Wir schreiben das Jahr 1868 und ich befinde mich an der St. Paul’s Cathedral in London, wo ich an eine Frau namens Bloody Nora gerate, die mich zu einem ausgereiften Bandenkrieg herausgefordert hat. Diese große Herausforderung von meiner Gegnerin mit dem ungewöhnlichen Namen ist einer der bisherigen Höhepunkte im gerade erschienenen Assassin’s Creed Syndicate, das man als Assassinen-Zwillingspaar Evie und Jacob Frye bestreitet. Kurz davor habe ich ein paar Kinder von der Zwangsarbeit befreit und dabei einem Vorarbeiter der fraglichen schäbigen Fabrik die Kehle aufgeschlitzt. (Auf die Gefahr hin, dass ich mich so anhöre, als ob ich einen Tag Freigang habe: Ich muss sagen, es war ungemein befriedigend.) Bei der Kopfgeldjagd habe ich einen Informanten in eine Kutsche geschubst, die ihn Gott weiß wohin beförderte. Wie ein viktorianischer Spider-Man bin ich an einer Seilbahn über London geflogen. Und jetzt muss ich eine Frau namens Nora loswerden.
Hier bin ich also, und Nora blockiert die Straße mit ihrer Gang. Um mich herum befinden sich, spöttisch mit den Waffen wedelnd, die Mitglieder der Rooks, meiner eigenen Gang. Ich werfe eine voltaische Bombe und betäube zehn der gegnerischen Blighters, die mich umzingelt haben und deren rote Mäntel bald von ihrem eigenen Blut durchtränkt sein werden. Ich drücke wild auf die Quadrattaste, um schnell die zwei nächstgelegenen Gegner mit der versteckten Klinge niederzustrecken. Mit der Kreistaste kontere ich mit perfektem Timing ihre Angriffe, während sie mächtig und schnell auf mich einstürmen. Manchmal heben sie ihre Arme und blocken meine Attacken, aber ich durchbreche ihre Verteidigung mit einem Kopfstoß, der einem wutentbrannten Hooligan zu Ehren gereichen würde. Nachdem Nora gefallen ist, erklimmen meine Zwillingsschwester und ich das Dach einer Kutsche und fordern die Bligthers auf, den Rooks beizutreten. Unter tosendem Jubel und Applaus habe ich die City of London erobert.
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Die neuste Veröffentlichung in Ubisofts historischer Mordsimulatorreihe ist für mich persönlich definitiv ein Anwärter auf den besten Teil. Dennoch spaltet das Spiel die Meinungen der Kritiker wie eine Runde Monopoly an Weihnachten. Es verfügt vielleicht nicht über den gleichen Charme wie das Piraten-Spiel Black Flag von 2013, aber die Spielmechanik wurde geändert, was darauf hinweist, dass diese Reihe ihren Kurs nach dem Debakel mit Unity, das während der französischen Revolution spielt (und das ehrlich gesagt wirklich scheiße war), geändert hat. Jetzt gelangt man per Seilbahn von Dach zu Dach, anstatt von einer schlüpfrigen Kachel zur nächsten zu springen. Du kannst mit einer Pferdekutsche wahnsinnig schnell durch die Gegend heizen, wenn du willst, direkt durch eine Menschenmenge. Die Gesichter der Charaktere fallen nicht mehr wahllos runter wie bei Unity, was gut ist (wenn auch nicht ganz so amüsant).
Für den Großteil des Spiels steuert man einen von zwei Protagonisten: Jacob oder Evie Frye, Zwillings-Assassinen, die auf einem gestohlenen Zug nach London gelangen, den sie als mobiles Versteck für ihre wachsende Bande einsetzen. Die Tempelritter, die Erzfeinde der Assassins-Bruderschaft, haben London fest im Griff. Crawford Starrick, ein typischer Ubisoft-Bösewicht, kontrolliert die Stadt. Verteilt über 8 Sequenzen, die ungefähr 15 Stunden dauern, ermordet der Spieler verschiedene Unterbosse, um näher an den Boss heranzukommen. Zur selben Zeit übernehmen die Fryes Londons Welt des organisierten Verbrechens und zerstören Bereiche, die unter Kontrolle der Blighters stehen, beim Versuch, eine Armee zu versammeln, um die Hauptstadt zu befreien.
Die Story ist stark auf die Politik und die Persönlichkeiten im viktorianischen London konzentriert. Spieler eskortieren die Ehefrau des Premierministers Benjamin Disraeli, samt Corgi in der Handtasche, beim Besuch im Slum Devil’s Acre, und man darf mit Charles Dickens auf Geisterjagd gehen. Florence Nightingale braucht deine Hilfe und Alexander Graham Bell versorgt dich mit Ausrüstung. Erstaunlicherweise wirken diese Figuren nicht sonderlich fehl am Platz, in dieser fiktiven Version des viktorianischen London—vielleicht weil die Zeitreisen von Doctor Who hier oft stattgefunden haben und Sci-Fi-Fans sich daran gewöhnt haben. So oder so, es ist ziemlich cool.
