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Occupy Turkey

Jeder Gegner Erdogans ist ein Gegner der Türkei

Im und vor dem Tempodrom in Kreuzberg versammelten sich Tausende Anhänger, um die Ankunft Erdogans euphorisch zu feiern. Für außenstehende Beobachter wirkte der Auftritt des Premiers jedoch befremdlich.

Der türkische Premierminister ist bereits gestern Abend wieder in die Türkei zurückgekehrt. Sein kurzer Besuch hat bei den in Deutschland lebenden Türken trotzdem für einige Aufregung gesorgt. Während seine Gegner ihn bei verschiedenen Demonstrationen empfingen wie einen größenwahnsinnigen Diktator, versammelten sich im und vor dem Tempodrom in Kreuzberg Tausende Anhänger, um die Ankunft ihres Helden euphorisch zu feiern.

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Bereits Stunden vor der für 18 Uhr angekündigten Rede hatten Anhänger begonnen, entlang der Absperrungen an der Zufahrtstraße zum Tempodrom Aufstellung zu nehmen. Obwohl die UETD, der Organisator der Veranstaltung und eine der wichtigsten Lobby-Organisation der AKP in Deutschland, im Vorfeld Karten an Anhänger verteilt hatte, waren viele Menschen auch ohne Ticket gekommen—in der Hoffnung, trotzdem irgendwie einen Platz in der Konzerthalle zu ergattern.

Die meisten wurden enttäuscht, und die Polizei war von dem Ansturm leicht überfordert, was anfangs immer wieder für Spannungen sorgte. Als ein paar Erdoğan-Gegner ein Schild mit der Aufschrift „Revolution ist der einzige Weg“ hochhielten, wurden sie solange ausgebuht, bis die Polizei sie bat, sich zu entfernen. Bald danach beruhigte sich auch die Stimmung, und die Menschen stellten sich darauf ein, Erdoğan wenigstens im Vorbeifahren zuwinken zu können.

„Wir haben kein Ticket—alle haben kein Ticket“, erklärte mir ein Mann an der Absperrung. „Aber wir wollen Erdoğan sehen, denn er ist der beste Lehrer.“ Der beste Lehrer für die Türken? „Für die Welt, nicht nur für die Türken! Das ist eine große Chance für die Welt.“
Dieselbe Verehrung war bei fast allen Anwesenden zu spüren. Hatice, eine Chemie-Studentin an der HU, erklärte, sie warte bereits seit drei Stunden auf den Ministerpräsidenten. „Es ist es wert, hier auf ihn zu warten“, bekräftigte sie. „Ich finde einfach alles gut, was er gemacht hat. Dass er sein Volk unterstützt, dass er auch nach Deutschland kommt und uns unterstützt, dass er auch mit Merkel darüber gesprochen hat, dass er für uns da ist.“ Auch die jüngsten Korruptionsvorwürfe konnten sie davon nicht abbringen. „Das ist schon ein Thema, aber ich glaube an ihn, und ich will meinen Glauben an ihn nicht verlieren.“

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18 Uhr war schon lange durch, und die Menge wurde langsam ungeduldig. Immer wieder rief jemand: „Er kommt!“ Und alles lief nach vorne, um Sprechchöre anzustimmen und ein Foto zu erhaschen. Wären nicht die vielen Halbmondfahnen gewesen, hätte man sich wie auf einer Papstmesse fühlen können. In einer der Pausen fragte ich Emre, einen 16-Jährigen mit einem beeindruckenden Brustkorb, warum den Leute einen Blick auf den Ministerpräsidenten so wichtig war. „Wir lieben ihn, er ist unser Ein und Alles, er ist der Beste, den es in der Türkei je gab!“, erklärte er stolz. „Was der aufgebaut hat, was der alles gemacht hat für die Türkei, das ist nicht mehr in Worte zu fassen. Das, was er geschafft hat, schafft keiner.“ Auch Gezi oder die Korruptionsaffäre machten ihm keine Sorgen, da hätte das Volk einfach etwas „übertrieben“. „Der will doch nur Gutes, und ich mein, wenn man was Gutes will, wieso sollte man böse sein?“

Leider wurde irgendwann klar, dass Erdoğan nicht hier vorbeikommen würde, und die Leute gingen langsam nach Hause. Im Tempodrom erreichte die Stimmung währenddessen ihren Höhepunkt, als Reccep Tayyip Erdoğan endlich die Bühne betrat.

