Feinkosthölle hin oder her: deutsche Wurst ist Weltklasse

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Deutschland

Feinkosthölle hin oder her: deutsche Wurst ist Weltklasse

Der traurigste Teil deutscher Küche mag vielleicht im Supermarkt lauern, doch echte Feinschmecker wissen, wo sie sich stattdessen hinzuwenden haben: Wurst-Manufakturen, die für alte Handwerkskunst und bewusste Ernährung stehen.

Deutsches Essen kann echt traurig sein. Ob es nun daran liegt, dass Deutsche bei jedem noch so kleinen Hauch von Schärfe sofort Pipi in die Augen kriegen—und mit Schärfe meine ich nicht das (leider) omnipräsente Paprikapulver!—oder auch der Mangel an frischen Kräutern und Gewürzen eine Mitschuld trägt: Auf jeden Fall haben die meisten klassischen deutschen Gerichte das kulinarische Charisma von abgestandener Baby-Nahrung. Und der Ausflug in viele deutsche Supermärkte lässt in dir die Frage aufkeimen, ob du vielleicht den Anbeginn der nächsten Weltwirtschaftskrise verpennt hast. Aus all diesen Gründen, findet Phillip Turo, bietet der aktuelle Zustand der deutschen Küche Anlass zur Sorge, weswegen er beschloss, sich in einem jüngst bei MUNCHIES erschienenen Artikel über die Tristesse an der deutschen Feinkosttheke auszulassen („Die Hölle, das ist die Feinkosttheke").

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Die Wurstauswahl in der Blutwurstmanufaktur. Foto: Giulia Pines.

Doch mein Kollege irrt sich gewaltig: Deutsches Essen lässt dich vielleicht keine Geschmackskapriolen schlagen, doch dafür können die Deutschen mit Fug und Recht behaupten, echte Wurst-Weltmeister zu sein—solange du dich auch in den richtigen Ecken umschaust. Und wichtig: Du musst von dem Glauben abrücken, dass du das beste Fleisch im Supermarkt um die Ecke finden kannst.

„Der Geschmack von industriell verarbeiteter Wurst ist nicht gerade prickelnd—sie schmeckt einfach nicht mehr natürlich", sagt Ursula Heinzelmann, echte Berlinerin, Expertin für deutsches Essen und Autorin mehrerer Bücher über Esskultur. „Sie schmeckt deswegen aber nicht gleich eklig, sondern in vielen Fällen schlicht und einfach nach fast gar nichts."

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Wurst aus dem Feinkostladen Vom Einfachen das Gute. Foto: Axel Mosch.

Der kulinarische Berater und Wurst-Fan Hendrik Haase, der unter dem Namen „Wurstsack" bloggt, stimmt Ursula Heinzelmann zu. „Die Kultur des deutschen Wursthandwerks geht mehr und mehr verloren, und damit auch selbst gemachte Wurst, die für eine jahrhundertealte Tradition und unverfälschten Geschmack steht. Es ist heutzutage echt schwer geworden, in normalen Supermärkten Wurst ohne Zusatzstoffe zu finden, vor allem aufgrund einiger verheerender Entwicklungen in der deutschen Fleischindustrie."

Manuela Rehn, Besitzerin des Berliner Feinkostladens Vom Einfachen das Gute, geht noch einen Schritt weiter, indem sie den Niedergang der alten Wurst-Handwerkskunst mit höheren Preisen für Bauern und daraus resultierend auch für Verbraucher in Verbindung setzt. „Natürlich hat auch Tierzucht ihren Preis—und der kann von Hersteller- und Verbraucherseite nur dann auf einem adäquaten Niveau gehalten werden, wenn wir bereit sind, alles zu essen", so Manuela Rehn. „Ansonsten—und genau das ist aktuell unser Problem—wollen die Leute nur noch die ‚besten Stücke' essen, und die kosten eben eine ganze Menge Geld. Wenn der Bauer hingegen davon ausgehen kann, dass er das ganze Tier gewinnbringend verwerten kann, gestalten sich die Preise weitaus ausgeglichener."

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Ladenfront des Berliner Feinkostladens Vom Einfachen das Gute. Foto: Caro Hoene.

