Bio-Hacker rüstet sich mit einem Chip im Arm zum DIY-Cyborg auf
Die erste Version des Circadia unmittelbar nach der Implantation im Unterarm von Tim Cannon. Alle Bilder: Peta Jenkins / MOTHERBOARD.

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Bio-Hacker rüstet sich mit einem Chip im Arm zum DIY-Cyborg auf

Der Bio-Hacker Tim Cannon bekommt das erste Mal einen Chip implantiert, der selbstentwickelt wurde und die Kontrolle der eigenen biometrischen Daten erlaubt.

Ausgerechnet im latent-morbiden Essen ist die Menschheit einer Cyborg-Zukunft an diesem Wochenende einen Schritt näher gekommen: Der Bio-Hacker Tim Cannon ließ sich hier am Samstag das erste Marke Eigenbau entwickelte Chip-Implantat zur Aufzeichnung biometrischer Daten in seinen Unterarm einpflanzen.

Im Vergleich zu den Apps der Quantified-Self-Bewegung oder zu den neuesten Nike-Armbändern, mit denen die Fans verdateter Fitness ihre Leistungen optimieren, ist der Circadia Chip eine Open-Source-Entwicklung, mit denen der Entwickler die volle Kontrolle über sein eigenen Daten haben soll. Und vor allem unterscheidet sich die Bio-Hacker-Version von Wearable Technology dadurch, dass sie nicht am Handgelenk sondern unter der Haut getragen wird. Da das Implantat nicht offiziell anerkannt ist, musste Tim sich den Chip von einem Body-Modification-Artist ohne Betäubung einpflanzen lassen.

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Ich habe Tim nach Essen begleitet, zur Body-Modification-Konferenz BMXnet-Konferenz, für die sich mehrere Tage Fleischkünstler aus aller Welt in der postindustriellen Metropole mit dem Charme deutscher 50er-Jahre-Aufbruchsstimmung versammelten. In unserer Video-Dokumentation hat Tim mir das Gerät nach seinem Eingriff geduldig vorgeführt und mir erklärt, wie er damit nicht weniger als die Grenzen der Evolution sprengen möchte.

Einer der Pioniere der Body-Mod-Szene ist Steve Haworth, der Entwickler von 3D-Tattoos und von metallenen Mohawks. Als selbsterklärter „Flesh-Mechanic" mit 20-jähriger Erfahrung führte Steve den Eingriff mit eigens gebauten Geräten an Tim Cannon durch. Wie es sich für den experimentelleren Teil der Body-Modification-Bewegung gehört, für die Fleisch ein Medium ihres künstlerischen Ausdrucks ist, dienten Eisbeutel als einzige Linderung während des Eingriffes, der rund eine halbe Stunde dauerte.

Der implantierte Chip hört auf den Namen Circadia 1.0 und wurde von Tim zusammen mit den Kollegen der von ihm mitbegründeten Firma Grindhouse Wetware entwickelt. Dieser Zusammenschluss aus Bio-Hackern, Künstlern, Programmierern und Grindern – gleichermaßen selbstgelernte Amateure wie Experten – hat einen Keller in Pittsburgh in ein Labor zur Entwicklung der Mensch-Maschinen Zukunft umgewandelt.

Der Circadia Chip zeichnet, in seiner ersten Version, die Körpertemperatur auf, und überträgt sie in Echtzeit über eine Bluetooth Schnittstelle an jeden Computer mit Android Betriebssystem. Als netter Nebeneffekt lassen sich außerdem über die selbstprogrammierte Bedienungssoftware drei LED's steuern, die das Unterarm-Tattoo von Tim subkutan beleuchten.

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Wenn es nach Tim geht, wird der jetztige Chip nur ein bescheidener Auftakt sein. Schon in den nächsten Monaten sollen weitere Updates folgen. Die Entwicklung eines Pulsmesser ist schon abgeschlossen, die Verkleinerung des Chips steht bevor und sollte den Eingriff etwas weniger kompliziert machen, und auch die automatisierte Kommunikation des Chips mit einem verdateten Haus ist in Planung:

„Ich finde unsere Umgebung sollte genauer und unmittelbarer darauf hören, was in unserem Körper vorgeht", erzählte mir Tim in Essen. „Wenn ich also zum Beispiel einen stressigen Tag habe, wird der Circadia mit meinem Haus kommunizieren und automatisch eine entspannende Atmosphäre vorbereiten und mir für den Feierabend vielleicht schon einmal die Badewanne einlassen."

Der Körper wird so zu einem Teil des Internets der Dinge. Aber anders als die Anhänger der Quantified-Self Bewegung machen Bio-Hacker das Konzept der Verdatung und Verbesserung ihres Körpers zu einer Aufgabe von Untergrund-Forschung.

