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Sex

Das Inzest-Verbot ist ein heuchlerisches Unrecht

Ohne Gesetz würden Brüder und Schwestern auch nicht übereinander herfallen.

Foto von Flickr; .tafo.; CC BY-ND 2.0

1958 in einem kleinen Dorf im Kanton Aargau. Susanna lebt mit den Eltern, vier Brüdern und der älteren Schwester Margerite auf einem Bauernhof. Die Kinder arbeiten hart—die Buben auf dem Feld, die Mädchen zuhause. „Auch sonst hatten wir nicht so viel mit unseren Brüdern zu tun", erzählt mir Margerite, als ich sie zum Kaffee treffe. Ihre Eltern hatten die Kinder konservativ erzogen. Aufklärung war nie ein Thema in der Familie, über Sex wurde niemals gesprochen.

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„Als der älteste Bruder bei meiner Schwester ins Bett kroch und ihr sagte, er wolle etwas ausprobieren—sie sollte nun kein Spielverderber sein—da hatte Susanna keine Ahnung was geschah."

Susanna wurde mit 17 Jahren von ihrem Bruder schwanger. Statt den Fötus abzutreiben, wie sie es verlangte, zeigte der Arzt die Geschwister, auch Susanna, an. Sie kam bis zur Geburt ihrer Tochter in eine geschlossene Einrichtung, der Bruder ins Gefängnis. Sie wurde Opfer der administrativrechtlichen Versorgung; die Massnahme wurde mit der Begründung ein „liederliches Leben" zu führen vollzogen.

Strafe und Stigmatisierung statt Hilfe. „Liederlich" steht laut Duden für moralisch verwerflich. Der Staat griff in das Privatleben junger Menschen ein, wenn ihr Lebensstil nicht den gängigen gesellschaftlichen Konventionen entsprach. Bis 1981 wurden solche fürsorgerischen Massnahmen in der juristischen Praxis angewendet. Bis heute sprechen Richter Moralurteile aus.

Foto von Flickr; Julian Fong; CC BY-SA 2.0

Dass der Vergewaltiger auch moralisch verurteilt wird, ist verständlich, aber der Straftatbestand beim Vergewaltigungsopfer baut nur auf einem Gebräu aus christlichem Wertekanon und Frauenverachtung auf.

Der Bruder musste sich dann auch nicht wegen Missbrauch oder Vergewaltigung verantworten. Stattdessen lautete der Tatbestand auf Inzest. Auch Susanna wurde bestraft. Ihre Geschichte zeigt auf, wie gesellschaftliche und soziale Regeln die juristisch relevanten Normen mitprägen und bestimmen.

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Nach Artikel 213 des Strafgesetzbuches ist Inzest ein Straftatbestand. Das geht aufs 3. Buch Moses zurück: Gott hat auf dem Berg Sinai zu Mose gesprochen und dabei unsere Moral gestrafft: Inzest, Sex während der Menstruation und Analverkehr unter Männern hat er verboten. Seit ein paar Jahren gibt es eine Debatte darüber, den veralteten Artikel aus dem Gesetzesbuch zu streichen.

Foto von Flickr; Blondin Rikard; CC BY 2.0

Kindesmissbrauch und das Ausnützen von Abhängigkeitsverhältnissen wird durch andere Paragrafen geregelt und höher bestraft. Der Inzest-Artikel kommt nur dann zur Anwendung, wenn sich zwei nah verwandte Erwachsene aus freiem Willen dazu entscheiden, zusammen Sex zu haben. Wer bitte ist bei einvernehmlichem Geschlechtsverkehr der Geschädigte?

Das Totschlagargument: Deren Kinder! Inzest kreiert aber nicht Erbgutstörungen aus dem Nichts. Von jeder Erbanlage hat der Mensch zwei Versionen. Wenn das eine Gen einen Defekt hat, wird dieser durch das andere, gesunde Gen kompensiert. Geschwister sind etwa zur Hälfte genetisch identisch.

Wenn beide einen Gendefekt haben und ein gemeinsames Kind zeugen, sind die Chancen höher, dass beide das defekte Gen weitergeben. Das Kind ist dann behindert. Der Gedanke ist absurd, das Recht auf Gesundheit eines ungeborenen Lebewesens mittels Inzest-Verbot zu schützen, ihm aber dadurch sein Existenzrecht gänzlich abzusprechen.

