Warum die Kardashians für unsere Gesellschaft und unseren inneren Frieden so wichtig sind

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Popkultur

Warum die Kardashians für unsere Gesellschaft und unseren inneren Frieden so wichtig sind

Geraten wir in Versuchung, dem wohl künstlichsten Scheiß aller Zeiten irgendeine philosophische Bedeutung zuzuschreiben? Wollen wir uns wirklich für die Tage rechtfertigen, die wir mit diesem Popkultur-Phänomen verbringen? Ja, ein bisschen wohl schon...

Foto von Kim Kardashian: Jürgen Teller, Foto von einer Frau, die sich Jürgen Tellers Foto von Kim Kardashian bei der Paris Photo Fair anschaut: Miguel Medina

24. Januar 2016. Fernsehsender E! Channel. Staffel 11, Episode 10, Keeping Up with the Kardashians, Amerikas Schlaraffenland der getönten Tagescremes, der häuslichen Streitereien und der manischen Jagd nach Salat und warmer Beleuchtung.

Kris und Kim stehen vor einer Tür und reden über irgendeinen italienischen Marmor, der anscheinend verschwunden ist. Kris erinnert rein klamottentechnisch an Charlie Chaplin. Kim trägt einen goldenen Choker, der aussieht, als wäre er aus Fischgräten gefertigt worden. Sie ist hochschwanger und ihre Frisur sitzt perfekt.

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Kim: Weißt du, was mich richtig nervt?

Kris: Was???

Kim: Du hast dir einfach meine zehn Marmorplatten genommen. Deshalb muss ich jetzt entweder sieben neue Marmorplatten kaufen oder zwei meiner Badezimmer neu einrichten. Es kann ja nicht angehen, dass im ganzen Haus eine bestimmte Marmorsorte vorherrscht und in zwei Zimmern dann eine andere.

Kris meint, dass sie das Ganze ersetzen wird. Kim erklärt ihr, dass das nicht möglich ist, weil es diesen bestimmten Marmor in den USA nicht gibt. Kim bietet Kris eine Million Dollar an, wenn sie es doch schaffen sollte. „Das ist nicht Calacatta, sondern Calacatta Gold. Exklusiv aus Italien." Sie starren sich wütend an. Danach folgt viel bestürztes Kopfschütteln. Kim leckt sich so hart über die Lippen, dass sie quasi stirbt. Beide verlassen den Raum.

Ich habe bis jetzt jede Folge dieser Fernsehserie gesehen, die meisten sogar mehrmals. Dazu kommen dann noch die ganzen Spin-Offs und die Hochzeits-Doppelfolgen. Anders gesagt: Stunden über Stunden voller Menschen, die auf der Rückbank eines Rolls Royce auf ihr Handy starren, sich Möbelstücke von Jean Royére aussuchen oder sich bei irgendjemandem entschuldigen. Menschen, die vorgegebene Streits in Bezug auf Respektlosigkeit austragen und dabei Eiskaffees schlürfen. Menschen, die Konsonanten so bewusst vorsichtig aussprechen wie andere Leute ihre Antworten bei einem Multiple-Choice-Test ankreuzen. Menschen, die beim Thema Landschafts- und Gartengestaltung überzogen genau und womöglich auch desillusioniert sind. Menschen, die noch nie etwas Gutes getan haben oder für einen guten Zweck eingestanden sind, ohne das Ganze vorher mit der Veröffentlichung ihres neuen Parfüms abzustimmen.

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Hier nun einige Auszüge aus den Wikipedia-Beschreibungen der ersten beiden Staffeln: „Kourtney muss ihre Beziehungskrise überwinden"; „Bruce hat eine Midlife-Crisis"; „Kourtney, Kim und Khloé reisen nach Mexiko"; „Kim posiert für einen sexy Kalender"; „Kim streitet sich nach dem Kauf eines Bentleys mit Kourtney und Khloé". Wenn man die Namen der Beziehungspartner austauscht, ist das auch noch neun Staffeln später die Grundlage der Serie. Das ist Fernsehen im gestellten Heimvideo-Format. Das ist die panische Angst vor dem Banalen. Also jetzt nicht dem Banalen von dir und mir, aber die Abläufe sind doch die gleichen. Das ist das Leben als Nachstellung des Daseins. Dein WLAN funktioniert nicht mehr. Tyga ruiniert die Reise der Kardashians nach Saint-Barthélemy. Wenn man mal darüber nachdenkt: Wo genau liegt da eigentlich der Unterschied?

