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Techno, Drogen und Neonazi-Angriffe: Die wilden Anfangsjahre im Kunsthaus Tacheles

"Einmal haben wir für eine Party den Keller geflutet und sind mit Schlauchbooten darin herumgepaddelt."
Alle Fotos, wenn nicht anders angegeben: Andreas Rost

Der Fotograf Andreas Rost war einer der Gründer des Kunsthaus Tacheles. Die Bilder aus seinem Buch Tacheles – Alltag im Chaos zeigen die wilde Anfangszeit in der Ruine, die zum Aushängeschild für die Kunst und Kultur des Berliner Undergrounds wurde.

Im Jahr 1990 schien alles möglich, die Mauer war weg und die Gedanken nun wirklich frei. Immer mehr Leute besetzten Häuser und wir dachten uns: Das machen wir auch.

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Wir suchten nach dem größten Haus in unserer Umgebung im Ostteil von Berlin-Mitte. Das war das Tacheles. Früher war es eine Einkaufspassage, sie verfiel aber nach dem Zweiten Weltkrieg mehr und mehr. Nachdem ein Teil des Gebäudes wegen Statikproblemen schon Jahre vorher abgerissen worden war, sollte nun auch der Rest gesprengt werden.

Unser Motto war: Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruine. Freunde von uns hatten ein Feuerwehrauto mit Drehleiter—perfekt für eine Hausbesetzung. Wir sind dann mit laufender Sirene und mitten am Tag vor das Tacheles gefahren. Das Auto sah hochoffiziell aus, wir in unseren bemalten Lederjacken eher nicht.

"Was machen Sie denn da?", fragte ein zufällig vorbeischlendernder Abschnittsbevollmächtigter—so hießen Polizisten in der DDR.

"Wir besetzen das Haus."

"Dürfen Sie das denn?"

"Passen Sie mal auf, wenn wir das jetzt nicht machen, dann kommt die Deutsche Bank und holt sich das."

Der kapitalistische Klassenfeind war für den Beamten dann doch das schlimmere Übel. Er salutierte, sagte "Ich habe nichts gesehen" und ging weiter.

Die Vorderseite des Kunsthaus Tacheles an der Oranienburger Straße. Früher konnte man noch ungehindert in jedes Haus gehen und aufs Dach klettern—so ist dieses Bild entstanden

Dann kam der Sommer der Anarchie, in dem die Sonne warm bis Oktober schien. Wir hatten die Toiletten repariert, Wasser und Strom klauten wir von den Häusern nebenan. Außer Ateliers gab es noch ein Kino, ein Theater und ein Café. Es kamen immer mehr Menschen, auch aus dem Westen.

Im Tacheles brauchte man sich nicht schick anzuziehen. In der Ruine machte man sich sowieso die Schuhe kaputt und die Klamotten dreckig. Deshalb sahen wir alle aus wie Bergarbeiter, die unter Tage schufteten.

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Irgendwann klauten zwei Niederländer das Schild von der Ständigen Vertretung der BRD und schraubten es im Keller des Tacheles an. Das war der Startschuss für den Club "Ständige Vertretung", wo wilde Partys stattfanden. Es war einer der ersten Orte in der Stadt, die Techno spielten. Dort durfte niemand fotografieren und für jede Feier richteten wir den Keller neu ein. Einmal haben wir ihn geflutet und sind mit Schlauchbooten darin herumgepaddelt.

Uns ging es damals aber vor allem um die Kunst, wir haben uns einen Scheißdreck um Geld geschert. Wenn jemand etwas machen wollte, hat er es einfach gemacht. Man musste nur aufpassen, dass nicht ein anderer dachte, das sei Schrott, es wegnahm und für sein eigenes Kunstwerk verwendete. Die Polizei verlangte schließlich auch, dass die Autowracks vom Strand, wie wir den Hof nannten, entfernt werden sollten. Wir haben sie dann einfach vergraben und zu Kunst umgewandelt. Und schon durften sie bleiben.

Im Winter wärmten sich die Künstler mit gasbetriebenen Radiatoren und Bier

Nach dem warmen Sommer kam ein harter und langer Winter. Fensterglas konnten wir uns nicht im ganzen Haus leisten und ständig brach die Stromversorgung zusammen. Mit Gasheizungen versuchten wir, die Kälte abzuwehren, aber sie zog trotzdem durch die Kleidung. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie wir den Winter überlebt haben.

Im Jahr darauf überfielen uns Neonazis. In der Nacht kamen sie mit Holzlatten und Molotowcocktails und haben das Café gestürmt. Es gab eine ordentliche Saalschlacht, bei der sie einem von uns das ganze Gesicht verbrannten.

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Immer mehr Leute wollten mitmachen beim Tacheles. Mit ihnen kamen die Drogen und der Streit. Ständig haben wir darüber diskutiert, wie es mit dem Haus weitergehen soll. Das hat mich genervt, deshalb bin ich 1993 ausgezogen.

Als die Polizei das Gebäude 2012 räumte, ging ein Traum kaputt. Freiräume wie das Tacheles haben Berlin berühmt gemacht und verschwinden jetzt. Warum soll noch jemand hierherkommen, wenn es nur noch Luxuswohnungen und Shoppingcenter gibt?

Das bin ich als 25-Jähriger | Foto: Jochen Sandig

Clemens Wallrodt, damals 32, Maler und derjenige, der immer wieder die defekten Stromkabel zusammenlötete. Er schrieb über das Tacheles: "Wir bewegen uns an einem Ort, der relativ kaputt ist, und versuchen, da etwas reinzubauen und da auch zu überleben. Wie können wir uns in einer kaputten Welt behaupten? Was kann man daraus machen?"

Das Treppenhaus, die Verbindung zwischen den Atelieretagen, dem Kino und dem Theater

"Tacheles ist 'ne Nutte mit vier Wänden und 'nem Dach oben drauf", sagte die damals 24-jährige Malerin Natascha Hedtke

Man wusste nie so ganz genau, was Kunst und was Müll ist

Schuttskelette ragten rund um das Tacheles in die Luft

Maler Peter Moors, 32, beschrieb das Tacheles so: "Schöne Aussicht, rosige Gefühle, Strand vorm Haus."

Tom Sojka, 25, Philosoph und Künstler. Das Bild entstand, kurz nachdem ihn Neonazis bei dem Angriff aufs Tacheles verletzt hatten

Der "Strand" direkt vor der Tür. Der musste immer wieder aufgeräumt werden

Die Etage mit den Ateliers. Hier sah es jeden Tag anders aus

Mauz, 24, Videokünstler, fragte mich einmal: "Schau dich doch um hier im Haus! Hast du hier schon mal 'nen Vogel gesehen? Noch nicht mal Ratten. Da fragst du dich wieso, vielleicht verstrahlt?"

Andere Hausbesetzer meinten oft, das Tacheles sei gar nicht besetzt, weil die Fenster nicht vergittert waren und keine rot-schwarze Fahne auf dem Haus wehte. Irgendwann haben wir immerhin eine kleine rote Fahne auf dem Dach angebracht

Jochen Sandig, 24, war für die Organisation und den Bürokram zuständig

Blick durch das Gerippe des Tacheles. Betonstücken hingen überall an Eisenfäden herab

Es war halt eine Ruine, aber trotzdem sehr romantisch