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„Es ist kein Zufall, dass Putin so viel Unterstützung von den Rechtsradikalen in Europa hat“

Putins Biograf erklärte uns im Interview, was den Kreml-Chef so gefährlich macht und wie entsetzlich und riskant die Naivität, Dummheit und Käuflichkeit des Westens sind.

Boris Reitschuster, Autor mehrerer Bücher über Russland und Biograf Wladimir Putins leitet seit 1999 das Moskauer Büro des Focus. Unsere deutschen Kollegen haben ihn interviewt, weil gerade in Deutschland die Russland-Debatte nicht aufhört und Putin eine spezielle Beziehung zu Deutschland hat. Natürlich interessieren wir uns im Alpenland auch für Putin und Russlands Zunkunft, deshalb sind wir gespannt auf Boris Reitschusters Erklärungen, weshalb Putin in Denkstrukturen der Vergangenheit gefangen ist, was ihn so gefährlich macht und wie entsetzlich und riskant die Naivität, Dummheit und der Käuflichkeit des Westens ist.

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VICE: Was glauben Sie, was zur Zeit in Wladimir Putin vorgeht?
Boris Reitschuster: Ich denke, er ist Opfer der eigenen Propaganda geworden. Den Zusammenbruch der Sowjetunion empfindet er als persönliche Tragödie, als Tragödie Russlands, er fühlt sich erniedrigt. Für ihn bedeutet Glasnost nicht Befreiung, sondern Zusammenbruch und jetzt nimmt er Revanche. Das sind Prozesse, die bei ihm ablaufen, die mich sehr beunruhigen, denn die Krim und jetzt die Ostukraine können diese Erniedrigung heilen, aber für wie lange?

Was für einen Eindruck machte er auf Sie bei Ihren persönlichen Treffen?
Ich habe ihn zum ersten Mal vor 14 Jahren getroffen und ich denke, er hat sich sehr stark verändert. Er kann, bzw. früher konnte er im Gespräch sehr charmant sein, kann das Gegenüber sehr einnehmen—ich denke, das hat auch damit zu tun, dass er das gelernt hat beim KGB, es ist aber so, dass er wenig auf Argumentation eingeht, er hat ein sehr festgefügtes Argumentationsmuster und es ist eigentlich sehr schwierig, mit ihm einen Dialog zu führen. Er hat sich in den letzten Jahren sehr verändert, die Macht ist ihm sehr zu Kopfe gestiegen.

In welcher Realität lebt Putin?
Das Problem ist, dass er im Wesentlichen nur noch gefilterte Informationen bekommt, er bekommt die eigene Propaganda auf den Tisch gelegt, wo er gelobt und gepriesen wird. Er hat die meisten kritischen Geister aus seiner Umgebung verbannt, umgibt sich im Wesentlichen mit alten Leuten aus dem Geheimdienst, Genossen, die seiner Meinung sind, und ich denke, er lebt hier sehr stark in seiner eigenen Realität, er ist in vielem losgelöst von der Wirklichkeit. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Er ist völlig überzeugt, dass das, was in der Ukraine passiert, das Werk des US-Geheimdienstes ist. Für ihn ist es unvorstellbar, dass Menschen einfach auf die Straße gehen, weil sie unzufrieden sind. Weil sie gegen dieses System waren, weil sie gegen diese Kleptokratie aufgestanden sind. Er ist völlig in diesen alten Denkstrukturen und entsprechend handelt er.

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Wladimir Putins Politik in der Ukraine stößt bei einer Mehrheit der Deutschen auf Verständnis, teilweise sogar Zuspruch. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin entsetzt. Ich muss ganz ehrlich sagen, mehr als das, was Putin jetzt macht, hat mich die Naivität, Dummheit und auch die Käuflichkeit im Westen entsetzt. Von Wladimir Putin habe ich nichts Anderes erwartet, darüber habe ich auch vor acht oder zehn Jahren schon geschrieben. Mich schockiert jedoch völlig, dass uns hier der Kompass verrutscht ist. Die NSA-Affäre beispielsweise zeigt, was wir für Probleme haben, aber das sind Missstände in einem demokratischen Land, in dem rechtsstaatliche Prinzipien herrschen, und wir setzen das gleich mit einem Unrechtsstaat, wie wir ihn in Russland haben. Und viele von uns können anscheinend nicht mehr unterscheiden, ob es um Missstände geht, oder, ob Missstände die Regel sind.

