Illustration von Dennis Rudolph
„o.T. (Kopfstudie)“, 2011. Offset-Litografie, 70×100. Mit freundlicher Genehmigung der Upstream Gallery, Amsterdam, und der Galerie Jette Rudolph, Berlin
Letztlich überrascht es mich dann doch, dass ich ausgerechnet auf Jeromes Beerdigung erstmals mit der Flüssigkeit Magnon experimentiere. Ich hatte es zwar schon lange vor, und Jerome hätte sicher auch nichts dagegen gehabt—ja, Jerome hätte es wahrscheinlich sogar ziemlich cool von mir gefunden—trotzdem schwitze ich unter den Armen, als Aylin die medizinisch-kleine PET-Flasche öffnet. „Ich habe keine Erfahrungen mit dieser Flüssigkeit, aber nur sehr Verheißungsvolles gehört“, sage ich, weil ich immer sehr ehrlich bin. „Ich nehme das heute auch erst zum dritten Mal“, antwortet Aylin und lächelt, was etwas Besonderes ist. Sie lächelt nämlich fast nie, denn wenn sie mal lächelt, sind in ihrem Gesicht plötzlich einige Falten zu sehen und das stellt ihre Mädchenhaftigkeit auf einen Schlag infrage. Ich gehe davon aus, dass Aylin ihre Falten sehr genau kennt. In den letzten fünf Jahren bin ich ihr exakt fünfmal begegnet, immer nur während Diskonächten zu Weihnachten, trotzdem haben wir einen vertrauten Umgang miteinander. Wir müssen gar nicht viel sprechen.
Der Friedhof liegt im gleißenden Herbstlicht, und es wäre wohl auch ohne die Flüssigkeit Magnon unmöglich, seine Augen wirklich offen zu halten. Wir nehmen die gesamte Zeremonie durch schmale Sehschlitze wahr. Die Jacketts der jungen Männer scheinen von Goldstaub umweht, es ist, als gingen sie durch einen Sturm aus Licht. Fast alle Mädchen tragen enge Kleider über Strumpfhosen. In den Bäumen hängen Lautsprecher, aus denen immerzu Musik dringt, es ist ausschließlich Musik aus Jeromes persönlicher Sammlung, meist arroganter Rap, der von ebenfalls früh verstorbenen amerikanischen MCs stammt. Phasenweise regnet es Laub. Angeblich ist der Herbst Jeromes liebste Jahreszeit gewesen. Zumindest zeigen ihn alle Fotos, die er jemals von sich in Umlauf gebracht hat, im harten Gegenlicht eines Herbstnachmittags. Strenggenommen war Jerome ein Poser und Depp, aber ein Poser und Depp, der in dieser Gegend von vielen Leuten sehr geliebt wurde. Und nun kommen all diese jungen Leute noch einmal zusammen. Auf eine Predigt wurde bewusst verzichtet, Jerome ist zwar konfirmiert worden, aber er war eigentlich kein Christ.
Es wird viel weniger geweint, als zu vermuten war. Gestern Nacht habe ich einige Stunden im Gästebett meiner Eltern wach gelegen und mir ausgemalt, dass ich meine tränenüberströmten Mitschüler kaum wiedererkennen werde, auch weil sie mittlerweile so fett geworden sind. Aber hier ist in Wahrheit keiner fett geworden, wie Schatten huschen die Mädchen an den Gräbern entlang, und fast niemand muss schluchzen. Ich selbst schluchze ja auch nicht, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, die Wirkung der Flüssigkeit Magnon einzuordnen. Ich schaufle eine Portion Erde auf die Urne, und dann trete ich zur Seite. Wenn man den einschlägigen Foren glauben kann, dauert es bis zum Einsetzen der Magnonwirkung gut 30 Minuten. Bislang blendet nur das Sonnenlicht ungewohnt stark, und ich nehme das Rascheln des Laubs unter meinen Halbschuhen als beinahe penetrant wahr. Zudem ist mir etwas zu warm in meiner schwarzen Kleidung. Aber all das kann auch eine Folge meiner Übernächtigung sein.
Einige von uns Jungs lassen ihre Anzughosen ein wenig tiefer hängen. Vielleicht weil Jerome das auch immer so gemacht hat. Ich tue das nicht. Ich reiche Jeromes Adoptivvater respektvoll die Hand. Das silbergraue Haar, das so dicht von seinem Kopf absteht, hat er sich angeblich transplantieren lassen. Der Vater hat ein einnehmendes Lächeln, man spürt, dass er früher einmal ein leitender Angestellter war. Er blickt mich durch klare Augen an, er scheint keine Tränen mehr zu haben. Die Adoptivmutter hat sich eine Sonnenbrille aufgesetzt. Die beiden berühren sich nicht, was ich gut und ehrlich finde. Im Verlust eng zusammenzurücken, obwohl man sich sonst nicht mehr viel zu geben hat, wäre letztlich nur verlogen. Als ich früher manchmal bei Jerome zu Besuch war und wir in immer neuen Vierergruppen den Fernsehschirm im Wohnzimmer belagerten, da waren mir seine Eltern meistens sehr sympathisch. Es gab immer Kuchen und Saft für Jeromes Konsolenspielkameraden, und an vielen Wochenenden durften wir bis tief in die Nacht hinein im Wohnzimmer sitzen bleiben. Seine Adoptiveltern gingen derweil in die Sauna, die sich im Keller des Hauses befand, zwischendurch kamen sie in Bademänteln an uns Jungs vorbei und servierten uns Erdnusslocken oder andere Knabbereien, weil die Kuchen ja schon seit Stunden aufgegessen waren. Nach seinem 14. Geburtstag lud Jerome niemanden mehr zu sich ein. Von da an war er meist draußen anzutreffen, als aufgeweckter Teenager, der mit Bier und Spirituosen experimentierte.
Wir rollen in schwarzen Limousinen vom Friedhof zur Mehrzweckhalle. Schatten und Sonnenlicht wechseln sich ständig ab, es flackert, wir durchfahren die einzige Allee der Stadt. Aylin und ich sind in denselben Wagen gestiegen. Die Strecke wäre auch zu Fuß leicht zu bewältigen gewesen, aber dann hätten die Trauergäste keine Musik gehabt. Und jetzt endlich, auf den großzügigen Rückbänken, wird auch mit den Köpfen genickt. Ich betrachte Aylin im Profil. „Da schau: orangefarbene Blätter, die auf die Windschutzscheibe hinabsegeln!“ Ihre Stimme klingt neutral und feierlich zugleich, mir läuft ein wohliger Schauer über den Rücken, und in diesem Moment denke ich, dass die Flüssigkeit Magnon nun wohl zu wirken beginnt. Aylins Attraktivität wirkt plötzlich rein ideell auf mich. Ich empfinde keinerlei Ansprüche mehr, aber ich freue mich enorm auf die Zukunft, zumindest auf all die schönen Details, die sich mir später am Kaffee- und Kuchenbuffet sicher darbieten werden.
Der gesamte Text ist in der ShakeYourTree-Edition erschienen (shakeyourtree.com // syt-edition.net).