Folgen der Erderwärmung
Bild: Museo della Grande Guerra, Peio

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Der Klimawandel fördert Leichen einer vergessenen Ersten Weltkriegsschlacht zutage

Erst tauchten die Gewehre auf, dann die Tagebücher und Briefe—und dann die gut erhaltenen sterblichen Überreste.

Eine der bizarrsten Folgen der globalen Erwärmung sind die schmelzenden Gletscher in den norditalienischen Alpen, die nach und nach die sterblichen Überreste von im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten freigeben. Nach fast einem Jahrhundert sind die Körper vom Eis nahezu perfekt mumifiziert worden. Ihre Überreste fördern auch das Andenken an die höchstgelegene Schlacht der Geschichte zutage—auch bekannt als „The White War."

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Wir befinden uns im Mai 1915. Das frisch vereinigte Italien entscheidet sich, den Alliierten im Ersten Weltkrieg beizutreten, der zu jenem Zeitpunkt schon seit 10 Monaten im Gange ist. Eifrig bemüht, sein Territorium zu erweitern, zettelt Italien einen Kampf gegen Österreich an und versucht, die bergige Landschaft zwischen Trentino und Südtirol zu annektieren. Die Auseinandersetzung führt zu dem, was heute als „The White War" bekannt ist: eine kalte, vier Jahre andauernde Pattsituation in den Schützengräben zwischen den italienischen Bergtruppen der „Alpini" und ihren österreichischen Gegnern, den „Kaiserschützen". Der Kampf in der Höhe wurde mit besonderen Eisgräbern, Kabeltransportern und natürlich mit spezifischen Waffen und Strategien geführt. Eine beliebte Taktik bestand darin, mit Granatwerfern Lawinen auszulösen, die dann über den gegnerischen Lagern abgingen und dort Hunderte Leben forderten.

Der Klimawandel sorgt schon seit einigen Jahren für ein Abschmelzen des Presena-Gletschers, der quer durch das ehemalige Schlachtfeld verläuft—so werden Stück für Stück die Überreste der alten Kämpfe ans Tageslicht befördert. Schon seit den frühen 1990er Jahren werden erstaunlich gut erhaltene Artefakte mit dem schmelzenden Wasser freigespült. Ein Liebesbrief für eine gewisse Maria aus dem Jahr 1918, der niemals abgeschickt wurde. Eine Ode an einen alten Freund, gekritzelt in ein Tagebuch. Eine liebevolle Skizze einer schlafenden Frau, die auf Tschechisch mit „deine verlassene Frau" unterschrieben wurde.

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Fast ein Jahrhundert nach dem Ende des blutigen Konflikts tauchen auch die sterblichen Überreste auf—wegen der Kälte weitgehend unverändert und immer noch in ihre Uniformen eingepackt. Im letzten September hat das Eis zwei Österreicher freigegeben: Beide blauäugig und blond und 17 bzw. 18 Jahre alt—mit Einschusslöchern in ihren Schädeln.

„Das Erste, woran ich dachte, waren ihre Mütter", sagte Franco Nicolis vom lokalen archäologischen Büro dem Telegraph „Die Leichen fühlen sich nicht alt an. Sie tauchen aus dem Eis auf, so wie sie darin verschwunden sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben die Mütter niemals etwas Genaueres vom Schicksal ihrer Söhne erfahren."

Die lokalen Behörden arbeiten seit Jahren daran, die Überreste dieses weitgehend vergessenen Krieges freizulegen. Im Jahr 2004 hat der Bergführer und Leiter des Peio-Kriegsmuseums, Maurizio Vicenzi, die Körper von drei toten Soldaten gefunden, die kopfüber aus einer dünnen Eiswand in 3.600 Meter Höhe hingen—Zeugen des höchsten Schützengraben der Geschichte. Weitere Funde sollten folgen. In einer seltenen Entdeckung fand ein Team einen versteckten Eistunnel, der, nachdem er durch riesige Ventilatoren freigeschmolzen wurde, eine riesige hölzerne Struktur freigab, die als Transportstation für Waffen und Nachschub gedient hatte.

Alle Körper, die der Gletscher freigibt, wandern zunächst in das Büro des forensischen Anthropologen Daniel Gaudio. Ihm fällt die Aufgabe zu, die Opfer zu identifizieren. Nur selten hat er damit Erfolg, obwohl es ihm in den meisten Fällen gelingt, die DNA der Leichen zu extrahieren. Doch ihm fehlen wichtige Informationen zur Identität der Verstorbenen, um etwas über den heutigen Aufenthaltsort ihrer Nachkommen in Erfahrung bringen zu können.

Bis zum heutigen Tag sind mehr als 80 Körper aus den Tiefen des Gletschers aufgetaucht. Und es werden sicherlich weitere folgen. Der Historiker Mark Thompson, Autor von The White War, hat festgestellt, dass alleine auf italienischer Seite mehr als 750.000 Soldaten in dem Kampf gefallen sind. Die Archäologen werden weiterhin jeden Sommer ihre Suche nach weiteren eisigen Überresten fortsetzten. Und es werden zweifelsohne weitere Körper auftauchen—der Klimawandel scheint sich unaufhaltsam fortzusetzen und die Gletscherschmelze nur noch weiter beschleunigt zu haben.

Nicht weit entfernt von dem Ort, wo Peio die ersten Soldatenleichen entdeckte, liegt heute ein beliebtes Skigebiet. Ein Jahrhundert später teilen sich so Italiener, Österreicher, Deutsche und Russen erneut den selben Berg—diesmal jedoch auf friedliche Weise.