Wolltest du in deinem Leben schon mal so richtig doll etwas? Den Studienplatz, den Job oder vielleicht nur einen Kuss von dem Mädchen deiner Träume? Kannst du dich daran erinnern, wie mies du dich bei dem Korb gefühlt hast, den du kassiert hast? Nur: Wie scheiße muss man sich dann fühlen, wenn man für seinen großen Traum über Jahre hinweg arbeitet, kämpft und dabei auf so viel verzichtet – nur damit es am Ende trotzdem nichts wird?
Nils Neumüller wollte lange Zeit nichts sehnlicher, als Fußballprofi zu werden. Und er war auf einem verdammt guten Weg. Er ging in eine spezielle Fußballklasse eines Münchner Sportgymnasiums, trainierte dort täglich mit heutigen Profis wie Moritz Leitner (FC Augsburg) und Nicola Sansone (FC Villareal). Eines Tages klingelte das Telefon des damaligen Kapitäns der SpVgg Unterhaching: Die TSG Hoffenheim wollte ihn für ihre U19-Bundesligamannschaft verpflichten. Nils zog als 16-Jähriger zu einer Gastfamilie in die württembergische Provinz. Doch so nah dran an dem großen Traum klappte plötzlich gar nichts mehr. Ein Gespräch über das Scheitern in jungen Jahren, den Ego-Kampf im Teamsport und warum er seine Entscheidung, von jetzt auf gleich alles hinzuschmeißen, bis heute nicht bereut.
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VICE Sports: Wann wusstest du, dass du besser bist als viele andere Kinder?
Nils Neumüller: Mit dem Wechsel in die Fußball-Klasse. Als Kleinverein-Spieler musste ich bei einem Sichtungstag vorspielen. Ich war einer der wenigen, die zu den ganzen 1860- und Bayern-Spielern in die F-Klasse durften. Kurz zuvor hatte ich sogar ein Probetraining bei Bayern gemacht und hätte da anfangen können, aber mit dem Wechsel aufs Gymnasium und den langen Fahrtstrecken habe ich erstmal nur einen Wechsel gemacht: den auf die neue Schule. Zeitlich war alles extrem intensiv. Dadurch dass wir dreimal die Woche vormittags in der Schule trainierten, hatten wir Nachmittagsunterricht. Abends dann noch Vereinstraining und am Wochenende natürlich ein Spiel. Als ich noch außerhalb Münchens gewohnt habe, bin ich um kurz nach sieben Uhr in die S-Bahn gestiegen und gegen 21 Uhr wieder nach Hause gekommen.
Hat man denn schon damals gesehen, wer besonders begabt ist?
Klar gab es diese Ausnahme-Talente. Moritz Leitner war so einer. Ich erinnere mich noch, wie wir uns in der 6. Klasse einmal zum Spielen getroffen haben und danach mit meinen Eltern am Tisch saßen. Da meinte er zu ihnen so etwas wie, „also technisch kann der Nils schon noch einiges lernen”. Der war damals schon extrem von sich überzeugt. Andererseits habe ich natürlich auch erkannt, dass er eine besondere Gabe hat. Trotzdem: Mit elf Jahren so zu reden, ist schon krass.
Warst du selbst nicht arrogant?
Doch, auf jeden Fall. Ich denke nach wie vor gerne an meine Schulzeit zurück, aber vom Verhalten war das unterirdisch. Da bin ich echt nicht stolz drauf – ganz im Gegenteil. Das ist mir peinlich. Man dachte sich halt, man wäre es, aber das einzige, was man konnte, war gegen einen Lederball zu treten.
Wie hast du dich gefühlt, als du erfahren hast, dass die aufstrebende TSG Hoffenheim dich verpflichten will?
Das war ein geiles Gefühl. Das hat mir damals noch einmal eine neue Perspektive eröffnet, den nächsten Schritt in Richtung Profifußball zu gehen. Hoffenheim spielte damals seine erste Bundesliga-Saison. Das war der Verein, der Herbstmeister wurde, wunderschönen Offensiv-Fußball spielte und der vor allem auf die Jugend setzte.
Aber du warst doch eigentlich in München auf dem Gymnasium …
Klar, ich musste die Schule wechseln. Anstatt schon Sommerferien zu haben, saß ich in Baden-Württemberg noch einmal vier Wochen in meiner neuen Klasse. Nach dem Sommer bin ich allerdings wieder zurück nach München. Insgesamt war ich nur um die drei Monate in Hoffenheim.
Was ist in der Zeit schief gelaufen?
Hm … Ich hatte schon das Gefühl, dass der Verein sich am Anfang ziemlich gekümmert hat. Da hat sich jeder Zeit genommen, mir wurde alles gezeigt und erklärt. Die Schule, das Gelände, ihr Konzept, die Gastfamilie. Die Strukturen waren perfekt. Ich konnte zwischen verschiedenen Gastfamilien wählen, die alle schon Erfahrungen mit anderen Jugendspielern hatten.
Aber als ich dann da war, fühlte ich mich gelähmt. Es ging nicht mehr viel. Ich war 16 und das erste Mal weg von zu Hause. Ich lebte bei einer fremden Familie und war auf einmal nicht mehr in München, sondern in der Provinz. Ich kam in eine neue Schule. Ich kam in eine neue Mannschaft, die natürlich längst eine eingeschworene Truppe war. Als der Neue hatte man es da direkt schon einmal doppelt schwer. Und so kam alles zusammen. Ich musste also wieder von vorne anfangen. Wieder kam ich als vermeintlich bester Spieler meines alten Klubs und war erneut ein Niemand. Ich dachte, ich bin ein selbstbewusster und guter Spieler und fand mich auf einmal in einem Team wieder, dass ausschließlich aus guten Spielern bestand. Ich habe ab dem ersten Tag die Ellenbogen gespürt. Klar, die Kaderplätze waren begrenzt. Das hatte dann leider nur noch wenig mit Teamsport zu tun. Es war auf einmal ein Einzelkampf, bei dem alle nur noch auf sich selbst geschaut haben. Spaß hat das keinen mehr gemacht.
