Die Nacht ist am schlimmsten. Auf der Seite, auf dem Rücken, auf dem Bauch – nichts funktioniert. Alle halbe Stunde schrecke ich hoch. Mit dem Schal vor dem Gesicht kann ich kaum atmen. Ich taste im Schlafsack meine Zehen ab, checke, ob ich Teile meines Körpers schon nicht mehr fühlen kann. Im Rhythmus meiner Atemzüge blase ich weißen Dampf ins Zelt. Mein Hals kratzt, meine Zunge schmeckt nach Lagerfeuer, aber das Wasser in meiner Flasche ist bei minus 6 Grad gefroren. Immer wieder höre ich Schritte. Menschen kommen an meinem Zelt vorbei und lachen: “Ob da wirklich einer drin liegt?”, fragt eine Frau einmal. “Allerdings”, denke ich und verfluche sie und alle ihre gut vorbereiteten Freunde, die mit ihren Globetrotter-Membership-Karten, Wohnwagen, Fellen, Thermodecken und Taschenwärmern freiwillig auf diesem zugefrorenen Stück Norddeutschland übernachten, beim Metal-Festival bei Minusgraden, den Wacken Winter Nights.
Ich fahre zum Campen, als die “sibirische Kältepeitsche” Deutschland trifft
“Das klingt völlig irre”, dachte ich, als ich das erste Mal davon hörte. Wie Wacken, nur in härter. Letztes Jahr erst feierte das kälteste Festival Deutschlands Premiere. 3.500 Metal-Fans waren damals nach Schleswig-Holstein gereist, um im Schnee zu headbangen und mit eisverkrusteten Bärten Met zu kippen.
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“Wer tut sich das an”, frage ich mich. “Und wie fühlt es sich an, bei Minusgraden auf einem Festival rumzuhängen?” Also leihe ich mir ein Zelt, einen Schlafsack und eine Isomatte und mache mich auf den Weg in das 2.000-Einwohner-Dorf 75 Kilometer nordwestlich von Hamburg. Dass, als ich losfahre, viele deutsche Zeitungen von der “sibirischen Kältepeitsche” berichten und jeder Wetterbericht dramatischer klingt als der letzte, ist mir ziemlich egal – eine Nacht werde ich schon überstehen.
Der Ordner lacht mich aus, als er hört, dass ich zelten möchte. “Dann einmal da lang”, sagt er und deutet mit seinem dicken Handschuh die Straße runter. “Da lang”, das ist ein guter Kilometer, vorbei an Rotklinkerhäusern, vereisten Gartenteichen und über einen Feldweg zum Zeltplatz. Der Matsch auf dem Boden ist zu steifen Wellen gefroren. Hinter kahlen Bäumen dreht sich am Horizont eine Gruppe Windräder. Auf der Kuppe der Anhöhe stehen ein paar hundert Wohnmobile und knapp 50 Zelte. Manche sind aus dicken Stoffbahnen selber genäht, aus mehreren ragen Schornsteine, über einem weht die Flagge des Königreichs Württemberg.
Mit einem Duchschnittszelt wie meinem hat sich offenbar keiner hierher getraut. Während wir einen freien Platz suchen, starren uns Gruppen von Festivalbesuchern hinterher, die sich um Grills und kleine Feuer drängen. Später sagt mir eine Frau, jedem hier sei von Anfang an klar gewesen, dass wir Journalisten seien. Nicht nur wegen unserer unpassend leichten Kleidung, sondern, weil wir uns beim Zeltaufbau wie die letzten Deppen angestellt hätten.
Ich setze meinen Rucksack ab, packe mein Zelt aus und brauche keine fünf Minuten, um beide Zeltstangen zu zerbrechen. Unbeirrt mache ich weiter, schlitze aus Versehen die Plane ein wenig auf und verliere eine Handvoll Heringe. Die Nachbarn von rechts bieten uns Klebeband an, die von links helfen uns aus mit Zangen und Kabelbindern. Ein Mann im Fellmantel versucht gemeinsam mit mir, die Zeltstangen zu richten, unsere Nachbarin Ina fragt uns, ob das ein Witz sein soll. Nur mit ihrer Hilfe und der ihrer Freunde schaffen wir es endlich, das Zelt aufzubauen. Es ähnelt einem hüfthohen Sarg aus grünem Plastik. “Ihr saht einfach extrem traurig aus”, sagt Ina.
