Abgesehen von meiner Mutter und meinem Bruder wohnt meine gesamte Verwandtschaft in Polen. Wir sehen uns selten, telefonieren aber immer mal wieder miteinander. Es ist das übliche Frage-und-Antwort-Spiel: “Und, was macht die Arbeit?” “Geht so.” “Was macht die Liebe?” “Geht so.” “Habt ihr jetzt Angst, abends auf die Straße zu gehen?” “Bitte was?!” “Na wegen der ganzen Flüchtlingen, die bei euch die Frauen und Kinder vergewaltigen.” “Wo hast du den Scheiß denn her, Onkel?” “Na, das hört man doch überall.” “Wo überall?”
Und dann fängt es an, das Tauziehen, das Abschöpfen von Vorurteilen, bis nach fünf oder zehn Minuten ein “Ach echt?” vom anderen Ende der Leitung kommt und irgendwann auch ein: “Ja stimmt. So habe ich es gar nicht gesehen.”
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Dieses Nicht-gesehen-Haben liegt bei meinen Verwandten auch daran, dass sie nie einen Araber “so wirklich” gesehen und noch weniger gesprochen haben: “Gibt ja nicht so viele von denen bei uns.” Nee, gibt es nicht. Polen ist nicht Kreuzberg. 2014 hatte es den geringsten Ausländeranteil aller EU-Mitgliedsstaaten: 0,27%. Ich habe dann mal einen “von denen” mitgebracht. Ali—so heißt nämlich mein Kumpel aus alten Tübinger Studientagen. Er und ich machten einen Road-Trip durch Polen, die perfekte Gelegenheit, um mit ihm in der alten Heimat Halt zu machen.
“Mitgebracht”; das klingt so nach einem Päckchen Pralinen, das man seinen Verwandten mitbringt, von dem dann jeder mal probieren darf, oder es klingt, als wenn Ali ein Kapuzineräffchen wäre, das mir sofort bei der Begrüßung von der Schulter springt und vor den Verwandten kleine Kunststücke mit seinem auf das winzige Köpfchen maßgeschneiderten Zylinder vollführt. Rolle rückwärts auch. Aber vielleicht hinkt der Vergleich ein wenig, denn wer hat schon Angst oder Bedenken gegenüber Kapuzineräffchen? Die sind doch total liebenswert. Araber, die angeblich deine Frauen und Kinder ficken, eher weniger.
Und die Formulierung “Ich habe ihn mitgebracht” stimmt auch nicht so ganz. Eher umgekehrt. Ich war damals arbeitslos, Ali bereits Frauenarzt an einer Zürcher Klink. Auf unsere Abschlussprüfungen lernten wir beide in der Bibliothek noch gemeinsam. Dann als Mediziner hatte er Arbeit und Geld, ich mit einem Magister in Philosophie hatte höchstens Haarausfall und anstatt Geld auf dem Konto Plaque auf den Zähnen. Ali packte mich ein, wir tourten durch Polen und natürlich hat sich meine Familie in den Jungen verliebt. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, dass er ein fancy Zürcher Arzt war—er hätte genauso ein arbeitsloser Niemand wie ich sein können. Ein flotter Spruch hier, eine gütige Geste da, zur Begrüßung zauberte der Typ Blumen für meine Stiefmutter hervor. Noch am ersten Abend sagte mein Onkel: “Der Junge hat Schneid und Charakter. Er ist großartig.” Ich ergänzte: “Klar ist er das. Und ein Flüchtling ist er auch.” “Ja, stimmt.” Hatte Onkel völlig vergessen und das war auch gut so. Alis Familie ist 1989 mit ihm aus dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen, Libanon, aber danach wurde nicht mal gefragt, denn sehr schnell war er einer von uns.
Nette Geschichte. Sie ist wahr und trotzdem einen Scheiß wert, weil nicht jeder seinen ganz persönlichen Vorzeige-Ali wie das neueste Smartphone aus der Hosentasche zaubern kann, der auf Knopfdruck zu glänzen und begeistern weiß. Und selbst wenn, hat man das Gefühl, dass die Mühen zwecklos wären, weil selbst hundert gute Menschen nur schwer gegen einen einzigen böswillig geschriebenen Artikel ankommen können, der sich zur Aufgabe gemacht hat, Angst, Vorurteil und Hass zu schüren. Artikel wie dieser hier:
Der Titel lautet übersetzt: “Vor den Polen haben sie Angst, aber auf die Deutschen machen sie Jagd.” In den sozialen Medien geistert dieser Deutschlandbericht auf diversen polnischen Seiten umher. Tausende Menschen haben ihn bereits via Facebook geteilt, der oben gezeigte Repost stammt von der christlich-nationalistischen Seite Fronda.pl—sie ist an lächerlichem Populismus kaum zu überbieten—, doch interessanterweise ist der Urherber dieser “Reportage” die Redaktion von Radio-wnet.pl. Der Internetsender finanziert sich auch durch Gelder aus Europäischen Wirtschafts- und Entwicklungsfonds.
