Über einen Mangel an Lokalen, in denen du ein anständiges Getränk kriegst, kann man sich in Berlin ja nicht gerade beklagen. In der Hauptstadt gibt es zahlreiche Weinbars, Cocktailbars und Bars, in denen handwerklich gebrautes Bier ausgeschenkt wird. Dank eines frankophilen Geschwisterpaars aus Kanada gibt es jetzt auch eine französische Cidrebar.
Sidney Kristiansen, der in Montreal geboren wurde, zog vor einigen Jahren von Paris aufs idyllische Land in der Normandie und wollte von all dem wunderbaren Käse, den beeindruckenden Küsten und den weitläufigen Hängen eigentlich gar nicht mehr weg. Aus familiären Gründen zog es ihn aber nach Berlin, wo er gemeinsam mit seiner Schwester Leila, einer Köchin, ein Geschäft eröffnet. Sie verbanden ihre Liebe zu Nordfrankreich mit einer gesunden Portion Alkohol, Reisen und einer guten Geschäftsidee und raus kam dabei die französische Cidrebar Comptoir du Cidre.
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Obwohl in Deutschland Apfelwein relativ verbreitet ist, verbinden es trotzdem manche mit einem sauren und eher unangenehmen Geschmack. Sidney und Leila haben sich vorgenommen, den Berlinern zu zeigen, was französischer Cidre wirklich ist: eine bäuerliche, fermentierte Mischung aus Apfel- und Birnensaft, die eher an Bier als an Wein erinnert, mit einer Bandbreite an verschiedenen Aromen zwischen leicht und spritzig, einer reichhaltigen Tanninstruktur dank der Reifung im Fass und gelegentlich außergewöhnlichen Geschmacksnoten für Fermentierungsfreaks. Sidney reist durch die Normandie auf der Suche nach den besten Cidres der Region—den Bauern auf den Fersen und ihm ein Lama—während Leila, das kulinarische Gehirn der beiden, Gerichte wie Cidre Steak oder in Cidre gepökelter Lachs für ihr Lokal zaubert, in der auch Tapas serviert werden.
MUNCHIES: Ich habe eure Cidres im The Bar Market, in der Markthalle Neun, und beim Neue Heimat-Markt probiert. Ihr seid also so etwas wie Botschafter für dieses Getränk hier in Berlin. Sidney Kristiansen: Genau, das ist die Idee dahinter und das spiegelt auch unser Name Comptoir du Cidre wider. Comptoir hat im Französischen nämlich zwei Bedeutungen. Einerseits heißt es Bar, aber Comptoir oder Kontor auf Deutsch war früher auch die Bezeichnung für eine Niederlassung von Kaufleuten im Ausland, an der sie ihre Produkte präsentierten. Unser Lokal ist also ein Kontor für Cidre.
Sidney, du lebst in Frankreich und Leila lebt hier in Berlin. Wie kam es, dass eure Leidenschaft für Cidre Teil eurer Geschäftsidee wurde? Leila Kristiansen: Wir wollten gemeinsam ein Projekt starten. In unserer Kindheit standen wir uns immer sehr nah und als wir nach Europa zogen, wurde unsere Freundschaft wieder enger. Letzten Sommer besuchte ich Sid in der Normandie und wir kochten und tranken gemeinsam und hatten einfach unglaublich viel Spaß. Nach meinem Besuch beschlossen wir, dass wir gemeinsam ein Projekt angehen wollten. Wir tauschten Ideen aus und überlegten uns, wie wir die Normandie und Deutschland verbinden könnten, weil Sid nicht aus der Normandie wegziehen wollte. Und so kamen wir auf Cidre.
Sidney: Wir dachten über verschiedenes Essen nach, weil Leila eine großartige Köchin ist. Kochen ist schon seit 20 Jahren ihre Leidenschaft. Es war also klar, dass es etwas mit Essen zu tun haben muss. Es sollte aber auch etwas sein, das die Deutschen schätzen würden und das aus der Normandie kommt.
Was genau ist eigentlich der Unterschied zwischen Cidre aus der Normandie und deutschem Apfelwein? Sidney: Cidre ist mehr wie Bier, es ist kohlensäurehaltig. Apfelwein ist eher wie Wein und hat keine Kohlensäure. Der Alkoholgehalt von Cidre ist außerdem geringer. Er liegt meist zwischen 3 und 7 Prozent. Ein Bier hat ungefähr 5 Prozent und Apfelwein zwischen 9 und 12. Vom Geschmack her gibt es alles von süßen bis extra trockenen und bitteren Noten. In der Normandie wird es viel mehr als eine Alternative zu Bier angesehen und so trinkt man es auch. Es soll definitiv keine Alternative zu Wein sein.