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Man kann den Kardashians quasi nicht entkommen. Manchmal fühlt es sich so an, als befände sich ihr Leben für alle Ewigkeiten in einer Dauerschleife aus Supermärkten und Superbowls. Genau das stört auch so viele Leute. Wahrscheinlich auch deinen Vater. Sie sind schon wieder schwanger. Sie heiraten erneut. Dann haben wir da noch Kourtneys Dementis in Bezug auf Justin Bieber, ihre Paparazzi-Fotos beim Einsteigen in einen schwarzen Geländewagen inklusive Justin Bieber in Camouflage-Jacke und ihre schüchternen, mit einem verschmitzten Grinsen erzählten „Justin Bieber und ich sind nur Freunde"-Geschichten. Kylie kritzelt „KYLIE WAS HERE" auf Kanyes Albumankündigung. Khloé heiratet einen Basketballspieler. Dann ist sie wieder mit einem anderen Basketballspieler zusammen. Den ersten bringt das fast um. Sie versuchen, es irgendwie wieder auf die Reihe zu bekommen. Kim macht das Selfie berühmt. Kims Footballspieler-Ex-Freund fängt eine Beziehung mit einer Kim-Doppelgängerin an. Hillary Clinton und ihr Polyesteroutfit posieren für ein Foto mit Kim und Kanye. Kendall ist 5,7 Meter groß. Caitlyn Jenner hat deinen Nachrichten-Feed komplett eingenommen.

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Die Kardashians sind absurd und sie reizen diesen Begriff bis zum absoluten Maximum aus.

Und ja, ich will trotzdem immer noch mehr. Ich will alles. Im Reich der Menschen, die als große, mächtige und mit Collagen gefüllte Ziele deines Zorns fungieren, sind die Kardashians die alleinigen Herrscher. Man kann ihnen nichts anhaben. Jeglicher Hass prallt einfach so von ihnen ab. Man kann sie nicht aufhalten. Ich liebe sie—und das ungeniert sowie von ganzem Herzen.

Geraten wir in Versuchung, dem wohl künstlichsten Scheiß aller Zeiten irgendeine philosophische Bedeutung zuzuschreiben? Wollen wir uns wirklich für die Tage rechtfertigen, die wir mit diesem Popkultur-Phänomen verbringen? Ja, ein bisschen wohl schon. Die Kardashians sind absurd und sie reizen diesen Begriff bis zum absoluten Maximum aus. Eigentlich müsste man sie aus dem Verkehr ziehen, weil unter der Motorhaube der Absurdität schon der Rauch herausqualmt. Wenn man sich einer Sache jedoch so ungeniert verschreibt und mit seinem Maybach durch ein Meer an Paparazzi, faltigen weißen Typen sowie Facebook-Meldungen, die einen als das Problem Amerikas bezeichnen, rollt und dabei nicht mal einen einzigen Kratzer abbekommt, dann hocke ich dabei nur zu gerne auf den Beifahrersitz.

Ich finde es super, dass sie die Begriffe „Eitelkeit" und „Arroganz" von den Leuten zurückgeholt haben, die diese Worte vor sich hertragen, um insgeheim rassistische Bemerkungen über schwarze Football-Quarterbacks zu machen. Die Kardashians haben die beiden Ausdrücke jetzt in etwas Befähigendes verwandelt. Diese Frauen wollen sich vor einem Millionenpublikum nicht nur sexy präsentieren, sondern sind auch dazu bereit, ihre hässliche Seite zu zeigen. Schau dir einfach mal 15 Minuten der Show an und lass dir jeden Makel aufzeigen.

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Wir haben die Kardashians schon krank, schwanger, aufgedunsen, mit ungleichmäßig aufgetragenem Selbstbräuner, verkatert, mit pickeligen Gesichtern und mit von Mücken zerstochenen Schienbeinen gesehen. Kris spricht darüber, wie sie sich die Krampfadern auf ihrer Kniescheibe weglasern lassen will. Wir kennen alle die unvorteilhaften Revolverblatt-Fotos, die „Who wore it better"-Memes, die Schönheits-OP-Diskussionen und die Vorher-Nachher-Analysen. Sind diese Lippen größer als diese Lippen? Sind ihre Brüste echt? Kann ihr Hintern überhaupt echt sein? Und wir konnten Kim schon im angstvollen, im nachdenklichen und im nervösen Zustand beobachten. Wir haben gesehen, wie sie nach Ray Js Sperma bettelt und will, dass er sie zum Orgasmus bringt. Ihre großen Poren sowie ihre geschwollenen Füße während der Schwangerschaft sind uns ebenfalls bestens bekannt.

Nur weil wir älter werden, müssen wir doch nicht auf Sex verzichten. Wir bleiben für immer heiß und machen noch weitere Millionen.

Kris hält sich mit ihren Schönheitsoperationen nicht hinterm Berg. Kylie ist erst 18 und hat trotzdem schon zugegeben, aufgespritzte Lippen zu haben. In Kims Selfie-Buch Selfish sind auf den mittleren 39 Seiten ausschließlich Nacktbilder zu sehen. Unter einem dieser Bilder steht folgender Satz: „Eigentlich wollte ich die gar nicht ins Buch packen, aber nach dem iCloud-Hack sind sie sowieso im Internet aufgetaucht. Sauer bin ich deswegen nicht. Lol." Wenn man nichts zu verstecken hat, dann gibt es auch keine Skandale. Wenn man sein gesamtes Leben für die Öffentlichkeit zugänglich macht, dann gibt es auch nichts zu hacken.

