Foto: Screenshot von YouTube aus dem Video “Girls” von Lil Peep
Als ich den Club in London betrete, ist der Raum bereits zum Bersten gefüllt und Teenager rufen laut “GOTH BOI CLIQUE, GOTH BOI CLIQUE”. Der lokale Rap-Act Bexey hat gerade mit einer gigantischen Sonnenbrille und einem Headscarf, fixiert mit einem weiteren Headscarf, sein Live-Debüt beendet, die Meisten hier kannten aber bereits alle seine Lyrics auswendig. Gerade mal fünf Minuten, nachdem sich der dicke rote Vorhang auf der Bühne hinter dem Künstler geschlossen hat, fliegt er mit einem Ruck wieder auf und eine dürre Gestalt in übergroßen Klamotten erscheint. Im weißen Licht und dem dichten Nebel hat er etwas von einem abgehalfterten Jesus. Im Publikum gehen die Arme und Smartphones nach oben. Der 350 Zuschauer fassende Raum ist von ohrenbetäubendem Geschrei erfüllt, als wäre Harry Styles gerade aus einem Auto gestiegen, um auf den Bürgersteig zu kotzen. Lil Peep ist da.
Videos by VICE
Der in Long Island geborene und in L.A. lebende Rapper ist einer der kontroversesten Künstler 2017. Vor gerade mal einem Jahr erst auf der Bildfläche erschienen, hat er es bereits geschafft, Millionen-Hits auf YouTube und SoundCloud zu landen, seinen Weg in Pitchforks Best Song of the Year-Liste zu finden und eine komplette Europa- und Russlandtour auszuverkaufen. Mit seinen 20 Jahren sieht er aus wie ein kaputter Justin Bieber und klingt wie ein Lil Yachty, der mit Avenged Sevenfold großgeworden ist.
Er singt über Selbstmord, kleidet sich wie eine Cartoon-Fogur und bewegt sich stiltechnisch irgendwo zwischen sexuell, gewalttätig und kindlich. Das sieht man vor allem auf Instagram, wo er gerne Posts über Drogen, Oralsex und Angststörungen teilt, wenn er nicht gerade irgendeinen Fuß in seinem Mund hat. In seiner kurzen Zeit an der Öffentlichkeit ist er schon alles genannt worden: von “verunsicherter, weißer, innerlich toter Müll-Rap” bis hin zu “Die Zukunft des Emo”. Kollege Drew Millard beschrieb Peeps Vibe letztes Jahr als: “Irgendwo zwischen ‘Shoegaze Kreayshawn’, ‘der kleine Bruder von dem Typen, über den Lana Del Rey in ‘Video Games” gesungen hat’ und ‘Hey, erinnerst du dich an den emotional manipulativen Koksdealer, den du über MySpace kennengelernt hast und mit dem du in der Oberstufe drei Monate zusammen warst? Tja, der Typ ist immer noch 19 und rappt jetzt!’”
Genau wie die My Chemical Romances und From First To Lasts, mit denen er aufgewachsen ist, ist Lil Peep ein perfekter Sturm aus den Komponenten, die jeden in ihren Bann ziehen, der sie versteht – und jeden nerven, der das nicht tut. Er rappt über Samples von Brand New, Blink-182 und The Postal Service. Er postet Bilder von sich in einer Badewanne umringt von La Croix-Dosen. Er hat ein gebrochenes Herz seitlich unter einem Auge tätowiert, “CRYBABY” in Schönschrift über dem anderen und “Daddy” in großen gotischen Buchstaben auf seiner Brust. Er mag Teil eines größeren Internet-Kollektives sein, das aus ähnlichen Rappern/Produzenten besteht – Mackned, Wicca Phase Springs Eternal, Horse Head, Lil Tracy, Cold Heart und Døves, die alle aus unterschiedlichen US-Staaten und Hintergründen stammen –, aber du dürftest deine Probleme haben, ein Produkt zu finden, das diesen speziellen Augenblick unserer Zeit besser einfängt als Lil Peep.
Es gibt einen Grund dafür, dass er von allen am kürzesten bei GOTHBOICLIQUE dabei ist, als erster aber wirklich ernstgenommen wird und international auf Tour geht. Soundtechnisch sticht er nicht wirklich raus, aber seine Mickey Mouse Club Dropout-Ästhetik macht ihn zum Aushängeschild für jeden Millennial, der mit 90er Jahre Animes, 00er Jahre Emo und aktuellem Rap großgeworden ist. Trotzdem kann es einen großen Unterschied dazwischen geben, wie ein SoundCloud-Star im Internet abgefeiert wird und wo er sich in der Realität einfindet. Ich hatte fast erwartet, dass die Show voll mit Menschen wie mir sein würde: Leute, die das Konzert in einer Art anthropologischer Mission gleichermaßen aus Neugier und ernsthaftem Interesse besuchen. Dieser Erwartung hätte aber nicht weiter von der Realität entfernt sein können.