Dieser von der EU subventionierte Erfahrungsbericht fängt damit an, dass der Reporter sich auf den Weg in Richtung Frankfurt/Oder macht, wo er sich an der deutsch-polnischen Grenze selbst ein Bild von der Flüchtlingslage machen will. Er lässt sich von den Menschen vor Ort erzählen, was jenseits der Grenze so wirklich abgeht. Als ersten “Experten” trifft er auf einen Taxifahrer:
Mein Lieber Herr, was dort passiert! In Frankfurt und Umgebung gibt es etwa 4000 von diesen Flüchtlingen. Die Deutschen haben ihnen ein Hotel gegeben, haben es “Ramadan” genannt und jetzt schon ist es völlig ruiniert. Auch wurden ihnen einige Wolkenkratzer/Hochhäuser im Zentrum von Frankfurt gegeben, das reinste Elend. Die Flüchtlinge laufen dort in den benachbarten Vierteln umher, klauen, ich habe gehört, dass sie in Wohnungen einsteigen. In den Treppenhäusern vergewaltigen sie bereits. Die Deutschen sitzen völlig terrorisiert in ihren Häusern.
Aber es kommt noch besser, denn der Reporter lässt sich zu einem Basar fahren, wo er mit einem Händler von DVDs und Musik ins Gespräch kommt. Im Verlauf der Konversation entpuppt sich der Basarverkäufer auch noch als Multimedia- und Internet-Experte:
Wissen Sie, dass in Deutschland das Internet komplett zensiert ist? Dort ist nichts auf YouTube zugänglich und auch nicht auf solchen Portalen wie bei uns, wo man sich die Filme im Netz anschauen kann. Als mein Bekannter einmal ihre Sicherheitssysteme überwunden hatte, bekam er eine Rechnung über 1800 Euro.
Wer hätte das gedacht, der Händler und sein Hacker-Freund Neo sind ja die reinsten Sascha Lobos. Also abgesehen von dem Umstand, dass “Rechnungen” eher von Handwerkern als von Regierungen bei Strafvergehen gestellt werden, hat der gute Mann auf jeden Fall Recht. Ich hatte schon immer das Gefühl, hier in Deutschland wie in einem zweiten Nordkorea zu leben. Jedes Mal, wenn ich mir auf YouTube den Dubstep-Remix von Celine Dions “My Heart will go on“ oder den Trailer zu dem neuen Angry Birds-Film geben will, werde ich umgehend zur 2009er Weihnachtsansprache von Horst Köhler weitergeleitet.
Schließlich kulminiert die gesamte multimediale Wissensfundus von Sascha Lobowski im folgenden Resümee:
Die Deutschen marschieren brav in die Läden oder kommen zu uns gefahren, weil wir nur lauter Neuigkeiten haben.
Auch völlig richtig! Ich habe mir bereits gestern schon ein Bahn-Ticket von Berlin nach Frankfurt/Oder gebucht, um dort auf dem Basar die allerneuste Robocop-Raubkopie zu ersteigern. Es ist ein Prequel. Titel: Robocop Genesis—Die Geburt der Blechlawine. Habe auf YouTube schon mal den polnischen Trailer in bester 240 Full-Pixel-Auflösung gehackt:
Hoffentlich bekomme ich keine Rechnung. Was die Reportage anbetrifft, so ist sie sehr gewieft geschrieben. Der Autor (oder die Autoren, denn ein Name wird nicht genannt) lässt ganz bewusst Anführungszeichen weg, sodass man nie genau weiß, wann die “Experten” ihre Erfahrungen erzählen und wann die Perspektive hin zum Erzähler und seinen Überlegungen wechselt. Die Übergänge sind fließend:
Und wofür dienen den Deutschen all diese Echelons, die Überwachung und die Geheimdienststellen, wenn der Nächstbeste ins Land einfallen und ungestraft ganze Viertel terrorisieren kann? Ich spaziere weiter über den Bazar und frage mich, ob die Zensur im Internet auch nicht ein politisches Fundament besitzt, weil die permanente Überwachung zwar angeblich nur der Bekämpfung von Raubpiraterie dienen soll, damit aber auch politisch nicht erwünschte Inhalte eliminiert werden, so wie es bei der mehrere Tage andauernden medialen Stille bei den Ereignissen rund um die Silvesternächte in Deutschland der Fall war.
Mit anderen Worten bedeutet das also: Unter dem Vorwand, Raubkopierern den Garaus zu machen, werden das Internet, die Medien und damit letztlich auch die Deutschen kontrolliert? Und wir dachten Chemtrails wären der Gipfel der Verschwörungstheorien.
Und wie der Reporter so weiter auf dem Basar und in den umliegenden Alleen umherspaziert, trifft er auf den nächsten Experten. Einen Waffenhändler. Er verkauft Gaspistolen, Luftgewehre, Pfefferspray—Verteidigungsutensilien eben.
