​Warum du an deinem Tod wahrscheinlich selbst Schuld sein wirst

Alle Fotos stammen von dem Autor

„Frauen aus deiner Umgebung suchen Sex.” „Mit diesem Trick sofort in Form kommen.” Oder das Quiz: „Woran wirst du sterben?” Mit diesen drei Glücksversprechen versuchen uns schmuddelige Pages im schmuddeligen Internet zu Werbeklicks zu bewegen. Darauf fallen wir selbstverständlich nicht herein.

Obwohl es bestimmt nicht blöd ist, mit Körper, Sex und Tod um Aufmerksamkeit zu buhlen. Immerhin sind das Probleme, die wir alle haben. Wer hätte nicht gerne ideale Schönheit und viel Sex? Die Frage, woran wir in Zukunft sterben werden, ist vergleichsweise unangenehm, aber irgendwie auch die spannendste der drei. Immerhin messen wir vor allem am medizinischen Fortschritt Richtung Unsterblichkeit, wie weit es die Menschheit gebracht hat (an Tinder und Bodybuilding messen wir uns hoffentlich nicht).

Videos by VICE

Strenggenommen wird es absolute Unsterblichkeit vielleicht nie geben. Zumindest bei Terror, Flugzeugabstürzen und Atomkriegen wird es schwierig, einzelne Menschen wieder zusammen zu setzen. Aber immerhin: Dass wir an AIDS beispielsweise nicht mehr sterben müssen, war vor 10 Jahren noch unglaublich. Wenn meine Oma also mit 80 an Krebs gestorben ist, woran sterbe ich dann 50 Jahre später?

Und wenn der wissenschaftliche Fortschritt noch zu meiner Lebenszeit AIDS, Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen besiegt, wie muss man sich diese Welt dann vorstellen? Verzichten wir auf Drogen, Partys und Extremsport, weil es zu riskant ist, oder machen wir es erst recht?

Diese Phase der Menschheit werden wir vermutlich nicht mehr erleben, denkst du? Falsch—es ist im Grunde schon soweit.

Wenn du heute zwischen 15 und 35 bist, dann bringst du dich wahrscheinlich selbst um. Das hat Nathan Yau ziemlich beeindruckend aus Daten des Centers for Disease Control and Prevention visualisiert. Er hat auch eine Page gebaut, auf der du dir für jedes Alter die Wahrscheinlichkeit deiner Todesursachen errechnen lassen kannst.

Die Kurve unserer Überlebensrate entwickelt sich, je nach Alter, in diesem Jahrhundert nicht nur in eine Richtung, die bedeutet, dass immer mehr Menschen immer später sterben. Sie nimmt auch eine Form an, in der kaum noch jemand vorzeitig stirbt.

Früher sind Kinder an der hohen Kindersterblichkeit gestorben, in der mittleren Lebensphase ist man an Kriegen, Krankheiten oder Unfällen gestorben und im Alter dann am Alter.

So ab 2040 sterben wir alle ziemlich auf einmal kompakt mit 80 bis 90 Jahren weg. In der ersten Lebenshälfte, zwischen 1 und 45, sind „äußere Ursachen” der Haupttodesgrund. Für Deutschland sahen die Zahlen 2014 folgendermaßen aus: Wer im Alter zwischen 20 und 25 Jahre zu Tode kam, ist zu 64,3 Prozent an äußeren Ursachen gestorben. 28,2 Prozent der Todesfälle waren Transportunfälle und 23,9 Prozent Tod durch „vorsätzliche Selbstbeschädigung”.

Unter den 25- bis 30-Jährigen ist „vorsätzliche Selbstbeschädigung” mit 26,7 Prozent und unter den 30- bis 35-Jährigen mit 22,6 Prozent die häufigste Todesursache. Wenn du also jünger als mit 35 stirbst, dann hast du, rein statistisch, vermutlich selbst dafür gesorgt (Quelle: Gesundheit. Todesursachen in Deutschland, S.11).

Diese Entwicklung ist kein konstanter, langsamer Menschheitsfortschritt. Es gab in den letzten Jahrzehnten einige beeindruckende Sprünge. 1950 sind in Deutschland 67.175 Babys im ersten Lebensjahr gestorben. 2014 waren es nur noch 2.284 (ebd., S. 5).

Die Zukunft, wie wir sie uns in der Vergangenheit vorgestellt haben, sieht nicht aus wie in Odysee 2001 oder Zurück in die Zukunft. Sie ist heute, als Gegenwart, natürlich viel unspektakulärer. Das heißt aber nicht, dass sie nicht eingetreten ist.

