Warum konnten die Geheimdienste die Pariser Anschläge nicht vereiteln?
Ein Mitglied einer belgischen Spezialeinheit bei einer Durchuschung in Moolenbek. Bild: imago/Belga

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Warum konnten die Geheimdienste die Pariser Anschläge nicht vereiteln?

„Bei der Umsetzung von Fiche S läuft etwas systematisch verkehrt.“

Knapp drei Tage nach den schrecklichen Anschlägen in Paris, bei denen bislang 129 Menschen getötet wurden und noch 99 in akuter Lebensgefahr schweben, bleiben tausende Fragen offen. Nur eine von vielen: Wieso konnten die Behörden und Geheimdienste einen offenbar so konzertierten und logistisch aufwändigen Anschlag nicht verhindern?

Die Sprecherin der sozialistischen Partei, Corinne Narassiguin, räumte sogar ein: „Offenbar gab es ein Versagen der Geheimdienste". Sie erklärte, dass kürzlich 2.000 neue Posten zur innenpolitischen Terrorbekämpfung geschaffen wurden, doch bislang nicht alle „in Betrieb" seien.

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Mittlerweile sind sieben der mindestens acht Attentäter von offizieller Seite identifiziert. Einer von ihnen ist der 30-jährige Ismaël Omar Mostefaï aus Paris, der das Konzert im Bataclan mit zwei anderen Attentätern überfiel und auf die Gäste wahllos mit Kalaschnikows feuerte, bevor er sich bei der Ankunft einer polizeilichen Spezialeinheit mit einem Sprengstoffgürtel selbst tötete. Anhand eines abgerissenen Fingers konnte der Mann identifiziert werden. Schnell war klar, dass Mostefaï seit fünf Jahren eine sogenannte „Fiche S" besaß—Fiche ist das französische Wort für Karteikarte, und das S steht für eine mögliche Bedrohung für die Staatssicherheit. 2010 war der achtfach wegen kleinerer Vergehen verurteilte Mostefaï den Behörden aufgefallen, weil er unter den Einfluss eines Hasspredigers in einer Moschee in Lucé bei Chartres gekommen sein soll und Kontakte zu islamistischen Kreisen gepflegt habe. Ermittler gehen davon aus, dass er den Winter 2013 in Syrien verbrachte und sich dort zum Terroristen ausbilden ließ. In seinem Wohnort Chartres wurde er als „einfaches Mitglied" einer Gruppe von Salafisten beobachtet, lebte dort ab 2012 aber zurückgezogen und unauffällig, wie der Bürgermeister des Ortes bestätigte.

„Bei der Umsetzung von Fiche S läuft etwas systematisch verkehrt."

Das Fiche S ist eine Unterkategorie des nationalen Verzeichnisses polizeilich registrierter oder gesuchter Personen: Rund 5.000 Personen tragen diesen Vermerk in Frankreich, darunter Hooligans, Islamisten, Rechtsradikale, aber auch als militant eingestufte Anti-Atomaktivisten. Die Vermerke sind noch einmal in bestimmte Gefährdungsstufen von 1 bis 16 unterteilt. Eine Fiche S wird alle zwei Jahre neu geprüft und bei anhaltender Gefährdung erneuert.

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Für den Serienmörder von Toulouse, Mohammed Merah, gab es eine Fiche S mit einer Gefährdungsstufe 5, was bedeutet, dass seine Grenzübertritte zentral registriert wurden. Der Attentäter Amedy Coulibaly, der im Januar 2015 einen jüdischen Supermarkt in Paris überfiel und dabei vier Menschen tötete, hatte ebenfalls eine nicht erneuerte Fiche S.

Auch der überwältigte Thalys-Attentäter vom August dieses Jahres hatte einen solchen Akteneintrag. Kritik am System der Fiche S wurde in Frankreich bereits nach der vereitelten Massentötung im Thalys laut; Menschen fragten sich, warum nicht mehr getan werden konnte, um potentielle Attentäter in Europa von ihren grausamen Taten abzuhalten.