Zudem sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Wurstproduktion mit verschiedenen Konservierungsmethoden einhergeht (Einkochen, Pökeln, Räuchern, Trocknen oder Fermentieren). Außerdem verbergen sich hinter dem Begriff Wurst ganz unterschiedliche Endprodukte, wie Würstchen, Salami, Schinken, Aufschnitte von verschiedensten Tieren, Fleischkonserven oder auch schon mal geflecktes und vielfarbiges Allerlei, das durch eine Gelatineschicht zusammengehalten wird. Und gerade auf Ausländer wirkt deutsche Wurst oft wie ein wüstes kulinarisches Experimentierfeld oder eine Begegnungsstätte für bekannte Tierteile und unbekannte—und unerwartete—Ingredienzen.

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Vom Einfachen das Gute definiert den Wurst-Begriff neu. Foto: Manuela Rehn. Wurst kann Würstchen, Salami, Schinken und noch vieles mehr sein. Foto: Manuela Rehn.

Eine gut gemachte Wurst ist nur so gut wie ihre Zutaten. Bei der Wurstproduktion kommt es darauf an, dass du die Früchte (oder Fette) deiner Arbeit auch noch im kommenden Winter nutzen und genießen kannst. „Es geht nicht nur darum, das ganze Tier zu essen", erklärt Heinzelmann. „Bei jeder Schlachtung entsteht eine Menge Fleisch. Einiges davon kannst du frisch verwerten, aber was machst du mit dem Rest? Am besten natürlich konservieren, und genau da kommt die Wurst ins Spiel."

Es gibt keine schlechten Tierteile—und tief im Inneren wissen das auch viele Deutsche. „Unsere kranke Essenskultur will uns einreden, dass du am besten nur Filetstücke verzehrst, die mageren Fleischteile also, während du den Rest links liegen lassen sollst", so Haase. „Dabei wurde gerade auch fetthaltiges Fleisch über Generationen gegessen. Heutzutage werden solche Stücke zumeist aber ausgesondert und zu Hundefutter verarbeitet. Das ist eine Schande, da Fett purer Geschmack ist."

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Heinzelmann erinnert sich gerne daran, wie sie als Kind zum Abendessen eine Scheibe Brot mit Leberwurst—ihre persönliche Lieblingswurst—und kleingeschnittenen Essiggurken bekam. Haases Familie hatte hingegen eine Vorliebe für eine regionale Wurstspezialität, die sogenannte Nordhessische Ahle Wurscht, die von manchen sogar als Waffe benutzt wird: „Meine Großeltern aus Nordhessen haben sie aus einjährigen Schweinen hergestellt, die sie auf dem eigenen Hof geschlachtet haben. Das ganze Schwein—bis auf den Kopf, die Füße und das Filetstück—wurde dafür verwertet. Indem sie leicht geräuchert und im Anschluss über Monate luftgetrocknet wurde, verlor sie die Hälfte an Gewicht und wurde steinhart. Sogar eine Familiensage umrankt unsere Ahle Wurscht, der zufolge mein Großvater mit ihrer Hilfe mal einen heftigen Streit in einem Wirtshaus für sich entscheiden konnte."

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Manuela Rehn mit ihrem Geschäftspartner Jörg Reuter. Foto: Autumn Sonnichsen. Wurst kann auch luftgetrocknet werden. Foto: Axel Mosch.

Aber auch wenn sie nicht gerade für Verteidigungszwecke verwendet werden, können dich diese regionalen Wurstspezialitäten ganz schön von den Socken hauen. Neben der Ahle Wurscht ist in diesem Zusammenhang auch die Rostbratwurst zu nennen, die du bekanntermaßen am besten in Thüringen probierst. Und die berühmte Weißwurst—die aus Kalb- und Schweinefleisch hergestellt wird und in einer weichen Wursthülle aus Schweinedarm daherkommt—wird klassischerweise zum Frühstück mit süßem Senf, einer Brezel und zu einem schönen Glas Weißbier verputzt. (Und um jegliche phallische Referenz gleich im Keim zu ersticken—hoffentlich gilt das auch für dich, Perversling: Du isst die Weißwurst traditionell, indem du das eine Wurstende abbeißt und das Fleisch aus der Wursthülle raussaugst bzw. „zuzelst"). Und der sogenannte Presskopf —oder auch Presswurst in anderen Regionen Deutschlands—ist eine Wurstsorte, die dadurch entsteht, dass nach dem Kochen die Wurstmasse durch Pressen verdichtet wird. Auf diese Weise können sehr verschiedene Tierteile verwertet werden, mit dem Ergebnis eines reichen und fantastischen Geschmacks.