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Hattest du vielleicht auch zu hohe Erwartungen an dich selbst?
Voll. Ich hatte ja auch lange überlegt, ob ich das überhaupt machen soll. Ich hatte so viele Pros und Kontras. Ich sagte mir, „Mach das. Sei mutig und geh da hin”. Aber wenn dein soziales Umfeld wegfällt und du keine Freizeit mehr hast, die mir als Ausgleich zum Fußball immer sehr wichtig war, dann fällt es schwer, mit Herz bei der Sache zu sein. Ab einem gewissen Zeitpunkt konnte und wollte ich nicht mehr. Ich wollte nicht mehr und mehr zu einer Maschine werden. Ich hatte das Menschliche in mir vernachlässigt. Harte Typen wurden gefördert – der Rest fiel aus dem System. Aber so funktioniert Profifußball nunmal.
Wer war damals mit dir im Team, der es geschafft hat, sich bis oben durchzukämpfen?
In meiner U-19 waren Pascal Groß (Anm. d. Red.: Heute beim FC Ingolstadt), Marco Terrazzino (TSG Hoffenheim), Jonas Hofmann (Borussia Mönchengladbach), Manuel Gulde (SC Freiburg). Viele von denen haben aber schon regelmäßig bei den Profis trainiert und auch gespielt.
Die Hoffenheimer B-Jugend Meister aus der Saison 07/08. Ein Jahr später kam Nils Neumüller in ihr Team.
War das dann nicht sogar doppelt frustrierend? Weil dir klar war, dass du zumindest bei den Profis trainieren müsstest …
Ja, klar. Das war brutal. Ich musste mir eingestehen, dass die Chancen, derjenige zu sein, der am Ende in der Bundesliga spielt, minimal klein sind. Das stand in keiner Relation mehr zu dem, was ich dafür aufgegeben habe: Mein Zuhause, mein Privatleben und sogar meine Freundin. An dem Punkt habe ich beschlossen, mit dem Traum vom Profifußball abzuschließen. Und es war die absolut richtige Entscheidung für mich persönlich. Ich habe sie bis heute nicht bereut. Als ich zurück nach München kam, habe ich noch einmal bei Unterhaching angefangen. Aber es hat mir gar keinen Spaß mehr gemacht. Das war dann der Startschuss für eine Nachholaktion der Jugendlichkeit.
Das heißt?
Ich habe viel gefeiert und angefangen zu rauchen. Alles, was dazu gehört: Partys, Frauen. Ich habe nachmittags nichts gemacht, saß zu Hause und habe es genossen. Ich wollte mit Fußball nichts mehr zu tun haben.
Wie reagierte denn dein Bekanntenkreis auf das plötzliche Aus?
Viele konnten das natürlich nicht verstehen und fragten, wie ich so kurz vor dem Ziel aufgeben konnte. Wie ich so eine große Chance wegwerfen konnte. Die engsten Freunde, denen ich mich auch anvertraut hatte, als es mir nicht so gut ging, die konnten das natürlich nachvollziehen.
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Innerhalb der Hoffenheimer Mannschaft hattest du aber keinen, dem du von deiner Situation erzählen konntest, oder?
Nein, das gab es leider nicht. Ich hatte keinen in der Mannschaft, mit dem ich reden konnte. Da hat schon jeder auf sich geguckt. Auch weil wir alle so unter Druck standen. In dieser Phase hätte ich mir glaube ich gewünscht, dass der Klub sich mehr um uns Jungs persönlich kümmert und nicht nur sportlich.
Glaubst du, das hat sich inzwischen verändert?
Es gab auch damals schon einen Sportpsychologen, dem man sich hätte anvertrauen können. Ich habe es nicht getan, weil ich mich nicht getraut habe, den ersten Schritt zu gehen. Ich war verunsichert. Wer will in einem Bereich, in dem du nur Stärke zeigen musst, schon freiwillig Schwäche eingestehen? Und das auch noch mit 17 Jahren. Generell wäre es vielleicht gut gewesen, von Anfang an die jungen Spieler ein wenig mehr an die Hand zu nehmen.
Hast du deine Entscheidung aufzugeben wirklich nie bereut?
Nein, heute bin ich so froh, dass ich rechtzeitig den Absprung geschafft habe. Besonders wenn ich jetzt meine Kollegen von damals sehe, von denen manche in der dritten Liga immer noch darauf warten, den Durchbruch zu schaffen. Sie sind jetzt auch 24 oder 25 Jahre alt. Seien wir ehrlich, da ist das Thema Bundesliga doch so gut wie durch. Dieses ewige Hoffen und Warten, vielleicht doch noch mal in Regionen zu kommen, wo man auch Geld mit verdienen kann. Viele haben ja keine Ausbildung, keinen Abschluss…
Das soll nicht abwertend klingen, ich bin einfach sehr dankbar, dass ich mir rechtzeitig eingestehen konnte, dass es nicht das Richtige für mich ist. Dass ich vielleicht auch nicht das Zeug zur ganz großen Karriere habe. Aber weißt du, was das Beste ist? Durch mein Studium an der Sporthochschule Köln bin ich inzwischen sogar zurück zum Fußball gekommen. Und es macht mir wieder richtig viel Spaß. Auch, oder vielleicht gerade, weil es nur Kreisliga-Niveau ist.