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Tech

Glassbrillenspiel

Google lädt mit einer neuen Programmierer-Plattform alle zur App-Entwicklung ein. Wir zeigen die besten, dümmsten, überflüssigsten und nützlichsten Anwendungen, die bisher dabei raus gekommen sind.

Blogger Robert Scoble demonstriert sich um seinen vier Millionen GooglePlus Lesern, wie wetterfest seine Google Glasses sind (via google+)

Laut dem Internet-Evangelisten Vint Cerf ist das private Leben möglicherweise nicht mehr als „eine Anomalie“—eine nicht nachhaltige Mode der Geschichte. Und wenn es nach Google geht sind wir alle herzlich dazu eingeladen an der Zukunft mitzuarbeiten: Vor drei Tagen haben die Entwickler von Google Glass ihre neue Programmierer-Plattform vorgestellt. Googles Entwicklungs-Enthusiast Timothy Jordan wiederholte so oft und mit größter Euphorie, wie viel cooler alles bald wird, dass mir davon schwindlig wurde. Und dann warf er in seiner Präsentation etwas ein, das mich kurz innehalten ließ: „Noch viel aufregender werden all die coolen Sachen, die wir uns nie hätten vorstellen können, und die ihr bauen werdet.“

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Google wendet sich mit Anfängertutorials an alle, auch an die Ahnungslosen, die eine App für die Datenbrille entwickeln wollen. Klar, auch bei Brillen gelten die üblichen Regeln: bitte macht daraus nichts Illegales, nichts Unmoralisches, und nichts Nacktes—„don’t be evil“ Aber, wer wird sich schon daran halten. Technologie ist, was wir daraus machen: Ich habe mir deshalb ein paar Apps herausgepickt und angesehen was es jetzt schon an absurden, gefährlichen, entblößenden und spannenden Anwendungen gibt.

Ein Zwinkern, ein Foto

Wir blinzeln ständig. Im Schnitt zucken unsere Augen 24,6 Mal pro Minute, bewusst und unbewusst. Mit „Winky“  lässt sich das nun endlich per Datenbrille dokumentieren, freut sich Mike DiGiovanni: „Ich habe heute mehr Bilder geschossen als in den letzten fünf Tagen. Sicher, die meisten sind dumm, aber meine Timeline wurde jetzt eine wirkliche Übersicht der Orten, an denen ich war.“ Die Foto-App ist der Klassiker unter den Anwendungen für die Google Glasses, bislang musste man aber zumindest sprechen („take a picture“). Jetzt gilt nur noch: ein Zwinkern, ein Foto.

Der Fotografie haftet ja schon seit ihren Anfängen etwas Voyeuristisches an. Aber der Alltag der Bildproduktion könnte nun wieder etwas spektakulärer und unterhaltsamer werden: Bei einer Fahrt in der U-Bahn meiner Heimatstadt Wien würde ein zu langer Blick nicht mehr bloß mit einem Mundl’schen „Wos schaust min so au“ abqualifiziert. Es wäre gleich jedes Blinzeln Anlass unhöflicher Verdächtigigung und Beschimpfung. Außerdem würde Stop-Motion ganz neu erfunden werden, und wir stünden statt mit sperrigen Tablets wild zwinkernd vor Sehenswürdigkeiten. Und in Google Glass Pornos würden die Darsteller selbst zu Fotografen werden und die Streifen wären aus mindestens zwei Perspektiven produziert.

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Striptease mit Sicherheitsabstand

Andere ausziehen, ohne sie anzufassen. Diese Fantasie führte schon zu den absurdesten Apps für Smartphones. Klar, wird der Schrott auch für die Brillen von Google kommen, auch wenn bislang jegliche Nacktheit zensiert wird. Eine Porn-App schaffte es kurz und wurde daraufhin gleich verbannt. Interessanter wird das alles in Kombiniation mit Gesichtserkennung. Zwar beteuert Google, das sie Facial Recognition ablehnen, aber daran gearbeitet wird trotzdem.

Bisher funktioniert das ganze durch Rückkoppelung an selbst geschossene und getaggte Fotos. Das Ziel aber bleibt in Echtzeit ein Gesicht mit Namen und entsprechenden Daten zu verlinken. Ob das dann genutzt wird, um mögliche Sexualpartner zu screenen, seiner Paranoia freien Lauf zu lassen, indem Datenbanken auf Kriminelle abgeglichen werden, oder um zu erfahren, wer einem im Nachtbus gegenüber sitzt—die Kombination würde das Daten-Striptease perfektionieren.

