Wir haben mit einem Dealer über die Eskalation am Kottbusser Tor gesprochen
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Wir haben mit einem Dealer über die Eskalation am Kottbusser Tor gesprochen

"Die Touristen haben keine Ahnung, wie gefährlich die Gegend hier wirklich ist."

Das Kottbusser Tor gilt schon seit Jahren als einer der größten Drogenumschlagplätze Berlins. Die Umsätze hier sind riesig, Angebot und Nachfrage sind schließlich auch entsprechend groß: Zu kaufen gibt es hier alles, ob Heroin, Pillen oder Ketamin. Der Stoff wird an Kunden verkauft, die das gesamte Spektrum vom einheimischen Junkie bis hin zum Party-Touristen abdecken. Die Anwohner hatten sich eigentlich daran gewöhnt.

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Seit diesem Winter allerdings hat sich die Situation am Kotti noch einmal deutlich verschlechtert: Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der von der Polizei erfassten Drogendelikte beinahe verdoppelt. Gleichzeitig haben Überfälle um die Hälfte zugenommen, die Diebstähle haben sich ebenfalls verdoppelt. Die Anwohner und Geschäftsleute am Platz schlagen immer öfter Alarm, sogar von Selbstjustiz war die Rede. In den Medien fiel immer öfter das Wort „No-Go-Area".

Foto: Gergana Petrova

Die Gründe für den Anstieg von Gewalt und Kriminalität werden zwar mitunter sehr emotional diskutiert, aber die meisten Anwohner sind sich einig, dass es mit den Flüchtlingen aus Nordafrika zusammenhängt, von denen seit letztem Jahr immer mehr am Kotti zu sehen sind. Viele von ihnen sind als Asylsuchende nach Deutschland gekommen. Sie stecken irgendwo im bürokratischen System fest, haben so gut wie keine Chance auf Papiere und noch viel weniger zu verlieren. Am berüchtigten Kotti braucht niemand einen Lebenslauf, um zu arbeiten. Der Kotti ist ein Arbeitgeber, der für Chancengleichheit steht.

Jede Woche wird die Polizeipräsenz größer, und doch bleibt die Situation unverändert: Die Dealer dealen, die Kunden kaufen und die Anwohner beschweren sich. Business as usual, sozusagen. Die Polizeieinsätze sind inzwischen so normal wie Döner- und Falafelbuden. Wie auch die Polizei immer wieder bestätigt, halten sich zu jedem Zeitpunkt etwa drei oder vier Polizisten in Zivil dort auf, in den Cafés, auf der Straße, in den Restaurants. In der Bibliothek gibt es Überwachungskameras. Nichts kann am Kotti ungesehen passieren—und doch scheint das die Dealer nicht abzuschrecken. Manche der „Ticker" sind nicht älter als 17.

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Es ist nach Mitternacht an einem Sonntag, und das Kottbusser Tor sieht so gut wie menschenleer aus. Nur die Nachtschicht-Dealer sind noch da. Mohamed* hält an einem Internetcafé und grüßt einen Kollegen, der sich gerade einfach die Zeit vertreibt. Ein paar Minuten später kommt der Typ aus dem Café gerannt. Er ruft Mohamed etwas zu und beide lachen. Nur eine Sekunde später trifft die Polizei ein. Acht Beamte springen aus einem großen Transporter und stürmen ins Internetcafé. Sie sind zu spät dran.

Foto: Grey Hutton

Diese Art von Katz-und-Maus-Spiel, das im Grunde für beide Seiten ein Ärgernis darstellt, findet am Kotti täglich statt. Mohamed kam vor drei Jahren aus Libyen nach Deutschland und ist einer der „Aufpasser", die verhindern sollen, dass ihr Dealer-Team von der Polizei erwischt wird. Er macht den Job seit zwei Jahren und kennt das Geschäft wie seine Westentasche. Mohameds ist ziemlich aufgeweckt, und sein Englisch ist perfekt.

Ich setze mich mit ihm an einen der wenigen Orte am Kotti, an denen er kein Hausverbot hat, um endlich auch mal die Sicht der Dealer zu hören.

VICE: Wie ist dein Job hier?
Mohamed: Du weißt nie, was mit dir passieren wird. Jeder Tag ist anders. Eine Sache ist aber sicher: Es gibt immer Probleme. Ich muss jede Sekunde auf der Hut sein—die Bullen, die Konkurrenz, die Anwohner. Jedes Mal gibt es wieder neue Gesichter. Vielleicht wandert jemand ins Gefängnis oder jemand wird abgeschoben, aber am nächsten Tag stehen fünf Neue am Kotti. Welchen Unterschied macht es schon? Der einzige Unterschied ist, dass es inzwischen viel mehr Leute sind und das Problem damit zu sichtbar geworden ist.