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Die Liebe der Deutschen (und sind wir mal ehrlich, die der Europäer) für Wurst trotzt sogar dem Ekelgefühl, das viele Nicht-Europäer beim Gedanken an die Wurstherstellung überkommt und das so herrlich süffisant in einem berühmten Ausspruch—fälschlicherweise Bismarck zugeschrieben—zusammengefasst wurde: Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden. Und passend dazu gibt es eine Delikatesse, deren bloßer Name blutrünstige Splattermovie-Bilder evozieren kann—und die ein Tierprodukt verwendet, das ansonsten gewöhnlich nur im Abfluss landet: die Blutwurst.

„Ich sollte das wohl lieber für mich behalten, aber ich kann nicht sagen, dass sie mir als Kind besonders geschmeckt hätte", sagt Marcus Benser, Besitzer der in der siebten Generation geführten und in Berlin-Neukölln ansässigen Blutwurstmanufaktur, die schon mehrfach für ihre Produkte ausgezeichnet wurde. „Und schlechte Kindheitserinnerungen an Blutwurst sind für viele Deutsche nicht gerade ungewöhnlich", so Bender weiter.

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Die mehrfach ausgezeichnete Blutwurst aus der Blutwurstmanufaktur. Foto: Giulia Pines. Eingemachte Wurst. Foto: Giulia Pines.

„Das hat sich aber grundlegend geändert, als ich Blutwurst zum ersten Mal selbst gemacht habe", erinnert er sich, „und als ich zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, was so alles in eine Blutwurst reingehört: Blut, Speck, Zwiebeln, Salz sowie eine geheime Gewürzmischung."

Sein Vater hatte erwartet, dass er eine Karriere bei der Bank machen würde, aber nun ist Bender glücklich, dass er stattdessen den Familienbetrieb übernommen hat (nicht zuletzt wegen des schlechten Rufs, der in jüngster Zeit mit Bankern verbunden ist). Seit 1999 hat er schon drei Mal den ersten Preis für die beste Blutwurst in Europa gewinnen können, der jedes Jahr von der Confrérie des Chevaliers du Goûte Boudin, einer der prestigeträchtigsten Gourmet-Organisationen Frankreichs, verliehen wird.

Sein Laden hat es geschafft, sich zu einer festen nationalen Adresse zu entwickeln. „Viele Restaurants in Berlin führen unsere Blutwurst auf der Speisekarte, und das nicht nur wegen ihres köstlichen Geschmacks, sondern auch wegen der besonderen Zubereitungsart. Hinter unserer Wurst steckt eine Identität—du weißt genau, wo sie herkommt." Der Laden selbst wirkt auch extrem sauber, fast so, als wollten sie hier das typische Bild eines mit Blutspritzern übersäten Fleischers konterkarieren. Wenn du den Laden betrittst, begrüßen dich zwei fröhliche Frauen mittleren Alters mit einem herzlichen Lächeln und bedienen die Gäste mit einer Freundlichkeit, die in Berlin—wo ansonsten die berühmt-berüchtigte Berliner Schnauze das Sagen hat—fast fehl am Platz wirkt.

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Eine Mitarbeiterin in der Blutwurstmanufaktur zeigt eine der Köstlichkeiten des Ladens. Foto: Giulia Pines.

Im Endeffekt gibt es an der deutschen Wursttradition nichts auszusetzen—auch wenn sie manchmal mit seltsamen Gelatine-Kreationen und reichlich Blut daherkommt. Sie ist schlicht und einfach Ausdruck—und zwar ein verdammt guter—von genau den Werten, die wir hochhalten, wenn wir von bewusster Ernährung sprechen. Heinzelmann bringt es auf den Punkt: „Es gibt einerseits die industriell verarbeitete, geschmacksarme Wurst—während den Verbraucher auf der anderen Seite des Spektrums eine Wurst aus Blut oder Zunge erwartet, die auf eine lange Tradition zurückblickt und in Deutschland wieder immer mehr an Popularität gewinnt. Warum solltest du nicht Zunge essen? Oder auch das Blut? Beides schmeckt absolut köstlich!"

Der traurigste Teil deutscher Küche mag vielleicht hinter der Feinkosttheke in deinem Supermarkt um die Ecke lauern. Doch das kann echte Feinschmecker in Deutschland nicht anfechten, da sie genau wissen, dass sie ihre Wurst von da nicht beziehen werden.