„Meine lieben Brüder und Schwestern!”, begann Erdoğan die Rede, und fuhr fort, die hingerissene Menge von den „77 Millionen Bürgern und Bürgerinnen der Türkei“ zu grüßen. Die Menge jubelte. Die Grüße von Angela Merkel und Sigmar Gabriel stießen auf eher weniger Interesse, aber ab jetzt drehte sich die Rede auch nur noch um die Türkei und traf damit genau den richtigen Ton.

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„Wir wissen, dass sie die Türkei beobachten, und ich will Ihnen sagen: Die Türkei ist in sicheren Händen“, rief der Ministerpräsident der begeisterten Menge zu. „Die Türkei wächst, aber mit Sicherheit, sie läuft schnell in die Zukunft, ohne ihre Werte zu verlieren! Die Türkei überspringt Grenzen, Barrikaden und befreit sich von Fesseln. Sie ist sicher und wächst weiter, bis zum Jahre 2023!“

Damit spielte er auf seinen Traum an, zum hundertjährigen Bestehen der türkischen Republik immer noch an der Spitze des Landes zu stehen. Zu dem Zweck hat Erdoğan tiefgreifende Verfassungsänderungen durchgesetzt, die dem Amt des Präsidenten mehr Macht verleihen (Ministerpräsident darf er nicht noch einmal werden). Die erste Direktwahl des Präsidenten steht in diesem Sommer bevor, und die in Deutschland lebenden Türken werden zum ersten Mal ihre Stimme abgeben dürfen. Die Stimmen dieser 1,3 Millionen wahlberechtigten türkischen Staatsbürger können die Wahl entscheiden. Im Tempodrom hatte man das Gefühl, dass es für Erdoğan ein Heimspiel werden wird.

Trotzdem zählte der Premier stolz die Errungenschaften seiner Regierung auf: wirtschaftlicher Wachstum, verbesserte Lebensbedingungen, mehr Menschenrechte. Die bis jetzt größten Misserfolge seiner Amtszeit—der autoritäre Umgang mit den Gezi-Protesten und die immer noch andauernde Schlammschlacht um die Schuhkarton-Korruptionsaffäre—erklärte er in altbewährter Manier für Verschwörungen gegen die Türkei: „Es gibt Kreise, die von außen in die Türkei hineinwirken“, rief er dem Publikum zu. „Sie versuchen, das Land in seinem Willen und seiner Stärke zu beugen, und die alten Zeiten herbeizuführen. Aber die Türkei hat ein starkes Selbstbewusstsein, und das zeigt sie an der Wahlurne!“

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Kurz gesagt: In der Türkei gibt es keine Probleme, nur Fortschritt. Wer von Problemen wie Korruption spricht, der lügt. Wer lügt, ist höchstwahrscheinlich ein „Gegner des wirtschaftlichen und politischen Fortschritts“, ein Teil der Weltverschwörung, die nur „Fallen und Komplotte“ für die Türkei im Sinn hat. Fazit: Da Erdoğan den Fortschritt in der Türkei personifiziert, ist jeder Gegner Erdoğans automatisch ein Gegner der Türkei.

Hätten Hatice und Emre die Rede hören können, hätten sie ihm möglicherweise aus vollem Herzen zugestimmt. Für deutsche Beobachter wirkt der Auftritt des Premiers trotzdem befremdlich. Die Türkei hat unter der Regierung Erdoğan tatsächlich eine ihrer stabilsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Zeiten erlebt, und das ist nicht zu kleinen Teilen dem enormen Durchsetzungswillen des Premiers zu verdanken.

Wenn Erdoğan sich jetzt aber immer offener selbst mit dem Erfolg der Türkei gleichsetzt, dann ist jede Kritik an ihm Hochverrat. Solange er die Mehrheit der türkischen Wähler hinter sich hat, scheint er auch wirklich keinen Grund zu sehen, sich überhaupt mit so Spitzfindigkeiten wie Gewaltenteilung oder Meinungsfreiheit abzugeben. Wie weit seine Intoleranz für auch die kleinste Unstimmigkeit gehen kann, zeigt ein geleaktes angebliches Abhörprotokoll, das gerade auf Twitter kursiert. Darin befiehlt Erdoğan dem CEO eines Fernsehsenders, eine Bildunterschrift aus seinem laufenden TV-Programm zu entfernen, weil sie ihm nicht gefiel. Der CEO gehorchte.

Fotos: Björn Kietzmann