In Wacken sieht es aus wie auf einem Dauercampingplatz an der Ostsee bei sehr schlechtem Wetter. Statt Musik hört man hier nur das Tuckern von Dieselgeneratoren. Bis zu den Bühnen läuft man eine Viertelstunde. Als um 14 Uhr das Festival bereits begonnen hat, bleibt es auf dem Campingplatz still. Vor vielen Wohnwagen steht ein Grill, eine Gruppe Camping-Stühle oder ein weißer Pavillon mit Heizlüfter. Der Wind pfeift, drei Männern brühen auf ihrem Spirituskocher Kaffee, alle anderen sind in ihren Wägen und Zelten.
Wer will, kann beim Winterwacken Wurfäxte kaufen
“Old Village”, so heißt der Teil des Festivalgeländes, auf dem die Konzerte stattfinden. Nach einer halben Stunde riechen die Klamotten nach Lagerfeuer. Alle zehn Meter rußen Fackeln, Holz brennt in eisernen Körben, ganze Schweine drehen sich über glühenden Kohlen. Das Wacken Winter Nights soll anders sein als das große Wacken Open Air im Sommer, nicht nur ein Rock- sondern auch ein Mittelalter-Festival. Corvus Corax, Krayenzeit, Ingrimm und Elvenking heißen die Bands, die hier auftreten. Es gibt Folk-Metal und Pagan-Metal. Abseits des Geländes, im Ortskern von Wacken, spielt später sogar eine Band im Gasthof “Zum Wackinger”. Ihre Mitglieder sind als Piraten verkleidet und singen Seemannslieder. Seeräuber-Metal nennen die Veranstalter das.
Das Festivalgelände selbst sieht aus wie eine Mischung aus Abenteuerspielplatz und Weihnachtsmarkt. An Buden werden Kerzen, Messerscheiden und Wurfäxte verhökert. Es riecht nach brutzelndem Speck, Sauerkraut und Glühwein. Auf drei Bühnen treten in großen Zelten bis Mitternacht die Bands auf. 4.000 Gäste sind dieses Jahr zu den Wacken Winter Nights angereist. Doch es bilden sich keine Schlangen, es herrscht auch kein Gedränge vor den Bühnen. Zwischen Mittelalter und Metal verläuft sich die Menge auf dem Gelände.
“Fick dich, du Schlammblut!”
Die Mystic Woods sind die Chill-Out-Area des Mittelalter-Fests. Die Website versprach einen “Wald aus uralten Fichten, mit zauberhaften Sitznischen und urigen Spelunken”. Fichten gibt es tatsächlich, die “zauberhaften Sitznischen” entpuppen sich als an Bäume geschraubte Holzplatten. Zumindest eine urige Spelunke gibt es.
In der “Markttaverne” feiert Kellner Simon sein Trinkgeld, indem er jedesmal in ein Horn bläst, wenn er welches bekommt. Die Kälte spült immer mehr Kundschaft an den Tresen. Rundherum sieht es aus wie auf dem Mittelaltermarkt einer deutschen Kleinstadt. Es gibt einen Stand, an dem man Äxte in einen Bären auf Holz werfen kann und einen Hau-den-Lukas-Turm, der Feuer spuckt. Mit Einbruch der Dunkelheit strömen immer mehr Menschen auf das Gelände. Zitternd wärmen sie ihre Hände über Lagerfeuern. Schaukämpfer mischen sich zwischen das Publikum, sie schreien und pöbeln sich an. Offiziell sollen sie dabei so formulieren, wie sich der Wacken-Gast mittelalterliche Beleidigungen vorstellt. “Richte er seinem König aus, er kann mich am Arsch lecken!”, ruft ein Typ in Lederwams und mit grünem Filzhut. Sein Gegner antwortet: “Fick dich, du Schlammblut. Dein Patronus ist ein Hurensohn!”
Das Jahr 2018 schimmert bei der Mittelalter-Inszenierung in Wacken immer durch, trotz viel Liebe, die die Veranstalter in den Aufbau ihres Festivals gesteckt haben. Urige Holzwände bestehen teils aus Kunststoff, Ritter müssen nach fünf Met aufs Plastik-Dixi und hinter den Zielscheiben fürs Bogenschießen steht ein Rettungswagen. Statt Bier heißt es auf der Karte “Brauspezialitäten”. Traurigerweise findet sich unter diesem Punkt aber nur ein Produkt: Beck’s. Wirklich betrunken ist auf dem Wacken Winter Nights sowieso kaum jemand. “Wir haben gar nichts zu tun”, sagt ein Sanitäter kurz vor Mitternacht. “Bei den Temperaturen trinkt niemand zu viel. Dafür sind die Menschen hier zu vernünftig.”