Putin hat fünf Jahre in der DDR gelebt. Wie hat ihn diese Zeit geprägt und wie betrachtet er Deutschland?
Ich glaube, dass die Zeit ihn sehr stark geprägt hat. Es war genau die Zeit, in der die Russen Perestroika und Glasnost als Befreiung und als ein Ende der Diktatur erlebt haben. Bei ihm war es umgekehrt, bei ihm war es keine Befreiung, sondern eine Katastrophe, weil diese kleine heile Welt in der DDR zusammenbrach, die er sehr liebgewonnen hatte. Die DDR hat ihn sehr geprägt, er lebte ja in Dresden, das man als „ARD“ als „Außer Raum Dresden“ bezeichnete, weil man dort kein Westfernsehen empfangen konnte, und wenn man sich heute seine Politik anschaut, dann ist diese in vielem abgekupfert von der DDR. Zum Beispiel dieses angebliche Mehrparteiensystem, wo es sich in Wirklichkeit um Pseudo-Opposition handelt, die Blockparteien oder auch die wunderbaren Reden. Erich Honecker, der Staats- und Parteichef hat in seinen Reden ja auch immer sehr richtige Sachen gesagt, nur hat man sich nicht daran gehalten, und dann frag ich mich, wenn wir damals zu DDR-Zeiten so reagiert hätten wie heute, dann wäre die Berliner Mauer nicht als Mauer in die Geschichte eingegangen, sondern als antifaschistischer Schutzwall. So hat Honecker damals die Mauer bezeichnet, nur ist man dem damals nicht so auf den Leim gegangen. Heute gehen wir eben vielem auf den Leim und das hat auch damit zu tun, dass Putin ganz geschickt in alter KGB-Manier agiert, zum einen mit vielen Helfern—bei Gerhard Schröder angefangen bis hin zu Alice Schwarzer—und zum anderen, dass zum Beispiel im Internet massig manipuliert wird.

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Mir ist vor allem der Unterschied zwischen den Reaktionen auf einen Bruch des Völkerrechts jetzt und 2003 im Irakkrieg aufgefallen. Damals war die öffentliche Meinung in Deutschland sehr kritisch, es gab einen Aufschrei, Russlands Verhalten auf der Krim dagegen wird nicht in vergleichbarer Weise verurteilt, sondern sogar positiv gesehen.
Da sprechen Sie mir aus der Seele. Es ist etwas, das mich zutiefst schockiert. Man kann den Irakkrieg verurteilen und ich finde es auch richtig, wenn man sich sehr kritisch mit ihm auseinandersetzt, aber wer den Irakkrieg verurteilt und bei der Krim schweigt oder das gutheißt, dem sind meiner Meinung nach die moralischen Maßstäbe total verrückt. Heute gab es eine Umfrage, dass nur noch 45 Prozent strikt für die Westintegration sind, und 49 Prozent sagen, man sollte einen Mittelweg zwischen Russland und dem Westen finden. Das entsetzt mich—wo ist denn ein Mittelweg zwischen Diktatur und Demokratie? Das ist eine Halbdiktatur, die wir wollen.
Wir sind in den 50 Jahren Wohlstand und Demokratie, die wir Gott sei dank hatten, sehr naiv geworden. Wir halten das für einen gottgegebenen Zustand und wir sind nicht mehr in der Lage, uns zu vergegenwärtigen, was eine Diktatur ist. Das ist sehr gefährlich, denn Freiheit, Demokratie und Wohlstand waren in der Geschichte immer die große Ausnahme, und wenn wir dafür nicht kämpfen, besteht die Gefahr, dass wir zu dem zurückkehren, was in der Geschichte leider immer die Regel war.

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Es wird gesagt, dass Putin großen Respekt vor Angela Merkel hat. Ist dem immer noch so und inwiefern hätte Deutschland dann noch Einfluss auf seine Politik?
Der Respekt vor dem Westen hat bei ihm ganz entschieden nachgelassen. Ich weiß von meinen Moskauer Quellen, dass man sich im Kreml über die westlichen Staatschefs lustig macht und sie als Impotente belächelt. Angela Merkel ist wahrscheinlich die, vor der er noch den meisten Respekt hat, aber sie ist im Moment sehr, sehr vorsichtig. Ich denke, sie ist unter den westlichen Staats- und Regierungschefs diejenige, die ihn am besten durchschaut, weil sie als DDR-Bürgerin das System durchblickt, aber andererseits ist sie auch jemand, der durchaus zum Aussitzen geneigt ist, und ich fürchte, das beobachten wir hier.

Was hätte unternommen werden können, um die derzeitige Eskalation abzuwenden?
Ich bin überzeugt, dass wenn man Wladimir Putin früher eine rote Linie aufgezeichnet hätte, dann wäre es nicht soweit gekommen, wie es jetzt gekommen ist. Allein deswegen weil die Leute in seinem Umfeld kein Interesse an einer Verschärfung der Beziehungen mit dem Westen haben—die Oligarchen, die Superreichen—auch jetzt ist es noch nicht zu spät, zumindest mittelfristig etwas zu bewirken, etwa Sanktionen gegen die 150 Wirtschaftsführer, die Oligarchen aus dem engen Umfeld von Putin. Wenn zum Beispiel ein Roman Abramowitsch nicht mehr zu seinem Fußballclub nach London fliegen kann, die Oligarchen nicht mehr in den Urlaub oder zu ihren Familien ans Mittelmeer, dann würde Wladimir Putin über kurz oder lang ein Problem bekommen.