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Trotz der ganzen Schwangerschaften versucht man in Keeping Up with the Kardashians nie wirklich, das Konzept der Mutterschaft in einem positiven Licht dastehen zu lassen. Das Wunder des neuen menschlichen Lebens dient eher als Bühne für Aufsehen erregende Fotos, „How I Got My Body Back"-Schlagzeilen, Gewichtsverlust-Updates, unsinnige Hashtags und „Neues Jahr, neues Ich"-Vorsätze. Wenn wir uns nicht verändern, stagnieren wir, heißt es. Nur weil wir älter werden, müssen wir doch nicht auf Sex verzichten. Wir bleiben für immer heiß und machen noch weitere Millionen. Am Anfang der aktuellen Staffel erzählt Kourtney Kim und Khloé davon, dass sie sich aufgrund ihrer Kinder nicht auf die Entwicklung ihrer Smartphone-App konzentrieren konnte. Kims Antwort: „Ja und? Jeder hat doch ein Kind und trotzdem noch so zehn Jobs."

Um Alex Pappademas zu paraphrasieren: Entweder handelt es sich bei dem Ganzen um eine schreckliche Fernsehsendung, die gleichzeitig ein wunderschönes Kunstwerk ist, oder eben genau andersrum. Ich bin mir nie ganz sicher.

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Kim gibt nur selten Interviews, in denen ihre Antworten nicht zur Vermarktung eines ihrer Produkte oder einer ihrer Stimmungen dient. Sie übermittelt ihre Informationen nur mithilfe von schmerzerfüllter Mimik sowie rebellischen Schulterblicken auf ihr voluminöses Hinterteil. Indem sie jedoch einsieht, dass sie sich der Gesellschaft und deren Interpretation von ihr (Likes und Follower als Maß) verpflichtet hat, ist sie irgendwie ehrlicher als jeder andere Mensch, der im Rampenlicht steht. Wenn du einen 448-seitigen Aufsatz über Augenbrauen, eine Show über Schränke und das Ignorieren deiner Mitmenschen sowie einen Instagram-Account voller Bilder von Leuten, die ein Bild von dir machen, während du ein Bild von dir machst, kreierst, dann gibst du so zu, zerbrechlich, verzweifelt und echt zu sein (und auch genau so aufgenommen werden zu wollen). Gleichzeitig geliebt und verhasst. Ein Selfie ist wie eine Runde Wahrheit oder Pflicht, bei der man sich für beides entscheidet. Ein Selfie ist Beichte und Provokation zur selben Zeit; ein Bekenntnis sowohl zu unseren Schwächen als auch zu unserer unendlichen Schönheit; ein Angebot sowie eine Rücknahme; unser Drang, unermesslich, fehlerfrei und wichtig zu sein.

Macht das alles die Kardashians zu Betrügerinnen, Idiotinnen oder Hochstaplerinnen? Meiner Meinung nach nicht. Ich meine, geht es uns nicht allen so? Sind wir im Internet nicht alle umwerfend und interessant und an der Tanke um die Ecke dann wieder erschöpft und blass? Denk doch nur mal an unsere ganzen Ernährungsweisen, über die wir die Welt in Kenntnis setzen, an die gejoggten Kilometer, die wir täglich posten, an unsere Ziele, durch die wir online wie Helden und Rebellen dastehen wollen, oder an unsere belanglosen Social-Media-Beschwerden in Bezug auf die Gesellschaft. Was machen wir alle vor dem Spiegel? Jeder erzählt doch die gleichen Lügen—nur manche von uns tun das eben im Fernsehen.

Ich bezweifle, dass die Kardashians unbedingt irgendjemanden inspirieren wollen. Ich bin sogar nicht mal der Meinung, dass sie überhaupt den Wunsch haben, mit irgendeiner anderen irdischen Lebensform zusammenzuleben. Sie haben es jedoch geschafft, dass man sich nicht mehr unwohl dabei fühlt, wenn man sich beim Ankleiden wie ein die Treppen des Kunstmuseums von Philadelphia hochrennender Rocky Balboa fühlt. Früher war eine übertriebene Selbstdarstellung eher ein peinlicher Impuls der MySpace-Nerds, aber die Kardashians haben diesem Konzept Würde verliehen. Wenn das Anschauen eines Kylie-Jenner-Tutorials zu Lippenkonturenstiften einem einsamen und kaputten Menschen beim Betreten eines Raums das Gefühl verleiht, Helena von Troja auf MDMA zu sein, dann lässt sich Kylie Jenner hoffentlich zur US-Präsidentschaftswahl aufstellen. Ich hoffe, dass sie dann ein Selfie zu ihrem Vizepräsidentschaftskandidaten ernennt, das sie in einem Hotelbadezimmer aufgenommen hat, und einen Screenshot zum Stabschef macht, der zeigt, wie eine ihrer verflossenen Schulliebschaften ihr eine verzweifelt 3-Uhr-nachts-SMS schickt.

Ist Bescheidenheit in Wahrheit nicht einfach nur die Gesellschaft, die dir aufgrund deines positiven Selbstwertgefühls ein schlechtes Gewissen einredet?