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Popkultur

Obstsalat mit Laurie Anderson und Hund

Über die Liebe, den Tod und das Leben im Überwachungsstaat.

Aus der Crown and Scepter Issue

An einem Dienstag im Oktober stand Laurie Anderson in der Tür ihres Studios im New Yorker Stadtteil SoHo. Sie trug Karohosen und ein loses weißes T-Shirt mit tibetischer Aufschrift. Ihre lässige Coolness tut ihrer freundlichen Ausstrahlung keinen Abbruch. Es war noch Vormittag, doch sie hatte bereits eine Hochzeitsfeier für alte Freunde ausgerichtet. Auf dem Tisch stand noch eine große Schale Obstsalat. „Bediene dich", sagte sie. „Die Schüsseln stehen auf dem Tresen."

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Als wir mit unseren Portionen fertig waren, wandte sich Anderson dem struppigen Hund zu, der neben mir lag. „Willy", sagte sie mit leuchtenden Augen und einem Grinsen, „magst du etwas Obstwasser?" Der Border Terrier bellte zustimmend. „Zurückhaltung ist sein bestes Kunststück", bemerkte sie und stellte die Schüssel auf den Boden. Willy wartete geduldig, bis Anderson ihm das Zeichen gab. „Guter Junge!", lobte sie.

Andersons Wärme überraschte mich. Vielleicht hatte ich nicht damit gerechnet, weil ihre Arbeit schon immer so avantgardistisch und analytisch und oft von Technik und Vocoderstimmen geprägt ist. Ich hatte eine distanziertere Person erwartet. Doch eigentlich drehen sich ihre Werke immer um Entfremdung, ohne selbst zu entfremden. Sie fordern heraus, aber bleiben zugänglich. Ihr jüngster Film, Heart of a Dog, in dem Tod, Liebe und die Überwachungskultur nach dem 11. September durch intime Anekdoten erkundet werden, ist da keine Ausnahme.

„Es geht um Geschichten", erklärte die 69-jährige Performancekünstlerin. „Jemand fragt dich, wie deine Kindheit war, und du packst eine Geschichte aus. Du bist viel komplizierter, aber niemand will die ganze Geschichte hören. Es ist zu schwer, in Worte zu fassen, wie du wirklich warst. Das ist, wie wenn Leute fragen: ‚Wie geht's dir?'—sie wollen es nicht wirklich wissen." Sie lachte. „Also sagst du: ‚Gut!'"

In dem Film erzählt Anderson viele Geschichten über sich selbst und Lolabelle, ihren verstorbenen Rat Terrier. Innerhalb kürzester Zeit verlor Anderson ihren Hund, ihre Mutter und ihren Partner, Lou Reed. Doch sie konzentrierte sich im Film auf Lolabelle, um durch ihren Hund „die Teile der Menschen anzusprechen, die nicht Sprache sind". Sie erklärte, Hunde würden Sprache in sich aufnehmen, sie aber nie von sich geben. In Heart of a Dog fordert sie hin und wieder ihr Publikum auf, die Welt mit den Augen eines Hunds zu sehen. Der Film enthält ein Zitat von David Foster Wallace: „Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte." Reed ist der Geist des Films, eine gespenstische Präsenz, die erst zum Ende auftaucht, als sein Song „Turning Times Around" erklingt. „In dem Song geht es um den Versuch, präsent zu sein", sagte sie.

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Andersons Achtsamkeit und „Lebe hier und jetzt"-Mentalität sind stets in ihrer Stimme und in den buddhistischen Lehren präsent, die sie in ihrem essayistischen Film verarbeitet. Auch verarbeitet werden Kierkegaard-Zitate, Kindheitserinnerungen, Träume und unerwartete Fakten über die Datenindustrie und die Militarisierung von Polizeihunden durch die Bahngesellschaft der USA, Amtrak. Der Film verbindet direkte emotionale Aufrichtigkeit mit New Yorker Exzentrizität: So erfahren wir, dass Andersons Hündin Klavier gespielt und ein Weihnachtsalbum aufgenommen hat. Doch die denkwürdigste Geschichte in dem Film ist die einer Reise nach Nordkalifornien, die Anderson und Lolabelle nach dem 11. September machten, als in New York „alles so laut und chaotisch" war.

Bei einem der morgendlichen Strand­spaziergänge der beiden stießen mehrere Falken herab und umkreisten die Hündin. Anderson erinnert sich an den Ausdruck, den ihr Gesicht plötzlich annahm. „Erst wurde ihr klar, dass sie Beute darstellte", schildert Anderson im Film aus dem Off. „Als Zweites kam ein völlig neuer Gedanke. Es war die Erkenntnis, dass sie aus der Luft kommen konnten … denselben Ausdruck hatten meine Nachbarn in New York in den Tagen nach dem 11. September."

