So sieht das Leben in der Sperrzone von Tschernobyl aus

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So sieht das Leben in der Sperrzone von Tschernobyl aus

Zu Besuch bei den 140 illegalen Siedlern, die von den Erträgen der kontaminierten Erde leben.

Im direkten Umkreis des Unglücks wurden die Luft, Erde und Einwohner mit Strahlen verseucht. Die Folgen: Geburtsfehler, Schilddrüsenkrebs und Mutationen über mehrere Generationen hinweg. Mehr als 30 Jahre nach dem Unglück ist Tschernobyl zu einer morbiden Touristenattraktion geworden, ein Mahnmal für den hohen Preis menschlicher Selbstüberschätzung, und: ein Zuhause für etwa 140 Menschen.

Fotografin Esther Hessing und Autorin Sophieke Thurmer sind in die Sperrzone von Tschernobyl gereist, um die sogenannten "Samosely" oder "Selbstsiedler" zu besuchen – die letzte Generation einer einstmals blühenden Gemeinschaft. Die meisten sind alt und damals illegal gegen den Rat der ukrainischen Regierung in ihre Häuser zurückgekehrt. Andere haben sich aus Verzweiflung in der Sperrzone niedergelassen und besetzen einige der vielen tausend leerstehenden Gebäude. Sie alle ernähren sich von Erträgen der kontaminierten Erde.

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Alle Fotos: Esther Hessing

In ihrem neuen Buch, Bound to the Ground, dokumentieren die beiden den Alltag im Sperrgebiet. Sie halten Erfahrungsberichte der illegalen Siedler und der Menschen fest, die heute an dem stillgelegten Kernkraftwerk arbeiten. Esther erklärt, warum so viele Menschen in die gefährliche Region zurückgekehrt sind: "Diese Gegend schaut auf eine lange Tradition des Elends zurück. In den 1930ern hungerten die Menschen unter Stalin und während des Zweiten Weltkriegs gab es die nächste Hungersnot – man war ein entbehrliches Leben gewohnt."

"Die Einheimischen hatten wenig Geld und waren auf die Landwirtschaft angewiesen. Nach dem Unglück siedelte die Regierung die meisten dieser Bauern in extra bereitgestellte Wohnblöcke in Kiew über. Viele fanden allerdings, dass ein kurzes Leben in der verstrahlten Zone besser sei, als unglücklich in Kiew alt zu werden. Außerdem glaubten sie, dass sie im Jenseits mit ihren Liebsten wiedervereint werden, wenn sie am gleichen Ort begraben sind."

In den Jahren nach der Katastrophe litten die Tschernobyl-Opfer außerdem unter der heftigen Diskriminierung durch die breite Bevölkerung. Viele der Semosely bestritten die 130 Kilometer von Kiew in das Sperrgebiet zu Fuß. Auf dieser Reise mussten sie natürlich immer wieder haltmachen, allerdings bekamen sie von Anwohnern oft keinen Schlafplatz, weil diese Angst hatten, sich an der Strahlung anzustecken.

Esther beschreibt, wie selbst aus dem Gebiet stammenden Kinder stigmatisiert wurden: "Die von der Strahlung betroffenen Kinder aus Prypjat nannten sie abfällig 'Tschernobyl-Schweine' – sie durften auch nicht mit anderen Kindern spielen. Das hörte erst Ende 1988 auf, als die Stadt Slawutytsch fertiggestellt wurde. Viele der Kinder zogen mit ihren Eltern, die weiter am Kernkraftwerk arbeiteten, dorthin."

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Bei ihrer Ankunft waren Esther und Sophieke überrascht, dass auch heute immer noch mehr als 2.000 Menschen am Kernkraftwerk von Tschernobyl arbeiten. Sie führen Wartungs- und Überwachungsarbeiten durch und leben – im Gegensatz zu den Samosely in den aufgegebenen Dörfern im Umland – größtenteils in Slawutytsch.

"Viele sind Kinder der Angestellten, die zur Zeit der Katastrophe im Kernkraftwerk gearbeitet haben", erklärte Esther. "Ihre Eltern waren in Prypjat aufgewachsen, die aktuelle Arbeitergeneration hat den Großteil ihres Lebens in Slawutytsch verbracht."

Mangelnde Alternativen scheinen immer wieder als Hauptgrund für ihre Beschäftigung durch: "Es gibt nicht genug Arbeit in der Ukraine, die Arbeitslosigkeit ist enorm und die Gesundheitsversorgung und Bildungseinrichtungen in keinem guten Zustand", sagt Esther. "Das Kernkraftwerk bietet immer noch gut bezahlte Jobs und Slawutytsch verfügt über gute Schulen und Kindergärten – eine hervorragende Stadt, um Kinder großzuziehen. Dort gibt es auch Sonderpflegeeinrichtungen und die Auswirkungen der Strahlenkontaminierung bei den Opfern der ersten, zweiten und dritten Generation wird besonders genau beobachtet."

Die beiden erkundeten auch das verlassene Prypjat – eine ursprünglich für die Belegschaft des Kernkraftwerks gegründeten Gemeinde. Die damals in allgemeiner Atomkraftbegeisterung von der Regierung als "Stadt der Hoffnung" entwickelte Siedlung ist heute eine verfallene Geisterstadt.

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Die Natur hat große Teile von Prypjat zurückerobert. Die grauen Gebäude und Straßen sind in Grün eingehüllt, Tiere bewegen sich ungestört in der Stadt. "Anstatt Angst, Schrecken, Tod und einem verlorenen Landstrich haben wir eine wunderschöne Gegend mit vielen Blumen und Bäumen, fruchtbarer Erde und liebenswerten und gastfreundlichen Menschen gefunden. Egal, wo wir unangemeldet aufgetaucht sind, überall wurden wir wärmstens willkommen geheißen", berichtet Esther.

"Wir trafen auf eine Gemeinschaft, die an einem stillgelegten Kraftwerk arbeitet und trotzdem fest an die Zukunft glaubt. Wir trafen Menschen, die mutig genug waren, an so einem gefährlichen Ort zu arbeiten, nur um die Welt ein Stück sicherer zu machen. Sie zeigten uns die bemerkenswerte Stärke der Menschheit, aber auch der Natur."

Im Gegensatz zu früher achtet die Regierung heute effektiver darauf, dass keine neuen Siedler in der Sperrzone sesshaft werden. Die Alten werden zwar geduldet, aber die Jüngeren zum Wegzug angehalten. Wenn die Letzten gestorben sin, soll das Gebiet die nächsten 1.000 Jahre menschenleer bleiben.

Die Dokumentation dieser heimlichen und zeitlich begrenzten Gemeinschaft war der Hauptbeweggrund für Esthers Arbeit: "Es ist wichtig, diese Geschichte zu erzählen, weil die Selbstsiedler sehr alt sind", sagt sie. "Da die Babuschkas in der Sperrzone immer älter werden und es anderen Menschen verboten ist, in die Gegend zu ziehen, müssen wir davon ausgehen, dass ihre Geschichten und Erinnerungen in zehn Jahren in Vergessenheit geraten. Wir wollten ihre Geschichten erzählen und ihre Gesichter zeigen, bevor sie verstummen."

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'Bound to the Ground' kannst du bei the Eriskay Connection bestellen. Hier sind noch mehr Fotos von Esther Hessing: 

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