Die Deutschen kaufen, unsere Leute noch nicht. (…) Bei uns herrscht noch Frieden, aber was sich bei den Deutschen abspielt! Die Merkel ist verrückt geworden! Wissen Sie, wie die Menschen jetzt Berlin und all die Orte nennen, wo die Merkel die Araber untergebracht hat? Scheißhäuser! Die fallen in Läden oder Supermärkte ein, tragen die ganze Ware raus und scheißen dazu auch noch, wo es hinfällt. Am meisten sehe ich es an den Leuten, dass weniger von ihnen kommen, weil sie ihre Häuser bewachen. Und die Deutschen sind völlig lebensunfähig: Wenn die Zeitumstellung bevorsteht, kommen sie zu mir, damit ich ihnen die Uhren umstelle. Die sind wie Gelee.
Na klar, wer kennt sie nicht, die Kilometer langen Autoschlangen an den deutsch-polnischen Grenzen, wo hilflose Deutsche mit ihren Schwarzwälder Kuck-Kucks-Uhren sich auf den Weg zum nächstgelegenen Waffenhändler machen, damit er ihnen den Zeiger eine Stunde nach hinten oder gegebenenfalls auch nach vorne drehen kann?
Im weiteren Verlauf des Textes und in den nicht zitierten Passagen wird immerzu ein Bild des Terrors gezeichnet, von verängstigen, hilflosen Deutschen und auf sie Jagd machenden Flüchtlingen, die ihnen in Restaurants ins Essen langen oder demonstrativ den Hosenstall aufmachen. Wilde eben.
Der Bericht endet damit, dass die zehnminütige Unterhaltung mit dem Schutzwaffenverkäufer immer wieder von Kunden unterbrochen wird, die sich über Pfefferspray, Gaspistolen oder Elektroschocker erkundigenden bzw. diese kaufen wollen—mindesten zwölf Mal war es in den zehn Minuten der Fall “und sie alle sprachen deutsch”.
Ein ziemlich pathetischer Abgang. Er wirkt, genau wie der Rest vom Text, auf uns hier in Deutschland Lebenden, als wenn ihn ein Irrer geschrieben hätte; denn wir mit unseren Kinox.to- und Yourporn-Zugängen, wir mit unseren iPhones, die von alleine die Zeit umstellen können, und Supermärkten, die voll Ware und nicht Flüchtlingskot sind, wissen, wie solchen Artikeln zu begegnen ist: Mit einem lachenden und tränenden Auge, angesichts der billigen Versuche, uns für blöd zu verkaufen.
Trotzdem wurde der Text allein auf Fronda.pl über 9.000 Mal geteilt. Es zeigt, dass Populismus keine Grenzen zu scheuen braucht, wenn das, was beschrieben werden soll, den Menschen kaum bekannt ist. Es bedarf keiner konkreten Beweise, um gewünschte Inhalte zu transportieren, es reicht ein namenloser Reporter, der auf einem Bazar einen DVD-Verkäufer befragt, dessen Bekannter Deutschland gehackt und dafür eine Rechnung von 1800 Euro bekommen haben soll, es reichen Taxifahrer, die nach Frankfurt fahren und angeblich irgendwelche Zustände sehen, all das reicht aus, da sich der Leser nach ein paar Wochen ohnehin nicht mehr an die konjunktivistischen Verschachtelungen und zweifelhaften Referenzspiralen erinnert—was am Ende haften bleibt, ist die Kernaussage: “Flüchtlinge plündern und vergewaltigen, solche Wilden wollen wir bei uns im Lande nicht!” Und wer bis zum Ende des Artikels gelesen hat, dem sind ja noch die Insignien von offiziellen EU-Fonds entgegengesprungen, die auf den einen oder anderen fast schon wie Güte- oder Wahrheitssiegel wirken: “Na wenn die EU das unterstützt, wird das schon seine Richtigkeit haben.”
Es sind Artikel wie diese, die die Menschen in Polen, Deutschland, Syrien, Russland, USA oder am Arsch der Heide gegeneinander aufstacheln, die Mauern zuerst in Köpfen entstehen lassen, bevor sie an Grenzzäunen in die Tat umgesetzt werden, die kontinuierlich publiziert und gelesen schließlich selbst in den kultiviertesten Köpfen zu Sätzen führen wie: “Na das hört man doch überall.” So entsteht dieses “Überall”.
Seit meine Verwandten Ali übrigens kennengelernt haben, spielt sich unser Frage-und-Antwort-Spiel nun eher so ab: “Was macht die Arbeit?” “Geht so.” “Was macht die Liebe?” “Geht so.” “Wie geht es Ali?” “Voll gut. Er hat …” Auch wenn’s aussichtslos ist: Am liebsten würde ich mit dem Jungen auf Welttournee gehen, zeigen, dass Flüchtlinge keine Gefahr sein müssen, aber das geht ja nun nicht; er muss Kinder auf die Welt bringen, und ich versuche, meinen deutschen Freunden endlich das Konzept der Zeitumstellung beizubringen.
Paul entschuldigt sich für das Pathos hinten raus. Auf Twitter könnt ihr ihm folgen und euch persönlich um Verzeihung bitten lassen.