Was also, wenn wir nie wissen, was ein Brillenträger gerade scannt, liest, fotografiert? Wir werden wütend, und können schon mal auf die Idee kommen ihm die Gläser von der Nase zu reißen. Es könnte auch peinlich werden, wenn jemand aus Neugier die Brille aufsetzt, um zu entdecken, dass der vorherige Nutzer jeden nach Beziehungsstatus und Lieblingstier screent. Der Notknopf dafür ist „Bulletproof“. Die App sperrt den Bildschirm automatisch, wenn die Brille nicht getragen wird.

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Einrichtung zum Sitzenbleiben

Die einen Apps ziehen aus, die anderen richten an. „Fancy“ wird allen das Lebe erleichtern, die sonst mit Beratern in Einrichtungshäusern stundenlang darüber brüten mussten, ob der Vorhang nun zur Türklinke passt und das wiederum zum Hausschuh. Einfach Fotos abgleichen und kaufen lassen, was dazu passt—und dass alles mit reduziertem Denk- und Bewegungsaufwand in einem.

Durch Wände Blicken

Laut dem Entwickler Lance Nanek können wir mit „ThroughTheWalls” durch Wände blicken. Er stellt sich vor, wie wir in Notfällen bei Überflutungen und Bränden rasch Unterschlupf finden und im Stau sehen, ab wann es weitergeht oder was eigentlich passiert ist.

Die Open Source App nimmt Standortdaten, sieht sich an wohin der Blick sich wendet, und ergänzt dein Sichtfeld entsprechend—so wie es sich für Augmented Reality eben gehört. Die gläsernen Wände lassen sich im Alltag bestimmt für viel anderes nützen, was das Überwachen und Kontrollieren betrifft, oder um bei Mauern auf die andere Seite sehen zu können. Noch gibt es leider mehr als genug politische Mauern—vom Westjordanland bis zur Abschottung der EU, oder der USA von Mexiko—, und viele Grenzarchitekten würden bei jeglicher Aufrüstung ihrer Bilder- und Kameratechnologie sofort zuschlagen.

Gott immer vor Augen

Google Glasses geben auch den Gläubigen Orientierung.

Meldungen am Smartphone sind wie das Klingeln des Weckers, sie sind schnell einmal überhört und weggewischt. Wenn allerdings Meldungen direkt vors deinem Auge aufblinken, sieht die Sache vielleicht anders aus. Zumal wenn es darum geht die Religiosität in deinen Alltag einzubauen.

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Die App „Jewish Guide For Glass“ möchte die jüdisch gläubige Gemeinde unterstützen: unausweichlich der Countdown zum nächsten Gebet und auch der Spaziergang durch die Stadt birgt lauter Erinnerungen daran, wo die Stätten Gottes wären, die man besuchen könnte. Jetzt, kurz vor der Adventzeit, würde es sich anbieten einen Countdown hin zu jedem Sonntag zu machen, und allen die auf Christmärkte gehen vor die Augen zu projizieren, dass sie eigentlich statt sich mit warmen Wein zu betrinken, den auch in der Kirche ums Eck kosten könnten.

Die passende Brille zum Smog

Auch chinesische Entwickler haben sich der App-Bastlerei hingegeben und liefern ein Produkt in der Betaphase, das vor Augen führt, wie schlecht es um die chinesische Luft steht.

Der Brillenträger wird automatisch gewarnt, in welche Gegenden er erst gar keinen Fuß zu setzen braucht, wenn er von der Wirklichkeit sehen möchte. Mit Warnungen vor erhöhten Luftwerten möchte Entwickler Anson Ho bei denen punkten, die es sich leisten können zu entscheiden, wohin sie eigentlich müssen und wollen. Und die als Entscheidungshilfe für den Durchblick eine Datenbrille benötigen.

Mal schauen, ob die Brille den Mundschutz als wirkungsvolles Anti-Smog-Accessoire ablösen wird.

In der Diskussion darum, ob sich die Google Glasses durchsetzen werden, bemängeln die Kritiker oft das Design.

Aber ganz ehrlich, ob die Datenbrillen, von Google oder anderen Anbietern, hübsch oder hässlich sind, ist eine vollkommen unsinnige und irrelevante Frage. Hässlich sind Hornbrillen ja auch.

Letztlich geht es doch nur um den Moment des Aufzusetzens oder Abnehmens, der die Welt verändert.