Juni 2006: Ich hatte sie tatsächlich bestanden, die verdammte Matura. Irgendwie hatte es geklappt, hatten die sieben Jahre Rumhängen in der Mensa anstatt Rumturnen im Sportunterricht, Pentagramme und Anarcho-As auf Hefter und Schulhauswände kritzeln statt aufzupassen doch tatsächlich in einem Zeugnis gemündet, das mich im Herbst auf die Uni würde gehen lassen. Bis dahin: Freiheit! 20 Wochen Freiheit lagen vor mir, um genau zu sein, ein Sommer voller Nichtstun. Was das für mein 18-jähriges Ich bedeutete: durchzechte Nächte und verkaterte, verpasste Tage.
Ich kann mich an einen Abend erinnern, an dem wir einfach rausgingen, ohne Plan, ohne Ziel. Nicht einmal betrunken zu werden strebten wir an, das passierte nebenbei. Mit meiner besten Freundin ging es zuerst in unsere Stammbar und als die zumachte, kauften wir noch ein paar Dosenbier beim Kebapladen nebenan. Wir setzten uns irgendwohin, auf einen Spielplatz oder auf das Flachdach einer geschlossenen Buvette und diskutierten über die Welt—im Aberglauben daran, sie verstanden zu haben. Was dabei aus den crappy Lautsprechern plärrte, die wir an meinen Discman angeschlossen hatten: Wolfmother.
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2006 war das Jahr von Wolfmother. Ihr gleichnamiges Debütalbum erschien weltweit, nachdem es zuvor nur in ihrer Heimat Austalien veröffentlich worden war. Und wurde zum Kassenschlager. Songs wie „The Joker and the Thief“, „Woman“, „Dimension“ oder „White Unicorn“ gehörten im Nu zum Must-Play jedes Rock- und Party DJ’s und die dazugehörigen Clips flimmerten in Dauerrotation über MTV (wofür sich damals noch jemand interessierte). Innerhalb eines Jahres wurden Wolfmother vom No Name zur Hoffung der verzerrten Gitarrenmusik.
Die erste Frage, die sich diesbezüglich zwangsweise stellt: Warum eigentlich? Warum zur Hölle überzeugte Andrew Stockdale, ein wuschelköpfiger Australier mit quängelnder Stimme und durchschnittlichem Gitarrenspiel, mit Riffs, die vor 40 Jahren erfunden wurden, Kitsch-Balladen, zu welchen dich deine Eltern hätten gezeugt haben können, und Texten über weisse Einhörner uns alle davon, der vermeidliche Retter des Rock’n’Roll zu sein?
Weil wir uns—und damit meine ich nicht nur mein naives, selbstgefälliges und romantisches 18-jähriges Ich samt Freunden, sondern die Musikwelt Mitte der Nullerjahre insgesamt—, ohne es explizit zu wissen, genau danach sehnten: nach weissen Einhörnern, heisst: nach Eskapismus, Weltflucht, nach einem laut wiehernden, verzerrten, aber dennoch optimistischen „Fuck this shit! I’m gone!“.
Und genau daraus besteht, bei allem rebellischen Kämpfer-Gehabe, der innerste Kern der Rockmusik: im Versuch, dem drögen Alltag zu entkommen. Vielleicht immer schon und auch für alle Zeit, auf jeden Fall aber in den goldenen 70er-Jahren, den sowohl finanziellen wie auch künstlerischen Glanzzeiten der Rockmusik. Und eben auch jene Glanzzeiten, welche Wolfmother in ihrem Sound als erste wieder massenwirksam aufleben liessen.
Die Retro-Welle kam zwar schon ein paar Jahre vorher ins Rollen und spülte dabei einen ganzen Haufen an „The“-Bands auf die Festivalbühnen, doch während all die Hives und Strokes der reduzierten Lederjacken-Attitüde der 60s und des frühen Punks nacheiferten, huldigten und huldigen Wolfmother der ausladenden Geste der exzessiven 70s, wo Gitarrenriffs auf übertriebene Licht-Shows, lange Haare auf ausgefallene Outfits (Fransen!) und Bier auf psychedelische Substanzen trafen (was dann auch schon mal die Phantasie zu Einhörnern und Zauberern inspirierte, wie etwa Led Zeppelins legendärer Konzertfilm „The Song Remains the Same“ beweist).
Wolfmother inszenierten diese eben nicht nur musikalische, sondern auch stilistische Zeitreise perfekt—von den Schlaghosen, die durch Skinny Jeans ersetzt wurden, mal abgesehen. Der ikonische Schriftzug: check! Das nach der Grösse einer Vinyl-Platte schreiende Fantasy-Cover: check! Die mit allerlei Filtern bearbeiteten, mal körnigen, mal psychedelischen Videoclips: check!
