Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP UK erschienen.
Freitagabend in der Innenstadt von London. Es ist fast Mitternacht und ein Gewirr aus nervösen Stimmen umgibt die Gegend um den Bahnhof Farringdon. Hunderte Menschen haben sich geduldig hinter Absperrgittern aufgereiht. Die Schlange führt einmal um die Ecke Charterhouse Street bis zum Eingang des Fabric. Viele der Wartenden—die allermeisten sogar—haben dieses Prozedere schon öfter über sich ergehen lassen. Heute aber ist irgendwie alles anders.
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Drei Monate sind vergangen, seit dem Club nach zwei tragischen Todesfällen 2016 die Lizenz entzogen worden war. In der anschließenden Kampagne zur Rettung der wohl wichtigsten Institution des britischen Nachtlebens wurde das Fabric zu einem Symbol für alle Londoner Clubs, die der grassierenden Gentrifizierung zum Opfer gefallen waren. Die Schließung stand stellvertretend für die soziale Säuberung der Stadt und den Sieg von Immobilienspekulanten und Bankern über Jugendkultur. Nicht wenige sahen in der Schließung sogar das Todesurteil für Londons Nachtleben.
Aus Furcht vor schwelenden Protesten setzten sich selbst namhafte Politiker wie Londons Bürgermeister Sadiq Khan für die #savefabric-Kampagne ein. Während vor den Augen der Öffentlichkeit symbolträchtige Fotos geschossen und Protest-Raves organisiert wurden, handelten Anwälte hinter verschlossenen Türen neue Regeln und Auflagen aus und verhinderten so, dass die ganze Angelegenheit nicht zu einem teuren und langwierigen Rechtsstreit eskalierte.
So lautet zumindest die Theorie.
Gleichzeitig umging man damit nämlich eine Gerichtsanhörung, die einen Präzedenzfall zugunsten anderer Clubs im Kampf gegen Immobilienunternehmen hätte schaffen können. Stattdessen wurde still und leise eine Wiedereröffnung des Fabric ausgehandelt—unter deutlich verschärften Auflagen versteht sich. Blöderweise wusste nur am Eröffnungsabend niemand in der Schlange, wie streng diese neuen Auflagen sein würden.
Kurz bevor sie sich mit der Masse langsam um die Ecke bewegen, bekommen Alice und Emily eine Nachricht von Freunden weiter vorne, dass die Sicherheitsleute alle Gäste einer “intensiven Leibesvisitation” unterziehen würden. Die beiden halten das zwar sofort für einen schlechten Scherz—wie soll das bei der schieren Anzahl von Besuchern überhaupt möglich sein?—, aber bei dem Schneckentempo, mit dem sich die Schlange voran bewegt, wollen sie es dann doch nicht ganz ausschließen. Bei der Vorstellung erschaudern sie angewidert in ihren Kapuzenpullis. Emily trägt einen silbernen Rucksack, in dem sie alle wichtigen Utensilien für die Nacht verstaut hat—Zahnbürste und Rasierer zum Beispiel. Sie weiß, dass sie kontrolliert werden wird.
Vor dem Eingang stehen Polizisten. Mit Händen in der Hosentasche schauen sie dabei zu, wie dutzende Sicherheitsleute Ausweise inspizieren und Besucher dazu auffordern, ihren Tascheninhalt in bunte Plastikkörbe zu entleeren, die an Pfeilern festgemacht sind. Portemonnaies werden aufmerksam begutachtet, Mäntel sorgsam abgetastet. Emily muss ihren Rasierer abgeben, aber darf ihn später wieder abholen. “Der war teuer”, sagt sie. Ihre Freundin lacht nur: “Warum hast du den mitgenommen und kein Einwegteil?”
Folgendes brauchst du jedenfalls nicht an der Tür des Clubs zu erwarten: Rektaluntersuchungen, Spürhunde, Drama. Die Türpolitik des Fabric ist genau so, wie sie schon immer gewesen ist: eine der strengsten der Welt und jeder, der sich ein Ticket für die Wiedereröffnung gekauft hat, weiß genau, worauf er sich einlässt.
Einmal im Club angekommen verstreut sich die Menge. Unten wird das geheime Line-up bekanntgegeben. In Room One beendet Logan Sama gerade sein Set mit “Shuttdown” von Skepta und “Still Sittin’ Here” von Dizzee Rascal und Fekky. Vergnügte Rufe gehen durch die Menge, als die Unterbodenanlage des Saals in Aktion tritt und der Bass die Tanzfläche buchstäblich zum Beben bringt.
Chase & Status sind als Nächste dran und damit Quasi-Headliner, danach folgen der Londoner Grime DJ Sir Spyro und Chimpo aus Manchester. In Room Two spielen Nu:Tone, Metrik und Dillinja Drum’n’Bass-Sets, die die 26 Lautsprecher der nagelneuen Pioneer Pro Audio-Anlage richtig austesten. Die neue Errungenschaft des Clubs ist so mächtig, dass sie den Brustkorb ordentlich in Schwingungen versetzt, dein Trommelfell aber heil lässt.