Während die Hauptmissionen besonders geniale Morde beinhalten—die hauptsächlich leider von Jacob ausgeführt werden, obwohl es wahrscheinlich mehr Spaß macht, als Evie zu spielen—peppen optionale Aktivitäten den Spielinhalt auf. Das soll nicht heißen, dass die Kernmissionen der Story in irgendeiner Weise langweilig wären—es werden oft mehr Pfade eingeschlagen, als eine Qualle Tentakel hat. In einer frühen Mission zum Beispiel infiltriert man die psychiatrische Anstalt Lambeth Asylum, um John Elliotson zu ermorden, den Mann hinter der Droge, mit der Starrick die Einwohner Londons kontrolliert (und im wahren Leben ein Arzt, der tatsächlich 1868 verstarb). Eine Option ist es, eine Krankenschwester zu finden, die alle Türen der Anstalt verriegelt. Ein anderer Weg verfrachtet dich auf eine Bahre, um in den Operationstrakt zu gelangen, wo du Elliotson in einer besonders blutigen Cutscene meucheln kannst.
London ist der Schauplatz von Syndicate, und die Stadt wurde nie zuvor schöner umgesetzt.
In solchen Momenten ist mir wirklich sehr danach, Starricks Regime um jeden Preis Stück für Stück auseinanderzunehmen. Und wie beim Piraten-Spaß Black Flag ist die Flexibilität der zentralen Spielstruktur der beste Teil von Syndicate.
Die Zwillinge sind arrogant und zanken sich so oft wie ich mich damals mit meinem Bruder— also so gut wie immer—und sie necken einander und liefern sich im Verlauf der Handlung spielerische Kämpfe. Jacob ist darauf konzentriert, Starricks Herrschaft zu beenden, und Evie ist darauf aus, ein weiteres Versteck mit einem Edensplitter zu finden—ein MacGuffin für die Assassins Creed-Geschichte. (Hin und wieder tauchen Cutscenes aus der modernen Zeit auf, aber die Gegenwartssequenzen vergangener Creeds sind definitiv in den Hintergrund getreten.) Die beiden Charaktere spielen sich unterschiedlich, wobei Jacob mehr ein muskulöser Raufbold ist und Evie eher einer Schlange gleicht, die schnelle Attacken austeilt, die plötzlich nur noch Kleingehacktes von drei Männern hinterlassen. Spieler erhalten für absolvierte Missionen Erfahrungspunkte und können diese zusammen mit Baumaterialien zum Aufrüsten von Ausrüstung, Freischalten von Waffen und für neue Fähigkeiten der stetig wachsenden Gang verwenden.
London ist der Schauplatz von Syndicate, und die Stadt wurde nie zuvor schöner umgesetzt. Die Detailgenauigkeit ist erstaunlich. Diese Stadt ist lebendig—sie lebt, atmet und schnauft in viktorianischer Finsternis. Ein gesamtes Studio—Ubisoft Singapur—wurde für das Design der Themse eingesetzt, mit geschäftigen Schiffen, die du erklimmen und deren Fracht du erfreulicherweise sabotieren kannst. Die Bahnhöfe sind mit Wachen und Passagieren bevölkert, während Dampf speiende Kolosse an- und abfahren. Obdachlose versammeln sich um brennende Mülltonnen in Gassen. Gangs treffen sich in Unterführungen, um Pläne zu schmieden.
Einmal habe ich versehentlich das Spiel verlassen, als meine Figur bei einem Straßenhändler mit umgeschnallter Reklametafel stand, der Politur verscherbelte. Er läutete seine riesige Glocke: „Schaut euch die neusten Sonderangebote an”, krähte er. „Schaut vorbei, ich bin für euer Wohl hier.” Nach einer Weile hörte er auf und legte eine Hand auf seinen Rücken—unter der Last der Reklametafel. „Du hast zu arbeiten”, sagte er zu sich selbst. „Komm schon.” Es ist ein kleines, aber erstaunliches Detail.
Aber nein, das Spiel ist nicht perfekt.
Das Kampfgeschehen wurde im Vergleich zu den Vorgängern verbessert, aber es ist immer noch klobig, und die Framerate geht in die Knie, wenn zu viele Gegner auf dem Bildschirm sind. Evie und Jacob bleiben beim Erklimmen von Gebäuden scheinbar willkürlich an Teilen der Kulisse hängen. Die KI von Gegnern und Verbündeten ist nicht ganz realistisch. Aber das sind Probleme, über die ich mental hinwegsehen kann. Mir macht es genug Spaß, sodass man die Macken und Fehler größtenteils vergessen kann. Die Nebenmissionen machen großen Spaß, die Hauptkampagne ist erfüllend und die Atmosphäre weiß durchweg zu beeindrucken.
Assassin’s Creed-Spiele haben sich für mich immer überladen angefühlt. Aber Syndicate wirft den überflüssigen Ballast vorheriger Titel ab. Im Gegensatz zu Unity, das über eine App auf deinem Handy Inhalte in Form von Truhen freischaltete, kannst du hier ganz London ohne einen zweiten Bildschirm freischalten. Und die recycelten Missionen machen überraschend viel Spaß: Ich habe das Spiel nur eingelegt, um ein paar Kinder vor einem bösen Vorarbeiter zu retten, als wäre es ein neues Hobby. Was im Grunde sich wiederholende Befreiungsmissionen im viktorianischen London sind, macht viel mehr Spaß, als es sollte.
Wenn man dies und viele andere Punkte berücksichtigt, ist Syndicate ein Erfolg. Ubisoft, du hast mich überzeugt!
Diese Review wurde durch die Unterstützung von NVIDIA SHIELD möglich. Die NVIDIA SHIELD Library findest du hier.