Dieser Ansatz ist zu verurteilen. Denn er ist ein Angriff auf die Freiheit eines jeden, der nicht komplett intakte Erbanlagen besitzt. Es werden so Menschen mit Gendefekten diskriminiert indem sie als zeugungsungeeignet eingestuft werden. Der Staat nutzt den Gesetzesartikel zur impliziten Eugenik. Zu Ende gedacht bedeutet dies nicht weniger als die juristische Verhinderung angeblich lebensunwerten Lebens.

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Foto von Flickr; Ivan; CC BY-SA 2.0

Die Schweiz ist in Sachen Eugenik niemals nur Mitläuferin gewesen. Berühmte Schweizer Persönlichkeiten wie Auguste Forel und Ernst Rüdin gehörten zu den Kräften und Wegbereitern der nationalsozialistischen Rassenhygiene.

Umso grösser ist die Verantwortung, welche die Schweiz heute tragen sollte. Erst 2004 wurde das Sterilisationsgesetz erlassen, das Sterilisationen von dauerhaft urteilsunfähigen Menschen unter gewissen Umständen zulässt. Nicht mehr durch die Eugenik motiviert—trotzdem bleibt ein Nachgeschmack bei Eingriffen ohne Einwilligung der Betroffenen.

Wenn der Staat mit dem Inzestverbot gesunden Nachwuchs fördern wollen würde, müsste Sex mit Kondom oder anderen Verhütungsmethoden straflos bleiben. Unfruchtbarkeit müsste Freispruch bedeuten. So müsste ein Geschwisterpaar, das zwar keinen Sex hat, aber eine künstliche Befruchtung vornehmen lässt, bestraft werden. So dürften inzestuöse, homosexuelle Kontakte bedenkenlos ausgelebt werden.

Dem ist aber nicht so, jede Form von Geschlechtsverkehr zwischen Blutsverwandten steht unter Strafandrohung. Daneben gibt es heute medizinische Testmethoden, bei denen Gendefekte erkannt und ausgeschlossen werden können. Welchen Zweck erfüllt Artikel 213?

Foto von Flickr; jinterwas; CC BY 2.0

Woher kommt diese Abneigung gegenüber Inzest? Sie mag kulturell gewachsen sein, war aber nicht immer da. Im alten Ägypten waren Eheschliessungen zwischen Geschwistern üblich. Kleopatra war mit ihren zwei Brüdern verheiratet. Tutanchamun war ein Inzest-Kind.

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Aber auch die Perser und alten Griechen lebten in inzestuösen Beziehungen. Der Anthropologe Westermarck stellte die Theorie auf, dass Kinder aneinander das sexuelle Interesse verlieren, wenn sie zusammen aufwachsen. Ein prominenter Inzest-Fall in Deutschland bestätigt diese Annahme: Die Geschwister Patrick und Susan, die heute vier gemeinsame Kinder haben, lernten sich erst im Erwachsenenalter kennen.

Egal aus welchem Grund wir Inzest intuitiv ablehnen—unsere Abneigung bleibt eine Tatsache und ein Ergebnis der Konvention unseres Zusammenlebens und Familienverständnisses. Inzest wird nicht darum vermieden, weil er verboten ist, sondern weil wir kein Bedürfnis verspüren mit Vater, Mutter, Bruder oder Schwester ins Bett zu hüpfen. Dass Susanna wegen dem unverschuldeten Faktum, ein Kind von ihrem Bruder bekommen zu haben, das Leben lang in Scham verbringt und ihre Geschichte geheim hält, ist das Ergebnis dieser konsequenten gesellschaftlichen Moral. Auch in der zivilen Verurteilung—die wir alle täglich betreiben—sollte man differenzieren.

Foto von Flickr; barockschloss; CC BY 2.0

Mit der Abschaffung des Artikels 213 im StGB wird Inzest deshalb nicht enttabuisiert, sondern lediglich straffrei. In unserem Rechtssystem gelten wir in den Bereichen Lebensgestaltung und Persönlichkeitsentfaltung als absolut frei. Recht darf nicht auf einem moralischen Bauchgefühl beruhen, religiös motiviert sein und Stigmatisierung fördern.