Sehen die Deutschen Cidre als eine Alternative zu Wein? Sidney: Nein, hier kennen die Leute Cidre gar nicht. Es ist zwar immer mehr im Kommen, aber als wir unser Projekt im April vergangenen Jahres starteten, meinten die Leute so: „Oh, Apfelwein.” Und dann war ihre Reaktion sofort: „Das ist ja sauer. Mag ich nicht.”
Leila: [lacht] Sie reiben sich immer den Bauch und ziehen ein komisches Gesicht.
Sidney: Mit unserem Lokal und auf den Märkten wollen wir also Leuten Cidre näher bringen und auch von ihnen lernen, wie sie auf das Getränk reagieren. Wir ließen den Cidre dann gleich in Bierflaschen abfüllen, statt in Weinflaschen. Den Champagnerkorken haben wir durch einen Kronkorken, wie wir ihn vom Bier kennen, ausgetauscht, damit wir die Botschaft rüberbringen, dass es nicht Apfelwein, sondern eben mehr wie Bier ist.
Und du reist herum, um diese verschiedenen Cidres zu finden? Sidney: Ja, ich bin „Cidre-Scout”.
Hast du irgendwelche interessanten Geschichten deiner letzten Reisen für uns? Sidney: In Frankreich werden 85% des Cidres im Umkreis von 5 km von dem Ort, wo die Äpfel gepresst werden, getrunken. Es ist ein sehr regionales Produkt. Sogar in Paris trinkt man Cidre nur sehr selten. Am Anfang des Projekts besuchte ich einige Produzenten, eignete mir Wissen über Cidre an und suchte Cidres aus, die auch auf dem deutschen Markt funktionieren könnten. Die Leute dachten, das wäre unmöglich, weil sie für ihre Produkte nicht einmal in Paris viele Abnehmer finden. Warum sollten also Deutsche Cidre trinken? Ich kann mich noch dran erinnern, wie ich auf einem Bauernhof ankam und der Bauer mich am Eingangstor empfing. Ohne davor überhaupt Hallo zu sagen, meinte er: „Du wirst Cidre nie in Deutschland verkaufen können, das werden sie nie trinken.” Und er wollte mir nichts verkaufen.
Es passierte mir öfters, dass mir die Produzenten viel Misstrauen entgegen brachten und ihnen die Vorstellung nicht gefiel, dass sie ihr Produkt ins Ausland verkaufen sollten. Sie verstehen einfach nicht, wieso die Deutschen Interesse an Cidre haben sollten. Einem bestimmten Produzenten muss ich meine französische Adresse geben—ich kann ihm die deutsche nicht geben.
Es gab also besonders am Anfang sehr viel Misstrauen und es dauerte eine ganze Weile bis wir eine Vertrauensbeziehung zu unseren Lieferanten aufgebaut hatten. Jetzt finden sie es witzig, dass sie ihr Produkt in ihrem eigenen Dorf und in Berlin verkaufen. Einerseits nehmen sie es nicht ganz ernst, andererseits sehen sie aber auch das Potential. So schafften wir es auch, dass einige unserer Lieferanten den Cidre in Bierflaschen abfüllen. Das macht man in Frankreich sonst nicht. Für den französischen Markt wäre es absolut nicht sinnvoll. Sie geben nur für uns die Kronkorken von Hand drauf, wir sind die einzigen, die das kaufen. Es ist eine sehr kleine Produktion.
Wie viele verschiedene Produzenten und Sorten bietet ihr an? Sidney: Wir haben 20 verschiedene Sorten von 10 oder 12 verschiedenen Produzenten.
Was war der merkwürdigste Cidre, den du je probiert hast? Sidney: [lacht] Wir haben eine so große Auswahl an verschiedenen Cidres, weil wir den Leuten zeigen wollen, dass Cidre ein sehr komplexes Getränk ist. Nicht so komplex wie Wein, aber ungefähr drei Viertel der Aromen von Weißwein kommen auch in Cidres vor. Es gibt also eine große Vielfalt. Wir haben einen Cidre, der Halbi heißt.