Andere Bands mögen zur selben Zeit oder schon vorher den Vibe von Legenden wie Zeppelin, Black Sabbath oder den Doors aufgegriffen haben und zwar noch adäquater, doch kein Act vermochte daneben auch deren übermenschliche Rockstar-Aura anzunehmen, wie es Andrew Stockdale gelan—unterstützt von einer cleveren Marketing-Abteilung einer der grössten Plattenfirmen der Welt. Und dann auch noch so verdammt eingängige Songs schreiben.
Zehn Jahre sind seither vergangen und sogar ich, der ich 2006 felsenfest davon überzeugt war, bald nicht mehr die lahmenden Chili Peppers, sondern die röhrende Wolfmother ganz oben auf den Festivalplakaten prangen zu sehen, muss zugeben: Es dauerte nicht lange und der Feenstaub, der mystische Nebel, der rund ums Power Trio herum am Anfang seiner Karriere funkelte, war verflogen.
Bald schon war nur noch Stockdale von der Originalbesetzung übrig. „Cosmic Egg“, die zweite Scheibe, wurde rundum zwar positiv bewertet, sorgte aber natürlich nicht mehr für das Erweckungserlebnis, das einen beim Debüt überrumpelt hatte, wohingegen „New Crown“, Platte Nummer 3, für die Massen wahrscheinlich einen Tick zu sehr nach Garagenband, zu verschroben und undergroundig klang. Dass das Album ohne Werbemassnahmen plötzlich auf Bandcamp erschien und anfangs auch nur dort erhältlich war, wird dabei natürlich auch nicht gerade geholfen haben.
So müssen wir uns fragen: Werden wir heute, wenn Wolfmother eine ausverkaufte Show im Zürcher Volkshaus spielen werden, eine Band zu Gesicht bekommen, die ihre besten Zeiten schon gesehen hat? Die nicht nur von der stilistischen, sondern auch ihrer eigenen Vergangenheit lebt? Und hängen wir, die wir selber ans Konzert gehen, selber einer Vergangenheit an, die wir einfach nicht loslassen wollen?
Die unumgängliche Antwort: Natürlich! Natürlich leben Wolfmother, obwohl das aktuelle Album „Victorious“ ein paar klasse Songs vorweisen kann, von „The Joker and the Thief“ und „Woman“ und „Dimension“. Natürlich sind es diese Songs, die ein Gros des Publikums werden hören wollen. Und natürlich hängen auch wir Fans etwas in der Vergangenheit fest. Ich jedenfalls gebe gerne zu, mich ein wenig nach dem Sommer 2006 zu sehnen, als ich 18 war und nichts zu tun hatte, ausser das Leben zu geniessen. Nur schon, weil ich damals den Kater am nächsten Morgen (beziehungsweise Nachmittag) besser verkraftete.
Gleichzeitig kann und will ich auch nicht verhehlen, dass ich mich in meinen Skinny Jeans auch ein wenig nach der Ära der Schlaghosen sehne. Und ich bin da nicht der einzige. Die Reunion von Black Sabbath? Hipster, die Psychedelic Rock von Tame Impala oder Ty Seagull feiern, als wär das was komplett Neues? Der Erfolg von Retro Bands wie den Rival Sons, Blues Pills, Graveyard oder Kadavar (inklusive ikonischem Schriftzug) aus der Trend-Stadt Berlin? Eine im Musikbusiness der 70s spielende TV-Serie wie „Vinyl“ und der Hype um ebenjenen Tonträger?
Du kannst davon halten, was du willst. Du kannst all den Bands Ideenlosigkeit oder kreative Feigheit vorwerfen. Erinnere dich aber mal daran, welche Bands um die Jahrtausendwende unter der Kategorie Rock in den CD-Regalen standen—oder was du halt runtergeladen hast. 2003 veröffentlichten Linkin Park „Meteora“, waren damit weltweit über Wochen auf Platz 1 der Charts und als 2005 das erste Greenfield Festival stattfand, standen neben anderen Green Day auf der Bühne.
Wenn ich daran zurückdenke, an Avril Lavigne und Nickelback, an Blink 182 und Papa Roach, dann bin ich verdammt froh, dass 2006 ein wuschelhaariger Australier auf der Bildfläche erschien und dabei Gitarre spielte und von weissen Einhörner sang, als hätte es die letzten Jahrzehnte Musikentwicklung nicht gegeben.
Und froh bin ich darüber auch jetzt noch, zehn Jahre später, wenn ich in den Plattenladen meines Vertrauens schlendern kann und mir dort „Blackstar“ von Bowie kaufe, auf schwarzem, 180gr-Vinyl im Aufklapp-Cover (oder in Musik-Nerd-Sprache: „gatefold“). Oder eben am heute ins Volkshaus pilgern, zu „Dimension“ headbangen und zu „Far Away“ mitsingen und dabei viel zu viel Bier trinken werde, als wäre es 2006 oder 1972. Und auf den Kater pfeife, der mich am nächsten Morgen unausweichlich heimsuchen wird.
Kissi trägt Skinny Jeans und sehnt sich nach Schlaghosen auf Facebook und Twitter.