Warum Bio-Hacker wie Tim den höheren Einsatz mit DIY-Implantaten wagen und sich dem Spass von Eingriffen ohne Betäubung hingeben? Den Cyborgs Marke Eigenbau geht es nicht nur um die Entwicklung einzelner funktioneller Gadgets oder komfortabler Leistungsoptimierung im Alltag. Der Ethos der Bio-Hacker zielt darauf die Grenzen der Biologie zu überwinden und die Evolution zu hacken.

Während Hacken sich als Kultur-Technik in nahezu allen Bereiche unseres Lebens etabliert hat, und die Aneignung von Kommunikationsnetzwerken ein bekanntes Schlachtfeld von Aktivisten und Cyber-Kriegern aller Seiten geworden ist, wollen Bio-Hacker einen Kampf um Selbstbestimmung und Autonomie im Feld des technologisierten, menschlichen Körpers vorantreiben.

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Die Arbeit von Grindern wie Tim Canon erscheint wie eine Ingenieursversion von Michel Foucault in den 1970er geprägtem Konzept der Bio-Politik. Foucault beschrieb mit dem Ausdruck die Entwicklung einer neuen Regierungsform im 20. Jahrhundert, die den Körper zu einem Vermessungsobjekt macht und zu einem reproduzierenden Teil der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Inzwischen hat sich längst bewiesen, dass die Machtkämpfe unserer Zeit sich nicht nur in legalen oder parlamentarischen Diskursen abspielen, sondern sich auf den Körper, unser Verhalten und technisch schon bald sehr konkret unter unsere Haut verlagern könnten.

Der biologische Körper ist nicht perfekt. Es gibt keine 100-prozentige Gesundheit.

Im Angesicht der anstehenden Entwicklungen von Unternehmen, die Implantate mit Patenten und geheimen Testverfahren schützen, könnte die Frage, wie wir die Eigentumsrechte und Kontrolle über unseren Körperdaten behalten, schon bald zu einem sozialen Kampffeld werden.

Tim Cannon jedenfalls hält den menschlichen Körper für unperfekt und möchte sich von der etablierten Medizin mit ihrer „künstlichen und willkürlichen Idee von 100-prozentiger Gesundheit" nicht vorschreiben lassen, wann sein Körper komplett ist, und inwieweit er ein aufgerüsteter Cyborg werden darf. Mit Open-Source-Methoden möchte hier eine Hacker-Bewegung beweisen, dass wir gar nicht darauf warten müssen, was der "medizinische Mainstream uns anbietet, um unsere menschlichen Fähigkeiten zu definieren."

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Das Beispiel von Dick Cheney's Herz zeigt nicht nur, dass hochkomplexe Produkte etablierter medizinischer Forschung bisher meist nur wenigen Menschen vorbehalten bleiben, sondern auch, dass diese Organe ein fundamentalles Sicherheitsrisiko darstellen. Auch wenn ich nicht glaube, dass es den ehemaligen US-Vize-Präsidenten kaum beruhigen dürfte, sind es Bio-Hacker, die von sich glauben als vernetzte Untergrundkultur und selbstgelernte Keller-Bastler die Geräte grundsätzlich sicherer machen zu können. Für den gelernten Programmierer Tim Cannon jedenfalls, ist das Beispiel der Immunität des Linux-System gegenüber den in anderen geschlossenen Systemen schon Ansporn genug voll auf Open-Source entwickelte Organen zu setzen.

Vortrag: Our Cyborg Future by Tim Cannon im c-base in Berlin.

Mit den viel günstigeren Entwicklungskosten eines offenen Hacker-Netzwerks möchte Tim außerdem seinen Traum verwirklichen künstliche Organe billig für jedermann anzubieten:

„Wir haben rund 18 Monate an unserem Circadia Chip gearbeitet, und dafür einen Bruchteil der Entwicklungskosten benötigt, die ein große Unternehmen dafür aufwenden würde. Das gleiche werden wir auch mit unseren nächsten Projekten so machen. Ein künstliches Herz will ich innerhalb des nächsten Jahrzehnts entwickeln."

Schon in wenigen Monaten soll es eine erste Produktionsserie des Circadia geben. Für ungefähr 500$ könnte jeden den Chip kaufen, der vor allem durch die Infrastruktur der Body-Modification-Subkultur und Piercing-Studios vertrieben werden soll. Dort könnte nach der Weitergabe des Expertenwissens auch den Eingriff für ungefähr weitere 200$ erledigen werden.

Die Frage nach der Überwindung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine, nach der Technisierung des Menschen kann inzwischen nicht mehr als eine Frage des Ob gelten, sondern vielmehr als eine Frage nach dem Wann und nach dem Wer, der die Geschichte vorantreibt. Ob wir die Robotisierung der Evolution bei enthusiastischen Hackern oder bei der etablierten Medizin in besseren Händen wissen, wird von nun an wohl die weitere Geschichte zeigen.

Vorher gibt es kurz noch ein paar Batterie-Probleme zu lösen:

Update: Tim hat inzwischen den Chip aus seinem Unterarm entfernt. Wir haben über das begrenzte Leben eines ersten Prototypen mit ihm hier gesprochen.