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Was für eine Rolle spielt Deutschlands Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland?
Da muss man ganz klar sagen, dass diese Abhängigkeit, wie sie heute besteht, eindeutig die Folge der Tätigkeiten des Ex-Bundeskanzlers Gerhard Schröder sind, und ich bin sehr erstaunt, dass man sich in Deutschland jahrelang mit der angeblichen Vorteilsnahme des Ex-Bundespräsidenten Wulff beschäftigt hat, aber sich nicht damit beschäftigt hat, dass seine Regierung eine Milliardenbürgschaft für Gazprom absegnet, und er kurz darauf in die Dienste dieser Firma wechselt. Dass wir da keine Diskussion haben, das überrascht mich maßlos. Wobei ich denke, dass Putin genauso abhängig ist. Auch wenn in der Öffentlichkeit die Irrmeinung geschürt wird, dass Putin das Gas nach China oder Indien verkaufen könnte. Das kann er nicht, denn erstens würde es Jahre dauern, um diese Pipelines zu bauen, und zweitens sind die Inder oder die Chinesen nicht diese zuverlässigen und, ich würde fast sagen, naiven Kunden, die Höchstpreise bezahlen, da würde er sehr viel weniger bekommen, und das ist eine beidseitige Abhängigkeit. Ich denke, dass Putin sehr viel abhängiger von uns ist als wir von ihm.

Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass sich Putin in eine Situation manövriert hat, in der er eigentlich nichts anderes tun kann, als die Eskalation voranzutreiben, da er sonst in Russland sein Gesicht verlieren würde?
Auf der einen Seite ist das tatsächlich so, auf der anderen Seite muss man sehen, dass er die Medien ja auch steuert, und insofern könnte er sie auch zurücksteuern lassen. Aber er hat da mit dem Feuer gespielt, dieses Feuer ist entflammt, und es wäre für ihn sehr schwer, dieses Feuer wieder in den Griff zu bekommen. Im gewissen Maße ist er hier auch der Gefangene der Geister, die er selbst gerufen hat. Der Geister der 1930er Jahre. Man muss sich immer bewusst machen: Das, was wir heute in Russland erleben, erinnert ganz stark an die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts—ich nenne es provokativ manchmal Bolschewismus ohne Sozialismus—und es ist kein Zufall, dass Wladimir Putin so viel Unterstützung von den Rechtsradikalen in Europa hat, denn dieses System hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Rechtsradikalismus, vor allem stützt es sich auf rechtsradikale Tendenzen.

Wie stehen Sie zu den vielleicht etwas unglücklich formulierten Aussagen von Wolfgang Schäuble, der Parallelen zwischen dem Vorgehen Russlands auf der Krim und Hitlers Politik gezogen hat?
Ich finde es nicht unglücklich. Ich fände es unglücklich, wenn er es nicht verglichen hätte. Wir Deutschen haben ein Problem mit dem Wort vergleichen und gleichsetzen, denn vergleichen kann man alles—man kann auch Gandhi mit Hitler vergleichen und zu dem Schluss kommen, dass sie überhaupt nichts Gemeinsames haben. Es wäre sträflich, nicht in die Geschichte zu blicken, nicht zu schauen, was damals passiert ist, und keine Schlussfolgerungen zu ziehen. Das heißt nicht, dass ich das gleichsetzen möchte, aber dass es einige Ähnlichkeiten gibt und dass man gut bedient ist, wenn man diese untersucht. Ich finde es schade, dass in Deutschland kaum noch eine nüchterne Diskussion möglich ist. Ich denke, man muss sagen, das ist die Rückkehr von Gewalt in Europa, das ist die Rückkehr von Verschiebung von Grenzen und das muss verurteilt und gestoppt werden.

Würde es Putin Ihrer Meinung nach auf eine direkte Konfrontation mit dem Westen ankommen lassen?
Wenn man ihm jetzt nicht ganz klar Grenzen aufzieht und ganz klar aufzeigt, bis hier hin und nicht weiter, dann kann ich nicht mehr ausschließen, dass er, weil er von der Realität ganz losgelöst ist, auch noch so einen verrückten Schritt tut. Vor wenigen Wochen hätte ich noch gesagt, das kann nicht passieren, ich bin auch heute noch der Hoffnung, dass es nicht passiert, aber ich würde mich heute nicht mehr trauen, das auszuschließen.

Am 9. März erscheint Boris Reitschusters Buch „Putins Demokratur – Ein Machtmensch und sein System“ in stark erweiterter und aktualisierter Auflage, Econ Berlin