Die Show im Omeara am Freitag war Lil Peeps erste und einzige UK-Show, die sehr scharfsinnig (und sehr offensichtlich) ab 16 freigegeben war. Ich sah fettige Ponys, Menschen mit dicken Wollmützen und überall Klamotten mit Aliens drauf. Die Vorfreude auf Peeps Auftritt war im Saal spürbar – es herrschte diese Art von Elektrizität, die sich nur bei einer Show sammelt, wenn das komplette Publikum aus absoluten Fanatikern besteht. Von der Sekunde, in der er auf die Bühne schlenderte, bis zum letzten Ton, gab im ganzen Raum keinen einzigen stillstehenden Körper. Ganz im Gegenteil: Alle schrien und crowdsurften für einen jungen Mann, der in den USA noch nicht alt genug für Alkohol ist, die letzte Woche aber damit verbracht hat, auf Ketamin durch Europa zu tingeln, und in einer Menge Tracks “Cocaine” shoutet. Es fühlte sich schwer nach einem zeitgenössischen Äquivalent zu den ersten Crystal Castles-Shows an. Die “Die Zukunft des Emo”-Überschrift mag damals etwas übertrieben gewesen sein, aber nachdem ich miterlebt habe, wie die Leute wegen ihm ausrasten, könnte diese Aussage tatsächlich mehr als zutreffen.
Selbst wenn du die Samples weglässt – die von Underoath bis hin zu The Microphones seine Identität als Summe seine Interessen wie eine MySpace “Influences”-Sektion zusammenfassen – positioniert Lil Peeps Songwriting ihn so fest im Qualitäts-Pop-Rap, dass es schwer ist, jenseits seiner melodramatischen Lyrics wirklich daran rumzumäkeln. Er ist mit drei Jahrzehnten Emo großgeworden und wurde vom neuen Gesicht des Rap beeinflusst – von Yung Lean zu Lil Uzi Vert, Chief Keef zu Odd Future, Riff Raff zu The Weeknd. Zu klassischen Pop-Punk-Melodien rappt er über Sex, Geld und Rausch. Aufgelockert werden seine Tracks von Gesängen à la “swichtbaldes, Cocaine, Goth Boi Clique make a hoe shake” in der Struktur eines Blink-182 Songs.
Im Gegenzug haut er aber auch Lines in der Art von “I don’t wanna die alone right now, but I admit I do sometimes” und “this ist he song they played when i crashed into the wall” raus, die direkt aus dem Jesse Lacey-Songwriting-Handbuch stammen könnte – und singt sie über Fruity Loop-Trap-Snares. Genau wie Punk-Puristen Taking Back Sunday damals dafür kritisierten, dass sie übertreiben sentimental sind, und Rap-Puristen Lil Yachty aus ziemlich den gleichen Gründen ablehnen, ist auch Lil Peeps Aufstieg dazu prädestiniert, ein kontroverser zu werden – selbst, wenn er es gar nicht darauf anlegt. Er macht eben Musik, die sich für Spott angreifbar macht. Kritiker werden ihre Gründe finden, ihn zu legitimieren, indem sie zum Beispiel darauf hinweisen, dass er The Microphones sampelt. Dabei ignorieren sie allerdings den eigentlichen Grund, warum er überhaupt eine solche Fanbase hat. Lil Peeps Merch ist nicht ständig ausverkauft, weil ein paar kauzigen Musiknerds aufgefallen ist, dass er das Glow Pt. 2 Instrumental “(Something)” in “White Wine” gesampelt hat. Es liegt daran, dass er in einem Verse Pillen, Gucci und seine ehemaligen MySpace-Freunde erwähnt. Lil Peep ist der Schnittpunkt eines Mengendiagrams über Herzschmerz, Sex, Drogen, Gewalt, Depressionen und Selbstzerstörung – also genau die gleichen Gründe, warum in den 00ern junge Menschen in Scharen zu Hawthorne Heights Konzerten gerannt sind.
Wird das länger als die nächsten 12 Monate anhalten? Wer kann das schon sagen? Die ähnlich antagonistischen und aufrichtigen Genreakrobaten Brokencyde mischten Mitte des letzten Jahrzehnts Screamo und Crunk miteinander, landeten auf der Warped Tour und haben aus unerfindlichen Gründen letztes Jahr sogar ein neues Album veröffentlicht. Die Tumblr-Rapperin Kreayshawn hat bei einem Major unterschrieben, spektakulär ihre eigene Erfolgswelle verpennt und ist dann in der dunklen Luke der Vergessenheit verschwunden. Crystal Castles brachten es im sperrigen Witch House mit einer einzigen MySpace-Demo zu einer Institution, bevor alles total in die Brüche ging. PC Music vermarktete sich selbst bis hin zu einer McDonald’s-Werbung. Wenn du deine Fanbase im Internet heranzüchtest und das zu deinem Durchbruch heranwächst, obwohl du Musik machst, die als solche nie von der Mainstream-Musikindustrie unter Vertrag genommen worden wäre, kann das schon mal so oder so laufen.
GOTHBOICLIQUE haben einen Sound und eine Ästhetik erschaffen, die es davor noch nicht gab. Sie nehmen jedes Gefühl, das du früher mal in der Form eines MSN- oder ICQ-Nicknames ausgedrückt hast und das dir heute furchtbar peinlich ist, und verwandeln es in eine moderne Marke, die es potentiell sogar in die Vogue schaffen könnte. Es gibt keinen Künstler, der den Zeitgeist 2017 mehr verkörpert als Lil Peep. Dieser Umstand macht ihn momentan extrem wertvoll, aber diese Hyper-Genauigkeit bedeutet auch, dass seine Zukunft letzten Endes in den Händen seiner Fanbase liegt. 350 begeisterte britische Teenager, die leidenschaftlich irgendeine Kombination aus den Worten “goth”, “baby” und “club lights” rufen, machen noch keinen Popstar. Zu unterschätzen ist es aber auch nicht. Wie auch immer du nennen willst, was Lil Peep und GOTHBOICLIQUE treiben, es ist brandneu. Es ist Musik von Teenagern für Teenager – und sie funktioniert.