„Geheimdienste wollen zur Terrorabwehr oft einen größeren Heuhaufen, um die Nadeln zu finden. Frankreich zeigt, dass dieses Argument so nicht stimmt."

Selbst das französische Innenministerium sah sich gestern veranlasst, einige Missverständnisse rund um das Fiche S auszuräumen und schrieb auf Twitter unter anderem: „Richtig ist, dass ein Fiche S einen Informationsaustausch auf europäischer Ebene zulässt. Falsch ist, dass die Fiche S bedeutet, dass die betreffende Person permanent verfolgt wird und dass die Klassifikationen innerhalb des Fiche S dem tatsächlichen aktuellen Gefährdungspotential entsprechen."

#ParisAttacks #FicheS : Sachez démêler le vrai du faux pic.twitter.com/9OwxLraHBl
— Ministère Intérieur (@Place_Beauvau) November 14, 2015

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„Wenn wir uns die jüngsten Terrorangriffe von Frankreich anschauen, dann fällt auf, dass bei der Umsetzung des Fiche S-Systems etwas systematisch verkehrt läuft. Mehrere der Attentäter waren als radikalisiert bekannt", betonte Eva Blum-Dumontet von der digitalen Bürgerrechtsorganisation Privacy International gegenüber Motherboard. Sowohl beim Charlie Hebdo-Angriff als auch bei dem Anschlag vom Juni und eben auch jetzt im Falle von Mostefaï hatten die Dienste manche der Täter auf ihrer Liste—allein verhindern konnte das keines der Attentate. Blum-Dubonet glaubt deshalb auch, dass der reflexhafte Ruf nach Gesetzesverschärfungen nicht zielführend sein wird: „Häufig argumentieren die Geheimdienste, dass sie zur Terrorabwehr einen größeren Heuhaufen brauchen, um die Nadeln zu finden. Frankreich zeigt, dass dieses Argument so nicht stimmt."

Im Zuge der Forderung nach umfassenderen Überwachungsgesetzen begannen andere, auch Snowden und seine Enthüllungen für die Anschläge direkt zur Verantwortung zu ziehen. So behauptete Ex-CIA-Direktor James Woolsey, dass sich Mitglieder des IS erst wegen der Snowden-Leaks der verschlüsselten Kommunikation zugewandt hätten und sich so der Überwachung durch Behörden entzogen. Diese Argumentation halten viele Kritiker jedoch für opportunistisch. Denn auch vor den Snowden-Leaks waren Geheimdienste nicht in der Lage, terroristische Anschläge wie 2002 auf Bali, 2004 in London und 2005 in Madrid zu verhindern.

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Dabei hat Frankreich schon heute eines der restriktivsten Überwachungsgesetze der westlichen Welt, die sich auf die Anti-Terror-Gesetze von 2004 stützen. Nach dem Charlie-Hebdo-Attentat wurden sie noch einmal verschärft: So dürfen die Geheimdienste ohne richterlichen Beschluss Telefone anzapfen und E-Mails mitlesen. Das im März 2015 verabschiedete neue Geheimdienstgesetz sollte auch „die Telekommunikations- und Diensteanbieter verpflichten, Maßnahmen einzurichten, die verdächtiges Verhalten online automatisch erkennen, und Kommunikation auf Anweisung entschlüsseln", wie Anna Biselli bei Netzpolitik berichtete. Im Juni dieses Jahres wurde die Kompetenz der Geheimdienste noch einmal massiv ausgeweitet: Dschihadistische und terrorverherrlichende Websites blockt das Innenministerium mit einer Netzsperre. Die Internetkommunikation können Geheimdienste und die Polizei bereits seit 2013 ohne vorherige Autorisierung in Echtzeit überwachen. Der Gesetzesentwurf vom Juni 2015 sah vor, dass Provider zudem Black Boxes in den Rechenzentren einbauen sollen, die den Traffic mitschneiden und die Verbindungsdaten nach auffälligen Mustern durchkämmen sollen.