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Was machst du genau?
Ich deale nicht. Ich passe nur auf, dass die Dealer, mit denen ich arbeite, nicht in Schwierigkeiten geraten. Als ich vor zwei Jahren am Kottbusser Tor ankam, war es noch anders. Wir waren nur wenige Leute und wir kannten einander alle. Wir hatten das Gebiet gut aufgeteilt und standen uns nicht gegenseitig im Weg. An einem guten Tag konnte man mit 1.000 Euro nach Hause gehen.

Und jetzt?
Seit letztem Jahr ist es hier allerdings wie ein Irrenhaus geworden. All die neuen Typen aus Marokko, Tunesien, Algerien sind Anfang 2015 nach Berlin gekommen. Sie sind nicht aus Nordafrika gekommen, sondern hauptsächlich aus Frankreich und Italien. Sie waren dort Kriminelle und haben sich aus irgendeinem Grund entschieden, nach Deutschland zu kommen. Selbe Scheiße, andere Toilette. Ich schätze, sie wussten, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufnimmt, und haben einfach ihr Glück versucht.

Was denkst du über die Neuen?
Ich mag die neuen Typen nicht, die machen das ganze System kaputt. Sie verkaufen Drogen, nehmen Drogen und rauben Leute aus, alles gleichzeitig. Das ist total daneben. Wir haben das Vertrauen der Kundschaft verloren. Stell dir vor, wie abgefuckt es ist, wenn du Drogen kaufen gehst und der Dealer nimmt dir deine Tasche ab. Am Anfang konnten wir die Situation unter Kontrolle halten und die Diebe auf Abstand halten, aber jetzt sind es zu viele. Diese neuen Typen dröhnen sich zu, um furchtlos zu sein. Wenn jemand sich wehrt, um sein Zeug nicht zu verlieren, wird zugestochen. Touristen haben gar keine Ahnung, wie gefährlich die Gegend ist.

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Was hast du gemacht, bevor du nach Deutschland gekommen bist?
In Libyen habe ich Wirtschaftswissenschaft studiert und in den Ferien habe ich an einer Ölquelle gearbeitet. Ich habe gutes Geld verdient, so 3.000 Dollar im Monat. 2011 habe ich mich als Freiheitskämpfer der Revolution gegen Gaddafi angeschlossen. Wir waren jung, idealistisch und bereit, für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Wir haben Gaddafis Tod gefeiert. Ich war dort, als er festgenommen wurde. Er sah so klein und erbärmlich aus, überhaupt nicht wie im Fernsehen.

Die anfängliche Euphorie war ziemlich schnell verflogen, 2013 war es in Libyen schlimmer als je zuvor. Gaddafis Erbe fing an, sich bemerkbar zu machen. Es gab so viele Waffen, dass alle bewaffnet waren. Alle haben sich gegenseitig umgebracht. Ich wusste, dass ich da weg musste. Also bin ich nach Malta gegangen, von dort in die Türkei und dann nach Deutschland.

Am Anfang war das Leben gut—ich war in einer Band und hatte eine Freundin. Ich hatte noch 10.000 Dollar von meinem Job in Libyen gespart. Nach einem Jahr gingen mir meine Ersparnisse aus und mir wurde klar, dass ich mit Musik nicht genug Geld verdienen konnte, nicht einmal in Deutschland.

Freunde haben mir gesagt, ich soll zum Kotti gehen. So hat es angefangen. Es war gutes Geld, die Arbeit war einfach und die Bullen haben kaum Ärger gemacht. Das Problem ist, dass du nie wirklich das Geld behalten kannst, das du verdient hast. Nach der Arbeit rufen dich Leute an und wollen in den Club gehen, du kaufst selbst Drogen, du trinkst, spielst an den Spielautomaten oder landest bei Mädchen.

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Erzähl mir doch ein paar Details. Was wird verkauft? Wie viel verdienst du? Wie teilt ihr das Gebiet auf?
Das hier ist ein großer Markt, auf dem es alle möglichen Drogen gibt. Heroin, Kokain, Gras, Hasch, Pillen, Ketamin—wenn es dir einfällt, dann haben wir es. Die Kunden sind Anzugträger, Touristen, Anwohner. Alles vom gewöhnlichen Junkie bis hin zu Ärzten.