Der Name klingt teuflisch. Leila: Der ist ganz witzig. Ein echter Cidre vom Bauernhof.
Sidney: Es ist schon komisch. Ich zögere manchmal, diesen Cidre bestimmten Leuten zu verkaufen. Er steht zwar mit einem Preisschild im Regal neben allen anderen, aber wenn jemand sagen würde: „Ich nehme diesen hier”, dann würde ich davor noch darüber reden wollen, bevor ich der Person die Flasche verkaufe. Dieser Cidre ist nämlich nicht für jeden etwas. Wenn du die Flasche nur ansiehst, siehst du, dass es ein ungefilterter Cidre ist.
Ja, da schwimmt so einiges drinnen. Leila: Genau.
Sidney: Das sind aber nur die Ablagerungen, weil er eben ungefiltert ist. Der Produzent stellt nur ein paar Hundert Flaschen pro Jahr her. Er sieht es nicht gerne, wenn ich komme, weil ich seinen halben Bestand aufkaufe. Als ich das letzte Mal bei ihm war, hatte er seinen Preis erhöht, weil er nicht viel davon hat. Aber es ist ein richtiger, authentischer Bauerncidre. Er stammt aus einem Dorf in der Nähe von Caen, einer großen Stadt im Süden der Normandie. Er trägt den alten Wikingernamen Halbi, das bedeutet halb-halb und steht für halb Birne, halb Apfel. Er ist ungefiltert, nicht pasteurisiert und ohne Zuckerzusatz. Die Flasche hier vor uns ist also noch am Leben, der Cidre befindet sich jetzt gerade mitten im Fermentierungsprozess.
Umso länger man ihn also stehen lässt, umso stärker wird er? Sidney: Genau. Er kann aber nicht stärker als 7% werden, weil dann kein Zucker mehr übrig ist.
Leila: Während der Fermentierung wird Kohlensäure freigesetzt und er ist sehr flüchtig. Du musst nicht einmal die Folie abziehen und es vibriert oben schon. Wenn du die Flasche öffnest, musst du deshalb sehr vorsichtig sein. Natürlich haben wir sie geöffnet und der Inhalt der Flasche ist an die Decke gespritzt. Das unangenehme daran ist, weil er ja ungefiltert ist, bleibt auf dem Tisch eine dicke …
Sidney: Kotze aus der Flasche. So sah es aus. Er war beeindruckend. In der Normandie ist es für die Kinder wie ein Spiel. Sie gehen in die Scheune hinterm Bauernhof, schütteln die Flasche und lassen dann los. Und genau das passierte uns mitten im Lokal. Es sind wahrscheinlich 7/8 des Flascheninhalts auf einmal rausgespritzt.
Wow, die Gäste waren bestimmt schockiert. Sidney: Deshalb verkaufe ich diesen Cidre auch nicht jedem, weil immer die Gefahr besteht, dass nicht viel davon zum Trinken übrig bleibt. Wir sind die Einzigen, die diesen Cidre führen. Ich fahre direkt zum Bauernhof, wate durch den Schlamm—ein Lama verfolgte mich dabei letztes Mal—sie wollen ihn mir nicht verkaufen und ich bezahle den doppelten Preis dafür. Den Leuten, für die ich eine Flasche öffne oder denen ich eine verkaufe, muss viel an Cidre liegen. Letzte Woche verkauften wir eine Flasche an einen Typen aus Dänemark, der hierher kam, um uns zu treffen und der seinen eigenen Birnencidre herstellt. Ihm lag also wirklich etwas dran.
Habt ihr einen Lieblingscidre? Sidney: [lacht] Leila schon.
Leila: Ja, das hängt sehr vom Tag oder meiner Stimmung ab. Ich bin eigentlich ein Whiskeytrinker. Wir haben einen, der heißt Reserve und der wurde in Calvados-Fässern gereift. Es ist ein sehr sanfter und buttriger Cidre. Und die Flasche ist sehr schön.
Sidney: Es ist ein Cidre, der in kleinen Schlucken getrunken wird. Bierähnlichere Cidres verkaufen sich bei uns besser; die, von denen ich eine kalte Flasche allein trinken kann und die runtergehen wie Öl. Dieser Cidre hier ist aber beispielsweise eher als letztes Getränk des Abends geeignet. Du schenkst dir ein Glas ein und genießt es einfach. Die Blasen sind sehr fein und das Eichenholz der Calvados-Fässer sorgt für viel Tannin und für Geschmacksnoten, die an Whiskey erinnern.