Studien belegen jedoch, dass die meisten erfolgreichen Anwerbungsversuche für Terrorgruppen nicht online, sondern auf persönlicher Ebene in Moscheen oder durch Freunde oder Famlilienangehörige geschehen.

Kerzen für die Pariser Opfer in Seoul. Bild: imago/ZUMA Press

Daher ist die Ankündigung schärferer Gesetze nach Tragödien auf psychologischer Ebene zwar nachvollziehbar, allerdings aus sicherheitspolitischer Sicht unnütz, wie Anthony Cordesman vom Center for Strategic and International Studies gegenüber International Business Times erläutert:

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„Allein schon die Ankündigung neuer Razzien und Maßnahmen hat einen (…) beruhigenden Effekt auf die Menschen. Aber das heißt nicht, dass das effektiv Anschläge stoppen kann, ganz besonders nicht über einen längeren Zeitraum."

Eine klare Antwort auf die Frage nach der möglichen Verhinderung ist angesichts der wenigen bislang bekannten Details über die Planung und Koordination der Attacken schwer zu finden.

Einiges deutet jedoch darauf hin, dass ein Versagen in der Behördenzusammenarbeit auf internationaler Ebene eine Rolle gespielt hat: Die Festnahme eines Mannes auf der A8 nahe Rosenheim vor einer Woche, der mit einem professionell umgerüsteten Wagen voller schwerer Waffen, Munition und Sprengstoff in Richtung Frankreich unterwegs war, leitete die deutsche Polizei nicht an die französischen Kollegen weiter—obwohl der mittlerweile festgenommene Vladko V. eine Pariser Adresse als Ziel in sein Navi getippt hatte. „Es gibt einen Bezug nach Frankreich, aber es steht nicht fest, ob es einen Bezug zu diesem Anschlag gibt", sagte Innenminister de Mazière heute bei einer Pressekonferenz in Berlin.

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Ein Vertreter der türkischen Regierung behauptete gegenüber AFP sogar, die türkische Polizei habe die französischen Sicherheitskräfte „im Dezember 2014 und im Juni 2015 über Ismaël Omar Mostefaï zwei Mal informiert", jedoch bis nach dem Anschlag keine Reaktion darauf erhalten.

Auch die Warnungen irakischer Spione an die US-geführte Anti-IS-Koalition in Syrien vor einem Vergeltungsakt für den getöteten Jihadi John scheinen nicht direkt zu behördlichen Maßnahmen geführt zu haben. Zudem gaben türkische Sicherheitskräfte zu Protokoll, dass sie einen geplanten Anschlag in Istanbul vereitelt hatten, der am selben Tag wie die Pariser Anschläge stattfinden sollte. Französische Sicherheitskräfte verteidigten sich jedoch: „Solche Hinweise bekommen wir mehrfach jeden Tag", sagte ein leitender Ermittler der Zeitung Le Monde.

Frankreich zeigt uns auf tragische Weise, dass Dragnet und restriktive Überwachungsgesetze per se nichts bringen. Engere internationale Kooperation könnte auf sicherheitspolitischer Ebene dagegen eine Möglichkeit darstellen. Absolute Sicherheit bleibt jedoch eine Illusion, weswegen wir uns nicht von den Anschlägen lähmen lassen dürfen, wie auch auch Blum-Dumontet betont:

„Die Angreifer von Paris zielen auf unsere Werte von Freiheit, Demokratie und auf die säkularen Ideale Frankreichs. Diese Werte bedeuten auch, dass alle Bürger ein Recht auf Privatsphäre haben—deshalb sollten wir jetzt mehr denn je diese Werte schützen und hochhalten."