Oben lehnt ein Mann über dem Balkon, von dem man auf Room One blicken kann. Sein Name ist Mark und während sich die Tanzfläche zusehends für Chase & Status füllt, zeigt er nach unten. “Siehst du den Glatzkopf da vorne”, sagt Mark und deutet auf eine Stelle, an der Menschen um eine Gestalt herumtanzen, die wie festgefroren auf der Stelle steht und in die Ferne starrt: “Der hat wohl gedacht, dass es heute Techno gibt.” Mark kichert.
Neben ihm steht ein hagerer Ungar in Baggys. Sein Name ist David und er sagt, dass er seit 2014 regelmäßig ins Fabric geht. Er lebe für die Drum’n’Bass-Partys, die traditionell immer freitags im Club stattfinden. “Ich bin so froh, dass es wieder aufgemacht hat. Das Fabric ist meine Kirche.” Zwischen Mark und David steht ein freundlicher Securitytyp, der aufmerksam das Publikum beobachtet und Kaubonbons isst.
Aber nicht alle haben heute so viel Spaß. Der 20 Jahre alte Dean aus Coventry versucht sich unter einem Heizpilz auf einer Bank im Sanitätszelt aufzuwärmen. Er war im Club ausgerutscht, hatte sich den Kopf gestoßen. Jetzt muss er darauf warten, dass seine Freunde so weit sind und sie den ersten Zug nach Hause nehmen können.
Draußen im Nieselregen stehen drei Männer über ihre Zigaretten gebeugt. Ihr Kumpel war eben von der Security an der Bar aufgegriffen worden. Das letzte, was sie von ihm gehört hatten, war eine SMS, in der stand, dass man im Sanitätszelt seinen Puls gemessen hatte, dieser sei zu hoch gewesen und so hätte man ihn nach Hause geschickt. Die drei wirken resigniert. “Ich verstehe, dass sie jetzt extra vorsichtig sein müssen”, sagt einer. “Die wollen nicht, dass hier noch mal jemand stirbt.”
Fast jeder scheint sich mit der starken Security-Präsenz hier abgefunden zu haben. Das ist offensichtlich der Preis, um die Behörden glücklich zu stellen.
Aber das Ganze ähnelt mehr dem stumpfen Abarbeiten eines Maßnahmenkatalogs. Wenn es Polizei und Politikern wirklich um das Verhindern von Drogentoten gehen würde, würden sie es dem Fabric erleichtern und nicht erschweren, sich um Menschen zu kümmern. Es würde die Möglichkeit geben, frisch erworbene Substanzen untersuchen zu lassen, wie es von Fürsprechern einer akzeptierenden Drogenarbeit schon lange gefordert wird. Damit könnten die Gäste besser abwägen, ob sie die erworbenen Pillen und Pulver auch tatsächlich konsumieren wollen. Das Sanitätszelt wäre außerdem der perfekte Ort, um Besucher, die sich unwohl fühlen, zu beraten. Stattdessen hat es heute Nacht mehr die Funktion einer Schleuse zum Rauswurf und wirkt entsprechend abschreckend.
Aber dem Fabric sind wohl oder übel die Hände gebunden und heute sind sich alle einig, dass allein die Tatsache, dass wieder Musik aus den Boxen strömt, erst mal Errungenschaft genug ist. In Room One, wo Chase & Status ein euphorisches Set spielen, flackert goldenes Strobo und scannen grüne Laser den Saal.
Mark vom Balkon kippt hastig den letzten Rest Rosé runter und gesellt sich freudig zu seinen Freunden auf der Tanzfläche, wo inzwischen auch der Glatzkopf in Fahrt gekommen ist. David bleibt noch oben und nickt enthusiastisch mit dem Kopf. Vor einer Wand mit Fabric-Smiley und dem Hashtag #yousavedfabric machen Gäste eifrig Fotos und Videos.
Jetzt gerade sieht es so aus, als wäre das Fabric mithilfe von Petitionen und Protest-Raves gerettet worden—auch wenn sich für die Rettung von Plastic People, Dance Tunnel, Cable und den ganzen anderen, mittlerweile geschlossenen Clubs mindestens genau so ins Zeug gelegt worden war. Man hat plötzlich das Gefühl, als könnte man auch als ganz normaler Menschen Dinge bewegen und müsste sich nicht bloß mit den Zuschauerrängen zufriedengeben, während die Politik sich dieses eine Mal dazu entscheidet, etwas für die Clubkultur zu tun. Vielleicht stand jetzt genug auf dem Spiel.
Im besten Club, den Großbritannien je hatte, rollt jedenfalls der Bass wieder über die Tanzfläche und man könnte fast meinen, das alles sei wahr.