Putin mit glänzendem Long-Bob, der türkische Präsident mit wallenden Locken zum ergrauten Schnurrbart—was im ersten Moment nach einem Versuch aussieht, sich über die betont maskulinen Landesführer lustig zu machen, wirft eine nicht unerhebliche Frage auf. Wie sähe unsere Welt aus, wenn Politiker, deren frauen- und genderfeindlichen Entscheidungen unsere Gesellschaft prägen, weiblich wären? Tatsächlich sind die Plakate Teil einer neuen Kampagne, in der sich das feministische Libertine Magazin der Frage annimmt, wie das eigentlich wäre, wenn die Welt durch „Mehr Frau” geprägt wäre. Wir haben mit einer der Initiatorinnen, Juliane Rump, über die längst überfällige Feminisierung gesprochen, die sich Menschen in 13 Ländern laut der Studie „The Athena Doctrine” so sehnlich wünschen.
Broadly: Ihr wollt mit „Mehr Frau” unter anderem auch zum Nachdenken über Kategorien wie „typisch männlich” und „typisch weiblich” beitragen. Jetzt könnte man eurer Kampagne an sich im Umkehrschluss vorwerfen, dass sie sich genau solcher Stereotype bedient, wenn man von „männlichem Machtgebaren” spricht. Was sind denn typische „weibliche Handlungsmuster und Werte”?
Juliane Rump: Ja genau, wir wollen mit der Kampagne auch zum Nachdenken über Schubladen anregen. Interessant ist doch, wie sehr Menschen weltweit in diesen Kategorien denken. Die Studie „The Athena Doctrine” zeigt auf: Weltweit, in 13 Ländern von Amerika bis Asien, waren sich die Menschen erstaunlich einig darüber, welche menschlichen Eigenschaften sie als typisch männlich und was als typisch weiblich bewerten würden. Das ist natürlich auch eine Sache unserer Sozialisation. Gleichzeitig kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass eben die weiblichen Attribute, wie empathisch, kooperativ, intuitiv, als ganz besonders wichtig eingeschätzt werden, um ein gutes und richtiges Leben zu führen, um eine gute Führungspersonen zu sein, um eine moralische Autorität zu sein. Das sollte uns schon zu denken geben.
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Wir haben uns natürlich gefragt, warum das so ist und nutzen nun diese „internationalen Gender-Schubladen”, um das ganze Thema etwas zuzuspitzen. Die so genannten „weiblichen Werte” können gleichermaßen von Männern gelebt werden. So stellt unsere Autorin Julia Korbik in ihrem Text über Frauen in der Politik auch in den Raum, ob die weiblichste Politik nicht aktuell von einem Mann gemacht wird—und zwar von dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau. Genau mit diesen Brüchen möchten wir aufzeigen, wie wenig „weibliche” Denk- und Handlungsmuster letztendlich mit dem Geschlecht zu tun haben müssen. Nicht ohne dabei mit Interesse zu registrieren, dass Männer und Frauen in ihrem Verhalten unterschiedliche Tendenzen zeigen. Über den Ursprung streitet sich bekanntlich nicht nur die Wissenschaft. Fakt ist, momentan sind sowohl Männer als auch Frauen in diesen „Gender-Schubladen” gefangen und Erwartungshaltungen in Bezug auf bestimmte geschlechtsspezifische Verhaltensweisen, sind allgegenwärtig.
Interessant ist, dass von einigen ein ‚Mehr Frau’ gleichgesetzt wird mit einem ‚Nur Frau’.
Engagiert man sich im Bereich Frauenrechte und versucht, Frauen in verschiedenen Bereichen sichtbarer zu machen, kommt oft der Vorwurf, warum denn nicht auch Männer gefördert werden würden. Wie ist die bisherige Rückmeldung zur Kampagne?
Damit kommen wir zu einer grundsätzlichen Schwierigkeit—nicht nur in Bezug auf Männer. Zu oft wird an „den Feminismus” (den es ja gar nicht gibt) die Erwartung gestellt, er hätte sich doch bitte um alle zu kümmern. Ein schier unmögliches Unterfangen. Was die Rückmeldungen zu unserer Kampagne betrifft, kam bisher glücklicherweise noch nicht der Vorwurf, dass wir Männer scheinbar außen vor ließen. Interessant ist, dass von einigen ein „Mehr Frau” gleichgesetzt wird mit einem „Nur Frau”. Darum geht es natürlich überhaupt nicht.
Bei all den Ungerechtigkeiten und den immer noch—mal mehr, mal weniger—patriarchalisch geprägten Strukturen weltweit: Findet in euren Augen bereits eine Feminisierung der Gesellschaft statt?