In ihrer neuesten Performance, Habeas Corpus, einer Kollaboration mit Mohammed al-Gharani, der mit 14 in Guantanamo inhaftiert wurde, nimmt sich Anderson auch das angespannte amerikanische Verhältnis zum Nahen Osten vor. Obwohl Gharani 2009 entlassen wurde, ist ihm die Einreise in die USA verboten. Anderson hat eine Installation erschaffen, die dieses Verbot zugleich thematisiert und umgeht: Eine Skulptur wird mit einer Live-Videoschaltung kombiniert, sodass Gharani seine Geschichte aus der Ferne teilen kann. An drei Tagen im Oktober saß Gharani jeweils sieben Stunden lang in einem westafrikanischen Studio, während er überlebensgroß in die Park Avenue Armory, ein umgebautes Arsenal in New York, projiziert wurde. An jedem Abend stand Anderson neben Gharanis statuenhaften Hologramm, stellte ihn dem Publikum vor und unterstrich seine erschütternden Geschichten mit Violinenspiel und Gedichten.

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Die Decke der Drillhalle des Arsenals, wo die Installation und das Konzert stattfanden, war erleuchtet wie der glitzernde Kosmos. Anderson griff das Himmelsmotiv auf, diesmal als Symbol eines komplexen Freiheitsgedankens, der sowohl Gharanis schwer erkämpfte Freiheit als auch die Freiheit von den Gesetzen, die seine Gefangenschaft überhaupt erst möglich machten, beinhaltet: „Jemand in der Regierung Bush hat gesagt, wir müssten einen gesetzlichen Weltraum für diese Gefangenen finden, ein Raum, für den nichts gilt. Der Satz ist mir in Erinnerung geblieben."

Bei unserem Treffen in ihrem Studio zeigte mir Anderson ein Bild von Gharanis Anwalt, Clive Stafford Smith, bei einem Videotelefonat mit seinem Klienten. Auf der anderen Bildschirmseite stützt ein emotional überwältigter Gharani seinen Kopf in die Hand. „Dieser Anblick und Mohammeds Lachen bedeuteten für mich, dass das Projekt es wert war", sagte sie.

Heart of a Dog ist erst Andersons zweiter Film, und dieser von Erzählung geprägte Video-Essay unterscheidet sich stark von ihrem Konzertfilm Home of the Brave von 1986, der Darbietungen aus ihrem gleichnamigen Album enthält.

„Was ich an Performance liebe, ist das Wissen, dass die Show morgen ein bisschen anders, ein bisschen besser sein wird", sagte sie. „Ich wollte nur sehr ungern etwas aufzeichnen und es dabei belassen. Ich wünschte, es gäbe ein Museum, in das man sein Gemälde hängen und es dann jede Nacht noch ein wenig bearbeiten kann. Das Museum der niemals fertigen Objekte."

Heart of a Dog ist zwar ein fertiges Werk, doch es ist dennoch dynamisch. Es weigert sich, definierbar zu sein. Wie die besten essayistischen Arbeiten erschafft der Film Bedeutung durch die Reibung seiner verschiedenen Teile, die geradlinige Erzählung und simple Definitionen infrage stellen und stattdessen die Macht der Sprache betonen.

„Kriegsgefangene werden als ‚Unperson' bezeichnet, und dann kann man ihnen alles antun, was die Genfer Konventionen sonst verbieten", sagte sie. „Es gab auch viele Selbstmorde in Gefängnissen, also nannten sie das auf einmal ‚manipulatives selbstverletzendes Verhalten'. Plötzlich sagte man so zu einer Person, die sich selbst getötet hatte. Deswegen handelt dieser Film von Sprache und soll aufdecken, wie wir uns vormachen können, dass wir unsere eigene Geschichte kennen oder man uns in einer Geschichte zusammenfassen kann."

Andersons Geschichten haben auf einer weiteren Ebene Wert: Sie stellt bewegende Anekdoten über ihren Umgang mit Tod und Trauer vor. Das Tibetische Totenbuch besage, man solle Trauer nicht mit Weinen ausdrücken, da es die Toten verwirre, erklärte sie. Sie erzählte, sie habe sich geweigert, ihre Hündin einschläfern zu lassen, wie vom Tierarzt empfohlen. Ihr buddhistischer Lehrer habe ihr beigebracht, der Tod sei für Menschen und Tiere ein Prozess, sie würden sich dem Tod nähern und vor ihm zurückweichen, und niemand habe das Recht, ihnen das wegzunehmen. In solchen Momenten predigt Anderson nicht, sondern sie erzählt von ihrer eigenen Erfahrung mit Mitteln zur Überwindung von Leid. Ihre Ehrlichkeit und Verletzlichkeit sind dabei offensichtlich.

Der Film selbst war ein Mittel zum Umgang mit dem Tod, der sie umgab. „Es gibt die Praktik, sich traurig zu fühlen, ohne traurig zu sein. Dazu gehört, nicht zu sagen: ‚Oh Gott, es ist so traurig', sondern es zu akzeptieren und dann etwas zu tun", sagte Anderson mit unerschütterlicher Ruhe. „Und ich habe diesen Film gedreht."