Warum ich es hasse, keinen Doppelpass zu haben

Ich habe deutsche Freunde, einen deutschen Steuerbescheid, seit 17 Jahren eine deutsche Adresse, deutsches Abitur, deutschen Uniabschluss, und eine sehr deutsche Liebe für Apfelschorle und Tupperdosen. Nur einen deutschen Pass habe ich nicht. Wenn ich das erzähle, sind die meisten richtig überrascht: Wie, du bist seit klein auf hier und hast nur russische Papiere?

Ich bin in St. Petersburg geboren, bin aber hier aufgewachsen. Manchmal finde ich das selbst verrückt: Dieses Land ist, seit ich zwölf bin, mein Zuhause, aber ich bin hier immer noch mit meinem russischen Reisepass unterwegs. Ich spreche mit einer solchen Selbstverständlichkeit von “uns Deutschen”, dass ich vergesse, dass ich hier eigentlich nur eine “unbefristete Aufenthaltsgenehmigung” habe. Die anderen vergessen das auch. Einmal hat eine Flamme ein Überraschungswochenende in London gebucht, und als er mir am Flughafen eröffnet hat, wohin es geht, mussten wir umdrehen. Mein Aufenthaltstitel lässt mich zwar visafrei in der Schengen-Zone reisen, für England hätte ich aber ein Visum gebraucht. Für viele Länder, in die meine Freunde spontan einen Flug buchen können, muss ich schon Monate vorher ein Visum beantragen. Selbst in die Schweiz hätte ich noch bis vor acht Jahren nicht einfach so einreisen können.

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“Warum hast du verdammt keinen Doppelpass?”, sagte die Flamme damals—eine Frage, die mir Hunderte Male gestellt wurde. An Flughäfen, wenn ich als einzige meiner Freunde in die Nicht-EU-Bürger-Schlange muss. In Clubschlangen, wenn ich meinen zerfledderten russischen Reisepass rausholt, wenn alle anderen ihre Ausweise zücken. Vor den Bundestagswahlen: “Was, du darfst nicht? Aber du lebst doch ewig hier!” Im Suff: “Wlalala, so wie du Bier trinkst—ich hätte dir längst einen deutschen Pass gegeben.”

Die Antwort ist: Der Doppelpass steht mir nicht zu. Die Doppelpass-Regelung, die das ermöglicht hätte, kam für mich zu spät. Sie gilt nur für Kinder ausländischer Eltern, die im Jahr 2014 jünger als 23 waren. Als die Große Koalition vor zwei Jahren die “Optionspflicht” abgeschafft hat, also die Pflicht, sich zwischen zwei Staatsbürgerschaften zu entscheiden, habe ich trotzdem eine Sektflasche aufgemacht. Das neue Gesetz besagte, dass Kinder von Einwanderern sich nicht mehr zwischen 18 und 23 Jahren auf einen Pass festlegen mussten wie früher. Wenn sie diese Kriterien erfüllten, können sie zwei behalten.

Wie gesagt, auf mich trifft diese Regelung nicht zu. Aber ich habe mich ehrlich darüber gefreut, dass Einwandererkindern mit meiner Geschichte die Entscheidung erspart wird, welche ihrer beiden Heimaten für sie Zuhause ist—und welches Gastland. Als ich nun gelesen habe, dass die CDU auf ihrem Parteitag beschlossen hat, all das wieder rückgängig zu machen, lief es mir kalt den Rücken herunter. Gegen den Willen der Parteispitze und Angela Merkels stimmte die (knappe) Mehrheit der Delegierten dafür, die “Optionspflicht” wieder einzuführen. Die ganzen Berivans, Olgas, Mohammeds sollen sich bitteschön für Deutschland entscheiden, wenn sie deutsche Privilegien genießen wollen: visafreie Reisen in viele Länder, einen schicken Ausweis und, das Wichtigste, sie können wählen und selbst gewählt werden.

Klar, man könnte meine Geschichte auch als Jammern abtun. Wenn es mich so stört, keinen deutschen Pass zu haben, warum wechsle ich nicht einfach die Staatsbürgerschaft? Das könnte ich relativ problemlos: Ich wohne seit über sechs Jahren hier, habe eine Arbeit, spreche deutsch. Aber die Hälfte meiner Familie wohnt in Russland: Vater, Schwester, Tanten, Cousins, bis vor Kurzem noch eine kranke Oma. Es ist eine ungute Vorstellung, dass ich erst ein Visum beantragen müsste, um rüberzufliegen, wenn etwas mit ihnen passieren würde. Und was ist, wenn sie alt werden und ich sie pflegen muss? Deutschland ist mein Zuhause, aber das Land meiner Eltern ist es genauso. Viele Freunde, eine Katze, eine Zahnbürste warten dort auf mich.

Und ja, viele Gründe, warum ich an meinem Pass festhalte, sind sentimental. Meine Mutter schimpft zwar auf den “nutzlosen rote Lappen”, der nur hilft, wenn man in Staaten wie Usbekistan und Kambodscha reisen will. Aber “der Lappen” ist auch ein Teil meines Ichs. Ich fühle mich sehr deutsch, glaube an Stoßlüften, Mülltrennung und Feminismus. Ich achte penibel auf die Einhaltung von deutschen Weihnachtstraditionen und feuere bei der WM die Nationalelf an. Aber ich liebe auch Puschkin, Blini und, ja, auch dieses irrationale Riesenland trotz seines Präsidenten. Das eine hat dem anderen nie im Wege gestanden. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein Einwanderersprössling denkt: Juhu, zwei Pässe! Jetzt kann ich auch mit dem ganzen Integrationsquatsch aufhören.

Mag sein, dass der Beschluss der CDU sowieso nie umgesetzt wird. Thomas de Maizière sagte, er kenne keinen möglichen Koalitionspartner, mit dem seine Partei das Votum gegen die doppelte Staatsbürgerschaft durchsetzen könnte.

Ich kenne eine Partei, die den Doppelpass auch kacke findet. Sie heißt AfD.

Selbst wenn das Votum gegen die doppelte Staatsbürgerschaft nur Säbelrasseln ist, das besorgte Bürger zurück in die Reihen der CDU treiben soll. Es ist ein gruseliges Rasseln. Nicht nur schlägt die CDU einen härteren Flüchtlingskurs ein, sie grenzt Ausländer wieder generell ab. Wir gegen sie, das Fremde gegen das Nationale. Entweder du entscheidest dich für Deutschland oder dagegen. Und dann ist dein Leben hier nur ein Aufenthalt.

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