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#MldGO: Wie Marseille-Ultras ihre Präsidentin kreativ loswerden wollen

Pokemon Go war mal ein Hype. Der neuste Scheiß kommt aus Marseille. Ultras des schwankenden Traditionsvereins haben den kreativsten Fan-Protest seit Jahren erfunden.
Foto: twitter.com/VGCU84

„Olympique Marseille", hat Robert Louis-Dreyfus mal gesagt, „macht dich verrückt." Der Mann muss es wissen. Von 1996 bis zu seinem Tod 2009 gehörte ihm dieser Verein. „OM", wie der Klub genannt wird, ist in der Tat einer der verrücktesten Vereine Europas. Wie die Stadt, diese irre Schöne und schöne Irre, in der das westliche Europa wie in keiner anderen Metropole mit der afrikanisch-arabischen Welt verschmolzen ist, ist auch OM immer dem Wahnsinn nahe.

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1993 führte der smarte Geschäftsmann Bernard Tapie den Klub zum Champions-League-Triumph—wenig später kam heraus, dass Tapie Gegner und Schiedsrichter gekauft hatte wie andere Vereine neue Spieler. Tapie kam vor Gericht, OM behielt zwar den Sieg in Europas Königsklasse (auf dem bis heute ein Schatten liegt), wurde aber in die zweite Liga strafversetzt. Kurz bevor Olympique finanziell kollabierte, tauchte der nächste Gönner auf: Robert Louis-Dreyfus. Der hatte kurz zuvor den wankenden Riesen Adidas vor dem Ruin bewahrt, selbstverständlich vertraute man diesem Macher den halbtoten Verein an. Viele Jahre pumpte „RLD", wie man Louis-Dreyfus nannte, Millionen in OM. Und auch in andere Taschen. Ende der Neunziger wurde er wegen illegaler Zahlungen bei Spielertransfers zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Wie auch bei Tapie nahmen ihm das die Fans trotzdem nicht krumm. Er hatte es ja für den Verein getan. Marseille gilt als Stadt mit hoher Kriminalität. Vielleicht ist es aber auch so, dass diese Stadt eine etwas andere Definition davon hat, was kriminell ist und was nicht.

2009 starb RLD. Jahre später tauchte er postmortem wieder im kollektiven europäischen Fußball-Gedächtnis auf. Wie genau er nun im Skandal um die WM 2006 beteiligt war, ist bis heute nicht ganz geklärt. Sicher ist wohl: Auch bei diesem Geschäft hatte Louis-Dreyfus offenbar die bestehenden moralischen Vorstellungen nach eigenem Gutdünken ausgedehnt. Vielleicht hatte ihn Olympique Marseille ja tatsächlich ein wenig verrückt gemacht.

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Gerade ist wieder ziemlich was los in der Hafenstadt. OM macht die Stadt verrückt. Oder besser gesagt: die Fans von OM. Oder noch viel besser gesagt: die wichtigsten Fans, die OM hat. 1984 gründete sich auf den Rängen des Stade Velodrom die erste Ultra-Gruppierung im französischen Fußball, das „Commando Ultra Curva Nord". Die jungen Pioniere von damals sind heute Männer zwischen 40 und 50 und nennen sich inzwischen „Alte Garde". Mögen längst andere Ultra-Gruppen sichtbarer sein, wenn bei OM die Kurve explodiert, die alten Ultras sind weiterhin Herzstück der äußerst lebendigen Fanszene des Vereins.

Anfang letzter Woche trafen sich ein paar von ihnen am Strand von Marseille, um bei kaltem Pils hitzige Diskussionen über ihre große Liebe zu führen. OM geht es nicht gut. 2010 gewann der Verein zuletzt die Meisterschaft, und für die neue Saison steht eine Mannschaft zur Verfügung, die von der Meisterschaft so weit entfernt ist wie Marseille von Mannheim. Den bei den Fans verehrten Trainer-Maniker Marcelo Bielsa legte die Vereinsführung so viele Steine in den Weg, bis der keine Lust mehr hatte und vor einem Jahr ging. Das Geld, das früher, zu Zeiten von Tapie und RLD, munter in den Klub gepumpt wurde, fließt nicht mehr.

Den Geldhahn zugedreht hat Margerite Louis-Dreyfus, die Witwe von RLD. Als sie 2009 das milliardenschwere Erbe ihres verstorbenen Unternehmer-Gatten antrat, gehört dazu auch Olympique Marseille. Es dauerte eine Zeit, bis die gebürtige Russin die Geschäfte ihres früheren Gatten durchschaut hatte. Bis sie erkannte, wie viel Geld in das Stade Velodrom geschüttet wurde, wo es verdampfte wie in einer riesigen Sauna. „Wäre ich eine echte Geschäftsfrau", hat MLD damals gesagt, „wäre ich also sehr vernünftig, dann hätte ich den Verein schon längst verkauft."

