Gehirn gibt. Zudem wissen wir nun, dass auch bei einer Amnesie unterschiedliche Erinnerungen bestehen bleiben.

Haben die Ärzte bei der Operation nicht einen kleinen Teil des Hippocampus intakt gelassen, wo kleine Flashbacks wir eine Art Geist von Henrys Erinnerung fungierten?
Nein. Man hat alle Verbindungen gekappt und den Teil des Gehirns, der den Hippocampus mit Informationen versorgt, quasi komplett entfernt. Deshalb konnte sich Henry im Alltag auch an nichts erinnern. Ab und an hatte er jedoch plötzlich diese kleinen Flashbacks, die uns total überraschten. Kurze Zeit später war jedoch alles wieder weg.

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Die Erinnerung erzählt die Vergangenheit eines Menschen und formt damit auch dessen Identität. Ist dieser Aspekt der Identität bei Henry verloren gegangen?
Das ist eine komplizierte Frage. Es haben ja auch schon viele Philosophen und Neurowissenschaftler die These aufgestellt, dass ein Mensch ohne Erinnerungsvermögen auch keine Identität besitzt.

War sich Henry Molaison seiner selbst bewusst? Ja, das war er. Nur eben nicht so wie andere Menschen. Unser Selbstbild setzt sich aus Erinnerungen aus der Vergangenheit, aus Einflüssen der Gegenwart und aus Zukunftsplänen zusammen. Henry hatte jedoch nur begrenzten Zugriff auf diese Zeitabschnitte.

Zwar konnte er sich noch an bestimmte Dinge von vor der Operation erinnern. Das waren aber nur vereinzelte und relativ zusammenhangslose Sachen. Trotzdem entstand bei Henry so ein Selbstgefühl. Er wusste, dass er eine bisher nur selten durchgeführte Operation hinter sich hatte. Und das konnte er auch kommunizieren. Sonst wusste er eigentlich nur, dass er ein schlechtes Erinnerungsvermögen besaß.

Konnte er sich seine Zukunft ausmalen?
Nein, dazu war er nicht wirklich in der Lage. Er führte allerdings immer kleine Monologe, in denen er auch den Wunsch äußerte, Gehirnchirurg zu werden.

Gleichzeitig glaubte er jedoch, dass er aufgrund seiner Sehschwäche nicht dazu in der Lage wäre. Er dachte, dass ihm seine Brille irgendwie im Weg sein oder verrutschen würde, was dann zu Fehlern geführt hätte. Er besaß eben auch ein Gewissen und wollte niemandem Leid zufügen. Ansonsten hatte Henry jedoch absolut keine Pläne für die Zukunft. Wenn wir ihn zum Beispiel fragten, was er am darauffolgenden Tag machen wollte, lautete seine Antwort jedes Mal: "Was auch immer nützlich ist." Er konnte sich keine Zukunft ausmalen und keine Träume verwirklichen, weil er keine hatte.