Auch wenn Berlin weltweit als geschmacklich leicht derangierte Partymetropole gilt, bei der zu jeder Tages- und Nachtzeit auf offener Straße Bier getrunken wird und jedes Wochenende mehr Leute alkohol- und drogenbedingt abstürzen, als Montags zur Arbeit müssen—unsere Hauptstadt hat mehr zu bieten als vollgepisste U-Bahnen und sozialkritische Suffpenner. Wir haben uns an einem lauschigen Sonntag an einen Ort der Harmonie und Haargestecke begeben, um das wahre, ursprüngliche Berlin kennenzulernen. Vergesst das Berghain, vergesst Kreuzberger Spätis—die Galopprennbahn in Hoppegarten sollte zum neuen Hotspot der Stadt ernannt werden.
Schon rein optisch lohnen sich die 20 Minuten mit der S-Bahn. Das historische Gelände wurde erstmalig 1868 in Betrieb gewonnen und gehört auch heute noch trotz—oder gerade wegen—zahlreicher Umbau- und Modernisierungsmaßnahmen in den vergangenen Jahren zu den schönsten Rennbahnen Europas. Glücklicherweise hatten wir uns mit dem 10. August auch direkt den Saison-Höhepunkt ausgesucht: den „Großen Preis von Berlin”. Neben dem Sport der Könige ging es uns aber vor allem darum zu erfahren, wer eigentlich auch in unserer jetzigen Zeit noch zum Pferderennen geht. Kommt man wirklich nur mit pompösem Hut in die Renn-Klub-Loge?
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Ich möchte ehrlich zu euch sein: Ich bin ein Pferde-Fangirl. Dementsprechend war es für mich schwierig, nicht einfach die ganze Zeit mit glitzernden Mädchenaugen zwischen Führring und Geläuf zu pendeln und meinen kompletten Instagram-Feed mit verwackelten Aufnahmen von nervösen Vollblütern vollzubomben. Nach mehreren neidischen Blicken in Richtung der Kinder, die beim Ponyreiten im Kreis geführt wurden, habe ich mich schweren Herzens dazu durchgerungen, meiner journalistischen Pflicht nachzugehen und mich auf die menschliche Komponente der Veranstaltung zu konzentrieren. Obwohl man auch ohne Tribünenplatz eine gute Sicht auf die Bahn hat, stellte sich relativ schnell heraus, dass Pferderennen auch im 21. Jahrhundert noch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft sind.
Auf der einen Seite die „normale“ Tribüne. Davor eine große Rasenflache mit einer homogenen Menge aus Familien mit Pferdeluftballons (ich war kurz davor, mir einen zu kaufen), Paaren aller Altersgruppen und Leuten, die einfach nur einen Grund gesucht haben, an einem Sonntagmittag sehr viel Sekt zu trinken. Insbesondere die älteren Pärchen schienen vor allem wegen dem sportlichen Ereignis vor Ort zu sein und füllten mit angestrengter Miene die Wettscheine aus. Sein Geld loszuwerden, ist auch abseits der Wettschalter nicht all zu schwer. Bier, Waffeln, Brezeln—wer nicht am Glücksspielstand der Spielbank Berlin abhängt, kann sich in den Pausen zwischen den Rennen ordentlich die Wampe vollschlagen.
Auf der anderen Seite wird es elitär. Statt Jutebeuteln und Jeans gibt es im Hoppegartener Renn-Klub Hüte, Anzüge und elegante Hochsteckfrisuren. Eigentlich dürfen nur Mitglieder des Zusammenschlusses aus Trainern, Pferdebesitzern und Unterstützern des Sports in die geschichtsträchtigen Hallen, um sich an Büffet und Schampus zu laben. Für uns wurde eine Ausnahme gemacht. „Ich muss dich der Gräfin vorstellen“, sagt die nette Pressedame und schleust uns vorbei an Politikern, Nachwuchsschauspielern und adrett gekleideten Kindern. Niemand hier hat einen Pferdeluftballon. „Die Gräfin“ scheint hier der allgemein gängige Titel für Tini Gräfin Rothkirch, die den Klub ins Leben gerufen hat. Sie war als Vielseitigkeitsreiterin früher selbst als Sportlerin aktiv, hat die Reithosen mittlerweile aber gegen ein komplett pinkes Outfit getauscht. Sie ist im Stress. „Rufen Sie mich einfach an, wenn es noch Fragen gibt“, sagt sie. Sie muss den Champagner-Empfang koordinieren, schließlich ist der regierende Bürgermeister Klaus Wowereit zum ersten Mal in Hoppegarten zu Gast.
Für uns geht es weiter in das Gebäude, in dem sich die Jockeys auf ihre Rennen vorbereiten. Es herrscht reger Betrieb in der Kammer der Rennreiter. Helfer reinigen die verschwitzten Pferdedecken, während die Sportler samt Sattel auf die Waage müssen. Ein bisschen erinnert das rege Treiben an Massenabfertigung, aber der Zeitplan ist eng. An jedem Platz hängen gleich mehrere Blusen in den Farben des jeweiligen Rennstalls. Manch einer ist in so gut wie jedem Rennen dabei. Viele haben eindrucksvolle Blessuren am Körper. Bei 60 Stundenkilometern vom Pferd zu fallen, hinterlässt seine Spuren. Wir gehen zurück nach draußen.
Nur mühsam reiße ich mich von dem gelangweilten Kutschpferd los, das ich mehrere Minuten lang mit ekstatischem Gesichtsausdruck gekrault habe. Wir müssen weiter, fancy Hüte anprobieren. Für durchschnittlich 100 Euro kann man an einem kleinen Stand die spektakuläre Kopfbedeckung seiner Wahl erstehen. Ich setze einen für fast 400 Euro auf und sehe aus wie eine betrunkene Katzenfrau. Vielleicht liegt das aber auch am Plastikbierbecher in meiner Hand. Der Tag nähert sich seinem Höhepunkt, dem „Großen Preis von Berlin“. Das einzige Rennen der Gruppe 1 (so was wie die Champions League der Englischen Vollblüter) der Region. Neun Pferde im Gesamtwert von mehreren hunderttausend Euro galoppierten über 2400 Meter um den Sieg. Mein persönlicher Favorit Earl of Tinsdale—ich suche mir Pferde im Führring immer nach ihrer allgemeinen Garstigkeit aus—musste sich leider Sirius geschlagen geben und lief als Vierter durchs Ziel. Ich war so enttäuscht, dass ich es als meine Pflicht gesehen habe, den Abend an der Sektbar ausklingen zu lassen.
Es wurde dunkler, der angekündigte Sturm blieb glücklicherweise aus und selbst die hartgesottenen Großfamilien, die den kompletten Tag lang auf der großen Rasenfläche am Rand der Bahn gepicknickt hatten, packten schließlich ihr Zeug zusammen. Als ich auf dem Weg nach draußen noch angeheitert trotz Rock auf den Rennpferde-Simulator geklettert bin, sind mir drei Dinge klar geworden: Galopprennbahnen sind super, ich brauche unbedingt ein Rennpferd und ich werde niemals eine richtige Lady sein.