Wenn irgendein Festival überhaupt nicht böse ist, dann dieses hier
Schon beim ersten Gang über das Festival ist klar: Wacken Winter Nights ist vielleicht Deutschlands kältestes Festival, aber sicher nicht das böseste. Da helfen auch alle Hörner, schwarzen Mäntel und langen Bärte nichts.
Während des Konzerts von Finntroll aus Helsinki tritt mir ein Kerl auf den Fuß und entschuldigt sich überschwänglich. Eine Frau verkippt etwas von meinem Bier und will mir gleich ein neues kaufen. “So sind alle hier”, sagen beide. “Deswegen kommen wir hierher.” Und sie haben Recht. Niemand nimmt öffentlich Drogen, kein Gras-Geruch liegt in der Luft. Bereits auf dem Zeltplatz versuchen mehrere Menschen, mir Ingwertee anzudrehen, weil ich so verfroren aussehe. Zwei von ihnen treffe ich auf dem Konzert von Ingrimm wieder. Auf der Bühne schwitzt der Sänger, der mit seiner Glatze und seinem Schnurrbart eher aussieht wie ein Spätibesitzer. “Hängt ihn, hängt ihn!”, schreit er den Refrain ins Publikum und alle grölen mit. Vorne in der ersten Reihe wippen die beiden Teetrinker vom Zeltplatz Arm in Arm im Takt. Weiter hinten hat eine Frau sich ihre kleine Tochter auf die Schultern gesetzt. Auch die singt mit und zeigt den Teufelsgruß.
Neben den Mittelalter-Fans fahren aber auch Wacken-Profis zu den Winter Nights. Immer wieder erzählen sie, wie schön es sei, dass die Festival-Saison jetzt noch früher anfängt. Ein Mann in Motörhead-Kutte erzählt, er sei wegen seiner Frau hier: “Die Mädels stehen ja auf dieses weichere Mittelalter-Zeug.” Eine Frau namens Susanne zeigt Bilder ihrer Enkel und sagt, bei ihnen würde die ganze Familie zu jedem Wacken fahren, Sommer wie Winter.
Die letzte Band des Abends heißt Grave Digger. Die Truppe gibt es seit den 80er Jahren, inzwischen besteht sie aus dünnen, grauhaarigen Herren. Grave Digger sind der Mainact des Abends, die Überband, die alle sehen wollen. Um 22:45 Uhr startet ihre Show im “Eispalast”, dem großen blauen Zelt, in dem die Hauptbühne untergebracht ist. Vor dem Haupteingang zeigt uns ein Typ namens Robin unaufgefordert seine Skiunterwäsche und erzählt, dass “die Mucke hier viel zu weich ist.” Aber egal: “Wo Wacken ist, bin ich auch.”
Auch beim Auftritt von Grave Digger ist es vor der Bühne leer genug, um in die erste Reihe schlendern zu können. Von der Massenhypnose des sommerlichen Wacken Open Air ist dort nichts zu spüren. Auch wenn es zum letzten Song des Abends, “Heavy Metal Breakdown”, sogar zu einem zaghaften Moshpit kommt, lassen es die meisten Gäste beim Mitnicken im Takt.
Fünf Minuten nachdem das letzte Riff verklingt, herrscht Leere im Zelt. Kein Heavy Metal, kein Breakdown. Spätestens, als ich mit einer Flasche Kümmelschnaps in mein Zelt krieche, wird mir klar, dass die beiden verkommensten Individuen auf dem ganzen Fest der Reporter und der Fotograf von VICE sind.
Das Wacken Winter Nights findet nicht statt, obwohl, sondern weil es so kalt ist
Am nächsten Morgen stehen schwere Stiefel vor den Duschkabinen. Die Luft in dem Waschcontainer ist mit dichtem weißen Dampf gefüllt wie ein türkisches Hamam. Ich schäle mich aus den kalten Klamotten und stelle mich unter das warme Wasser. Langsam beginne ich aufzutauen. Und plötzlich verstehe ich, weshalb die Menschen zum Wacken Winter Nights kommen. Sie kommen nicht, obwohl, sondern weil es so kalt ist. Es geht ihnen darum, sich für dieses Kältefestival richtig vorzubereiten. Es geht darum, es zu überstehen.