Unser Team verkauft Hasch. Wir sind Libyer und wissen deswegen, wie man es strecken und verpacken muss. Unsere Kunden waren immer zufrieden mit uns, weil wir ihnen immer gutes Zeug gegeben haben. Jetzt gibt es einige neue Typen, die schlechte Qualität verkaufen und uns damit das Geschäft ruinieren. Es gibt auch die Heroin-Junkies, die Hasch verkaufen, um an ihren nächsten Schuss zu kommen.

Die Leute, die ich nicht leiden kann, sind die Heroin-Dealer. Die verkaufen den Tod. Braunes ist nicht so teuer wie Koks, aber die Leute, die es nehmen, können nicht ohne es leben. Die ersten Kunden kommen um 4 Uhr morgens zitternd und verzweifelt an.

Die Heroin-Dealer fangen früh am Morgen mit der Arbeit an und hören am späten Nachmittag auf. Am Ende ihrer Schicht gehen sie mit 1.000 Euro nach Hause. Heroin ist das profitabelste Geschäft. Es ist nicht wie bei den Partydrogen, die hauptsächlich am Wochenende gefragt sind.

Der Rest von uns verdient maximal 200 bis 300 Euro am Tag. Das Heroingeschäft wird von den Libanesen kontrolliert. Sie sind nicht neu in Deutschland, sondern hier geboren oder seit Langem hier. Sie kennen das System und wissen, wie man ihm ausweicht. Die Dealer geben sich erst gar nicht die Mühe, sich zu verstecken. Sie verkaufen vor dem Casino 36 und in der U-Bahn. Die Heroin-Dealer sind hauptsächlich aus Tschetschenien, Albanien und Deutschland.

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Hast du nicht Angst, dass man dich verhaften und abschieben könnte?Heutzutage weißt du ja nicht mal mehr, ob du nachts noch heil nach Hause kommst. Es hat viele Kämpfe unter den Dealern gegeben. Schau dir meine Haare an—jemand hat bei einem Kampf ein ganzes Stück abgeschnitten.

Ich denke, viele der Typen hier würden keine Drogen verkaufen, wenn sie eine andere Wahl hätten. Dealer am Kotti zu sein, ist ein gefährlicher Job. Jeden Tag gibt es Festnahmen. Kämpfe und Messerstechereien stehen auch auf der Tagesordnung—die Dealer kämpfen untereinander, dann Dealer gegen Diebe und Dealer gegen Kunden.

Die Polizei weiß über alle Aktivitäten am Kotti Bescheid, also wer was verkauft und wie viel sie damit verdienen. Überall sind Kameras. Die Zivilbullen sind auch immer da, wir kennen sie und sie kennen uns. Es muss für die Polizei ein ziemlich lukratives Geschäft sein, denn sie nimmt Dealern ständig Bargeld und Handys weg. Ich frage mich aber, ob sie jemals die großen Fische kriegen. Sie verhaften uns kleine Fische und versuchen, an die Bosse ranzukommen. Es ist eine Weile her, dass ich gehört habe, dass jemand Wichtiges verhaftet wurde.

Wer kontrolliert denn das Geschäft?
Es gibt sechs arabischsprachige Familien (aus dem Libanon, Syrien und Algerien), eine türkische und eine kurdische Familie, die das Drogengeschäft kontrollieren. Sie arbeiten zusammen und kämpfen nicht gegeneinander. Die Drogenbosse verdienen das große Geld, aber alle schauen nur auf uns—die Polizei, die Medien. Alle nehmen uns Fußsoldaten ins Visier, auch wenn wir nur Marionetten sind. Die Bosse haben überall Verbindungen. Sie sind unantastbar.

Glaubst du, die ganze Polizeipräsenz wird das Geschäft am Kotti grundlegend verändern?
Ich verstehe nicht, warum alle jetzt auf einmal über den Kotti reden. Hier ist es auch nicht wirklich anders als in der Warschauer Straße. Vor Kurzem wurden drei Leute an der Warschauer umgebracht [wir wissen nur von einem, Anm. d. Red.] und die Polizei hat ihre Kontrolle der Gegend verstärkt. Also sind die Dealer von den Straßen in die Clubs gegangen. Das Geschäft geht aber einfach weiter; es ändert sich nicht wirklich etwas. Man sieht es nur von außen nicht. Drogenbosse haben Vereinbarungen mit Clubbesitzern oder den Securitys. Es ist alles sehr organisiert.

Alles hängt von den Kunden ab. Es wird immer Typen geben, die auf der Straße ticken, weil es immer Leute geben wird, die Drogen kaufen wollen. Wenn nicht hier, dann eben woanders. Wie lässt sich das ändern?

*Name geändert. Aus naheliegenden Gründen konnten wir nicht alles, was Mohamed über die kriminellen Strukturen im Berliner Drogenmilieu erzählt, verifizieren.