Stammen alle eure Produkte aus Frankreich? Habt ihr auch Apfelwein im Sortiment? Sidney: Momentan stammen alle unsere Cidres aus der Normandie. Wir haben drei Apfelweine, zwei aus Österreich und einen aus Frankfurt. Mein nächster Cidre-Trip geht nach England, wo ich mir den Unterschied zwischen französischem und englischem Cidre genauer ansehen werde. Leute haben mir schon Flaschen mitgebracht und mir die Unterschiede ein bisschen erklärt. Deshalb geht meine nächste Reise, hoffentlich im Oktober, dort hin, um mehr darüber zu lernen.
Wahnsinn, das klingt auf jeden Fall nach Spaß. Stammt euer Cidre Steak eigentlich von Kühen, die französische Äpfel fressen? Sidney: Das wäre dann der nächste Schritt. Wir sind momentan mit einem Bauern in Frankreich in Kontakt, der seine Kühe wie Wagyu-Rinder züchtet, nur statt Bier, kriegen sie täglich einen Liter Cidre.
Oh wow, dann lag ich ja gar nicht so weit daneben. Sidney: Nein. Er hat aber nur sechs Kühe, deshalb haben wir sein Produkt momentan noch nicht. Das kommt aber noch. Das Cidre Steak ist aber etwas sehr besonderes.
Leila: Es ist Bavette nach französischer Schnittführung, das 24 Stunden lang in Cidre und andere Zutaten eingelegt und dann für 11 Stunden vakuumgegart wird. Am Schluss kommen noch Zwiebeln dazu, die 30 Stunden lang gekocht wurden, bis sie ganz weich und karamellisiert sind und die mit Aioli vermischt werden. Am Schluss noch etwas Gastrique und eingelegte Senfkörner, die das ganze Fett ein bisschen auffangen.
Gibt es noch etwas anderes, das besonders gut zu Cidre passt? Leila: Eigentlich alles, was auch zu Äpfeln passt. Karamell, Schweinefleisch, Sahne. Richtig reichhaltige, schwere Speisen passen gut dazu.
Sidney: Wenn ich an die Normandie denke, dann denke ich an Sahne, Käse oder Butter.
Leila: Und Fisch. Fisch passt gut wegen der Süße.
Sidney: Französischer Cidre ist wie französischer Wein, er wird nicht nur aus einer Apfelsorte gemacht. Es sind bestimmt zehn verschiedene Sorten im Cidre und jeder Apfel hat seine Eigenheiten. Die Standardformel ist ein Drittel süße Äpfel, ein Drittel saure Äpfel und ein Drittel bittere Äpfel. Das gleicht sich aus und sorgt für eine Schwere und Vollmundigkeit. Deshalb passt es gut zu fettigen Speisen und Fisch. Wenn du es zu Fisch trinkst, wird die Frische mehr hervorgehoben. Bei fettigen Speisen liegt der Schwerpunkt eher auf der Bitterkeit und der Frische, um das Fett auszubalancieren. Und für süße Speisen oder bei Karamellnoten kannst du zu einem süßeren Cidre greifen. Es passt also zu vielen verschiedenen Dingen.
Ist Cidre deshalb schwierig herzustellen, weil diese Balance zwischen den Äpfeln stimmen muss? Sidney: Ja. Cidre-Äpfel sind entweder sehr, sehr süß oder haben sehr ausgeprägte Eigenschaften, was auch immer diese sind. Wenn die Äpfel fermentieren, verlieren sie diese Süße ein bisschen. Apfelweine werden in Deutschland meistens mit Tafelsorten und nur aus einer Sorte hergestellt. Ein Tafelapfel ist perfekt zum Essen, er hat genau die richtige Süße. Während des Fermentierungsprozesses geht diese Süße verloren. Deshalb ist Apfelwein oft sauer, wenn die natürliche Süße der Frucht aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Wir haben eine Auswahl von Apfelweinen hier, bei der der Produzent die Früchte richtig ausgewählt hat und die auch nicht sauer schmecken. Es geht um die Balance. Das ist eine richtige Herausforderung bei der Herstellung von Apfelwein. Beim französischem Cidre löst man dieses Problem mit den drei verschiedenen Apfeltypen und dann geht es darum, die richtige Balance zwischen diesen zu finden.
Alles klar. Danke, dass ihr euch Zeit genommen habt.