Das ist natürlich auch wieder eine Frage der Begrifflichkeit: Vieles, was wir als Veränderung wahrnehmen, würden viele wahrscheinlich nicht automatisch als „Feminisierung” bezeichnen. Dazu haben wir ein ausführliches Interview mit Gabi Lück geführt, die als Beispiele der Feminisierung unserer Gesellschaft unter anderem die Sharing Bewegung—soziales Teilen statt Status-Geprotze—angeführt hat. Es geht ihr bspw. um „Kooperationen statt Konkurrenzdenken” und der Abkehr vom egozentrischen Einzelwesen hin zur Etablierung eines „WIR-Gefühls”. Folgt man diesen Gedanken, dann: Ja, die Welt wird bereits weiblicher. Übrigens steht für die Jugend heute bereits der Wunsch, einer sinnvollen, erfüllenden Beschäftigung nachzugehen, die genug Zeit für Familie und Freizeit lässt, über dem Streben nach Karriere und dem großen Geld. Und zwar bei beiden Geschlechtern: Hier gleichen sich männliche und weibliche Werte an.
Nun haben wir mit Angela Merkel ja eine Bundeskanzlerin. Wo zeigen sich bei ihr typisch weibliche Führungsqualitäten?
Offensichtlich ist, dass Angela Merkel in ihrer Politik stark auf Kooperation und Kommunikation setzt. Sie trifft sehr abgewogene, wohldurchdachte Entscheidungen. Manchmal auch sehr moralische und empathische. Bernd Ulrich schreibt Angela Merkel in der Zeit vom 16. Juni zu, sie habe die weibliche Politik sogar erfunden, umgebe sich mit Beratern, die zum größten Teil Frauen oder „minimalinvasive Männer” seien, also Männer, die keine Alpha-Männchen seien, sondern sich gern dem weiblichen Politikstil fügten. Er sieht in Merkels Verhalten während der Ukraine-Krise den besten Beweis für diesen Regierungsstil: Während sich ein „klassischer Macho die Krim einverleibt” und andere (amerikanische) Männer auf Waffenlieferungen in die Ukraine drängen, wählt Angela Merkel die „eigene, weiblich-europäische Methode” und stoppt Putin mit Ungerührtsein und Reden, Reden, Reden.
Gibt es zu wenige junge Frauen in der Politik?
Ganz offensichtlich. Zum einen würden es mit der Gleichberechtigung schneller voran gehen—und Gleichberechtigung ist die Grundlage für Frieden, wie Gloria Steinem richtig feststellt. Zum anderen weisen Studien darauf hin, dass Politikerinnen kooperativer sind als ihre männlichen Kollegen. Nicht die schlechteste Eigenschaft, in Zeiten von Ressourcenkämpfen. Wenn beispielsweise der Anteil von Frauen im Parlament um 5 Prozent zunimmt, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Staat mit Gewalt auf eine internationale Krise reagiert, um das Fünffache.
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Im Diskurs um Gleichberechtigung werden häufig Transgender und Menschen mit anderen Geschlechteridentitäten außen vor gelassen. Sollte die Forderung nach mehr Gerechtigkeit also nicht auch „Mehr LGBTQ” lauten?
Selbstverständlich! Unser Team besteht zu 80 Prozent aus lesbischen und queeren Frauen, hinzu kommen Schwule, Heteros, Bi-Sexuelle und eine Transsexuelle, die mit uns die Kampagnen-Idee umgesetzt hat. Ein „Mehr LGBTQ” wünsche wir uns also schon aus rein persönlichen Gründen. Wir sind aber davon überzeugt, dass die Themen, die wir mit der „Mehr Frau. Mehr …?”-Aktion anstoßen, alle Menschen angehen—unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität. Außerdem muss man natürlich auch akzeptieren, dass man nicht alles in eine einzige Kampagne stecken kann. Glücklicherweise wird dies nicht unsere letzte Aktion sein und LGBTQ-Themen sind fester Bestandteil unseres Magazins.
Am Ziel sind wir erst, wenn keine sexuelle Orientierung, keine Gender-Identität, kein Lebensmodell über ein anderes gestellt wird.
Aus eurer ganz persönlichen Perspektive: Warum wäre die Welt ein besserer Ort, wenn sie frauengeprägter wäre?
Wir glauben, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn wir von einer Männerdominanz zu einer echten Gleichberechtigung kommen würden. „Mehr Frau” bedeutet ja erst einmal nur, dass aus einer Unterpräsenz eine Ausgewogenheit entsteht. Es kann nicht darum gehen, aus einer männerdominierten eine frauendominierten Welt zu machen. Wir sind davon überzeugt, dass eine echte Gleichberechtigung ein Gewinn für alle Geschlechter wäre—und die Grundlage für eine endgültiges Verabschieden von Kategorien wie „typisch männlich/typisch weiblich”. Auch Männer sind in diesen Schubladen gefangen. Und um noch einen Schritt weiter zu gehen: Am Ziel sind wir erst, wenn keine sexuelle Orientierung, keine Gender-Identität, kein Lebensmodell über ein anderes gestellt wird. Das wäre dann die echte Freiheit, in der jede_r sich ohne vorgefertigte Schablonen entfalten könnte.