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Frau Dreyfus in wetterfester Kleidung; Foto: Imago

Das hat sie bis heute nicht. Aber auch nur, weil sich offenbar noch kein geeigneter Käufer gefunden hat. OM steht da wie ein in die Jahre gekommener Zuchtbulle auf dem Viehmarkt, der auf seinen neuen Besitzer wartet. Eine unerträgliche Situation für jeden Fußball-Fan. Und die Herzen pumpen in Marseille eben noch schneller als beispielsweise in Mannheim.

Pedro war Gründungsmitglied der ersten Ultras. Heute fungiert der 48-jährige Wissenschaftsjournalist als Sprecher der „Alten Garde". Er sagt: „MLD interessiert sich einfach nicht mehr für OM. Wie soll so eine Frau dafür sorgen, dass die Fans wieder stolz auf ihren Verein sind?" Schon seit Monaten protestieren Pedro, seine alte Garde und der Rest der Fanszene gegen die mehrheitliche Anteilseignerin des Vereins, fordern ihren Abschied und damit einen neue, stärkere Führung. Beim Halbfinale gegen Deutschland schwenkten OM-Fans Banner mit der Aufschrift „MLD VLB: 1,2,3…Partez!" Eins, zwei, drei—macht euch endlich vom Acker. „VLB" steht für Vincent Labrune, bis zum 25. Juli 2016 Präsident von OM. Den sind die Fans immerhin los: Louis-Dreyfus schasste Labrune und hob mit dem 72-jährigen Italo-Schweizer Giovanni Ciccolunghi einen engen Vertrauen ins Amt.

Mld und ihr Spezi Giovanni Ciccolunghi; Foto: Imago

Ein Schachzug, der die Diskussionen am Strand nur noch verschärfte. „Wir redeten uns die Köpfe heiß", erinnert sich Pedro, „und waren uns dabei klar, dass wir irgendwas unternehmen wollten." Irgendwann unterbrach eines der Kinder der alten Kurvenhelden die Runde, in der Hand ein Smartphone, in Gedanken schon wieder beim nächsten Pokemon. Statt über unbeliebte Witwen und fehlende Superstars diskutierte die Feierabendtruppe über den globalen Hype von PokemonGo. Die älteren Semester ließen sich von den Jüngeren über die Idee des Spiels aufklären. „Warum", sagte einer, „erfinden wir nicht ein ähnliches Spiel, wo die Menschen echte Dinge finden müssen. Irgendwas mit OM?" Ein paar Bier später war die Idee geboren. Pedro: „Unser Plan: wir drucken den Slogan `MLD GO` auf Plakate, Banner und Sticker, verteilen die in der Stadt und rufen die Leute auf, die Teile zu finden, zu fotografieren und bei Twitter hochzuladen. Einen Tag später waren die Sachen gedruckt, noch einen Tag später an 30 verschiedenen Punkten in Marseille verteilt."

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Man kann nach Niederlagen wütend an einem Zaun rütteln und „Vorstand raus!" brüllen oder man erfindet „MLD GO". Das nennt man dann kreativen Fanprotest.

Gute Ideen haben immer Erfolg. Nur wenige Stunden, nachdem die „Alte Garde" auf ihrem Twitteraccount @VGCU84 für die Teilnahme an #MldGO warb, trudelten auch schon die ersten Bilder ein. Fans am Hafen. Ein einsamer Sticker in Stadionnähe. Das bislang beste Foto zeigt einen Soldat der französischen Anti-Terror-Einheit, der, schwer bewaffnet und unkenntlich gemacht, eines der Banner vor einer Metro-Station in die Kamera hält.

Très grand respect pour ce militaire en mission sentinelle à — VieilleGardeCU84 (@VGCU84)29. Juli 2016

„OM ist Magie" lautete der Slogan der ersten Banner der Ultra-Pioniere von 1984. Wie durch Zauberhand hat sich die Protestaktion gegen Margerita Louis-Dreyfus längst über die Grenzen Marseilles hinweg verbreitet. „Wir haben Bilder aus Paris und Buenos Aires geschickt bekommen", sagt Pedro, „es ist, wie wir es in unserem ersten Tweet geschrieben haben: Besser als Pokemon."

Das mag Geschmacksache sein, aber man wüsste zu gerne, wie MLD die Aktion beurteilt. Doch wie ein Gast, dem die Kellner bereits mit dem Wischmob zwischen den Beinen wischen, ignoriert die 54-Jährige bislang den Hype um ihre Person. Sie sucht weiter nach einem Käufer. Wer auch immer das sein wird, er oder sie weiß jetzt, dass Olympique Marseille nicht nur verrückt machen kann, sondern verrückt ist. Und dass das manchmal eine ziemlich gute Sache sein kann.

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Le — VieilleGardeCU84 (@VGCU84)28. Juli 2016

Soyez prudents sur la route des plages, sauf le réseau des LD. — O.M.1899 (@Maillot_creatif)3. August 2016

— Julien Pascal (@JulienELpascal)1. August 2016

A — VieilleGardeCU84 (@VGCU84)31. Juli 2016

— VieilleGardeCU84 (@VGCU84)30. Juli 2016

— VieilleGardeCU84 (@VGCU84)30. Juli 2016