Und so sieht die Zukunft unserer Gegenwart aus: Ab 2040 wird Demenz die zweithäufigste Todesursache nach Herz-Kreislauferkrankungen sein. Nicht etwa, weil die Demenz sich ausbreitet, sondern weil wir so alt werden, dass wir an immer weniger Ursachen vorher sterben. Bei Demenz reden wir von einer Krankheit, die vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht als „Krankheit” galt, sondern einfach nur als „alt sein”. Hättest du 1940 deinem Uropa erklärt, dass du 2080 wahrscheinlich an „Demenz” stirbst, dann hätte er vielleicht gesagt: „Aha, also an gar nichts außer Alter”. Und selbst im Kampf gegen diese Form von „Alter” macht die Medizin derzeit offenbar entscheidende Fortschritte.

Was macht dieses Wissen um den Tod mit unserem Leben? Leben wir vielleicht bald wie in Demolition Man in einer heilen Teletubbie-Welt ohne echten Sex, Schimpfworte oder Ironie, weil all das zu gefährlich wäre und Gewalt als letzte verbliebende Todesursache erzeugen könnte?

Der Konsum harter Drogen ist jedenfalls seit einigen Jahren rückläufig. Gleichzeitig passiert aber mit GHB wirklich viel üble Scheiße und mit Keta hat sich in den 2010er-Jahren eine Droge durchgesetzt, die sonst noch als Narkotikum und Antidepressivum eignet. Vorbei die Zeit des LSD-Utopien und der Ecstasy-Liebe. Dafür ist Keta ansonsten recht ungefährlich.

Lebten wir früher vielleicht eher in einer Zeit, in der wir uns die Welt besonders „weich” machten, weil sie so „hart” war? Und hat sich das irgendwann gewandelt in eine Welt, die so „weich und sicher” wurde, dass wir sie „künstlich hart” machen wollen?

In den 80ern und 90ern noch schauten wir amerikanische Coming-of-Age-Filme wie The Breakfast Club, Dazed and Confused oder Clueless und dachten uns mit voyeuristischem Blick: Wow, in dieser amerikanischen Wohlstandsjugend geht es ja ziemlich rough zu. Die wachsen dort in ihren behüteten Suburbs auf, müssen entweder Quarterback, Cheerleader oder lebenslanger Versager werden und sich irgendwelche psychisch brutalen Spielregeln ausdenken, um sich dabei nicht zu langweilen.

Heute machen auch in Europa fast alle vorpubertierenden Jugendlichen Erfahrungen mit Sexting, Mobbing und Ghosting. Das klingt im Vergleich zur Blumen-und-Bienen-Kindheit der heute 25- bis 45-Jährigen plötzlich ebenfalls ziemlich hart. Es mag nur eine Annahme sein, aber es scheint zumindest plausibel, dass die—meist in den USA entwickelten—sozialen Netzwerke und Kommunikationstechnologien einige Elemente aus der US-Realität des sozialen Leistungsdrucks, der Selbstdarstellung und des Kreativitätszwangs auf unsere Schulhöfe gebracht haben.

Natürlich könnte das auch überhaupt nichts damit zu tun haben, dass unsere Lebenserwartung steigt, aber einige der um die Jahrtausendwende gehypten Medientheoretiker—wie Vilem Flusser oder Jean Baudrillard—waren sehr wohl der Meinung, dass solche neuen sozialen und medialen Spielregeln eine Antwort auf unser Verhältnis zum Tod sind.

In allen Altersgruppen teilen wir heute als Todeserfahrung Nummer 1 den Terrorismus. Über Terror als Todesursache wird am häufigsten berichtet. Im Vergleich zu den Kriegen und Krankheiten des 20.Jahrhundert ist er aber eine simulierte Todeserfahrung, denn kaum jemand von uns wird wirklich durch Terror sterben. Die meisten von uns kennen ihn nur aus den Medien. Das wiederum verarbeitet die postironische Generation der 20-Jährigen im Netz monatlich auf immer absurdere Weise. Man könnte fast glauben, wir suchen uns mittlerweile „virtuelle” Todeserfahrungen, weil es kaum noch „reale” gibt. Und Terroristen, die oft aus Weltgegenden kommen, in denen das Leben noch deutlich härter und der Tod realer ist, wissen, dass sie mit dem Terrortod relativ weniger Menschen, über die Medien, relativ viele Menschen im Westen komplett aus der Bahn werfen können.

Kommen wir also von Terror, Drogen, sozialem Stress und Krankheit zurück auf dein Leben: Das beendest du wahrscheinlich selbst. Herzlichen Glückwunsch! Was diese Info mit deinem Leben macht, musst du dir jetzt überlegen. Unsere Gesellschaft geht damit jedenfalls wie immer ziemlich widersprüchlich um.